Donnerstag, 22. Juni 2017

Paul Auster: Mann im Dunkel

- der eine düstere Parabel über den Krieg ersinnt.

Gebundene Ausgabe, 220 Seiten
Rowohlt, 1.April 2010


Inhalt
Der 72-jährige August Brill liegt nachts in seinem Bett und kann wieder einmal nicht schlafen. Er lebt nach einem Unfall im Haus seiner 47-jährigen Tochter Miriam, die vor fünf Jahren von ihrem Mann verlassen wurde. Auch deren Tochter Katya liegt wach. Sie studiert an der Filmakademie in New York, hat aber aufgrund eines traumatischen Ereignisses, das mit dem Tod ihres ehemaligen Freundes Titus Small zusammenhängt, ihr Studium unterbrochen. Ein Ereignis, das auch der alte Mann nicht vergessen kann.

"Ich denke oft an Titus´Tod, die entsetzliche Geschichte dieses Todes, die Bilder dieses Todes, seine verheerenden Folgen für meine Enkelin, aber dorthin will ich jetzt, kann ich jetzt nicht gehen, ich muss ihn so weit von mir fernhalten wie möglich." (S.10)

Statt dessen flüchtet sich August in eine selbst erdachte Geschichte, die einen Großteil des Romans ausmacht. Es ist eine Parabel über den Krieg.

Der junge Owen Brick, von Beruf Zauberer erwacht im Jahr 2007 in einem zylindrischen Erdloch, aus dem er nicht entkommen kann - keine Szene für Klaustrophobiker*innen. Er weiß nicht, wo er sich befindet und wie er in diese Situation geraten ist. Im Hintergrund hört er Kriegsgeräusche und plötzlich taucht ein Sergeant auf, befreit ihn und teilt ihm mit, dass sich die USA im Bürgerkrieg befänden. Statt dessen stehen die Twin Towers noch und im Irak herrscht kein Krieg.

"Bürgerkrieg, Brick. Weißt du denn gar nichts? Er geht schon ins vierte Jahr. Aber jetzt, wo du aufgetaucht bist, wird es bald vorbei sein. Du bist der Mann, der das Ende bringt." (S.17)

Seine Aufgabe besteht darin, den Mann zu töten, der sich diese Geschichte ausdenkt, die dann zur Wirklichkeit wird. Der Autor als Erfinder von Realitäten, von parallelen Welten, die neben der unseren existieren.
(Diese Theorie der parallelen Welten, formuliert von Giordano Bruno im 16. Jahrhundert, liegt auch der Fantasy-Reihe von Philip Pullman zugrunde.)

Ausgerechnet seine Jugendliebe, die einst unerreichbare Virginia Blaine, hat ihn in jene Welt geholt. Zurück in seiner eigenen soll er "August Brill" töten, damit der Krieg in der parallelen Welt beendet ist. Der Literaturkritiker Brill taucht in seiner eigenen Geschichte auf, er ist es, der getötet werden muss, damit der erdachte Krieg in der parallelen Welt beendet werden kann.
Eine Parabel darauf, dass Kriege von Menschen verursacht werden, in den Gedanken der Mächtigen entstehen? Auch in der parallelen Welt herrscht Krieg, sogar im Land selbst. Und der Autor der Geschichte sieht "schwarz" - es wird keine Hoffnung geben.

Parallel zu der erdachten Geschichte denkt der Schlaflose über die gemeinsamen Filmnachmittage mit seiner Enkelin nach, in die er sich flüchtet, weil er seit dem Tod seiner Frau Sonia nicht mehr in der Lage ist, an seiner Familiengeschichte weiterzuschreiben.

"Sich in einen Film zu flüchten ist etwas anderes, als sich in ein Buch zu flüchten. Bücher zwingen einen, ihnen etwas zurückzugeben, den Verstand und die Phantasie zu gebrauchen, wohingegen man einen Film im Zustand geistiger Passivität sehen und auch genießen kann." (S.25)

In den Filmen sind es die Frauen, die "die Welt auf ihren Schultern tragen." (S.33)
Im Gegensatz zu den Männern, die die Kriege verantworten und darin kämpfen?

Eine weitere nächtliche Beschäftigung, um die Gedanken an Sonia zu vertreiben, ist, Miriams Manuskript zu lesen, die sich mit der Autorin Rose Hawthorne beschäftigt. Einer mittelmäßigen Dichterin, die jedoch eine Zeile geschrieben hat, die August gefällt:

"Und die wunderliche Welt dreht sich weiter." (S.59)

- trotz der Kriege, der Grausamkeiten, die sich die Menschen einander antun. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen.

"Das Thema diese Nacht ist der Krieg" (S.146)

So denkt August an seine letzte Europareise zurück, an die Geschichten über den Krieg, die ihm begegnet sind.

  • Eine Literaturlehrerin, die sich in Belgien im 2.Weltkrieg einer Widerstandsgruppe angeschlossen hat und im KZ exekutiert wurde.

Eine Szene, nach der ich den Roman aus der Hand legen musste und die aufsteigenden Bilder am liebsten verbannt hätte.

  • Die Rettung einer jüdischen Familie als positivem Gegenentwurf zur vorherigen Erinnerung.
  • Eine Geschichte über einen Doppelagenten aus dem Kalten Krieg.

"Kriegsgeschichten. Kaum verlässt man für einen Augenblick seine Deckung fallen sie über einen her, eine nach der anderen..." (S.146)

Bevor August sich wieder mit dem grausamen Tod Titus im Irak-Krieg beschäftigt, erzählt er seiner Enkelin Katya, die auch nicht schlafen kann, die Geschichte seiner Liebe zu Sonia, von ihrer ersten Verliebtheit, der Trennung - er hatte Sonia für eine andere verlassen - und ihrer zweite Beziehung, bis diese lange Nacht vorüber ist.


Bewertung
Paul Auster erzählt mehr als eine Geschichte in diesem Roman. Neben der Parabel auf den Krieg, die erdachte Geschichte seines Protagonisten, reflektiert der Ich-Erzähler über sein eigenes Leben. Im Fokus steht seine große Liebe Sonia, der Verlust ihrer Ehe und sein Werben um die Frau, mit der er alt werden will. Er verschweigt die Tücken des Ehelebens - das Auseinanderleben, der Wunsch, wieder Neues zu entdecken - und des Alterns dabei nicht.
Ein wohltuende Episode in dem ansonsten düsteren Roman, der viele grausame Bilder aufsteigen lässt und ein dunkles Bild unserer Gesellschaft zeichnet.

Die Kriegsszenerie, die Unausweichlichkeit des Krieges, der die Geschichte durchzieht und auch in der parallelen Welt herrscht (vielleicht einer von vielen), ist das, was nach dem Lesen bleibt und wach rüttelt. Jeden Tag bestimmen Kriegsbilder die Nachrichten, man nimmt sie oftmals gar nicht mehr wahr. Indem Auster jedoch einzelne Personen ins Rampenlicht stellt und ihr furchtbares Schicksal schonungslos erzählt, führt er uns die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges brutal vor Augen.

Bisher habe ich von Auster nur die schöne Hundegeschichte "Timbuktu" gelesen, doch dieser Roman hat mich davon überzeugt, noch weitere von ihm lesen zu wollen.