Mittwoch, 10. Februar 2016

Erik Axl Sund: Krähenmädchen

Der 1.Teil der Victoria-Bergmann-Trilogie

Vorne weg
Im letzten Monat habe ich Scherbenseele gelesen und war - bis auf einige Schwächen im Mittelteil des Romans - recht angetan. Daher mein Wunsch auch die Trilogie zu beginnen, mit der das Autorenduo bekannt geworden ist und für die sie von der Schwedischen Krimiakademie ausgezeichnet wurden.

Buchdaten
Broschiert: 480 Seiten
Verlag: Goldmann
Erschienen am: 21. Juli 2014
ISBN-13: 978-3442481170


Inhalt
In kurzen Kapiteln, die aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden, und teilweise auch Rückblicke  (Damals) beinhalten, entwickelt sich die Handlung. Aufgrund der Kürze der einzelnen Abschnitte und den ständigen Wechseln habe ich eine Weile gebraucht, um in den Thriller hineinzufinden.



Zunächst der Kriminalfall
In Stockholm werden nacheinander vier Jungen gefunden, die jeweils schwer misshandelt wurden, mit Betäubungsmitteln vollgepumpt sind und deren Identität nicht ohne Weiteres festzustellen ist, da sie nicht vermisst werden. Sie stammen aus sozial schwachen Verhältnisse, sind illegale Einwandererkinder - also nicht schwedischer Herkunft. Dementsprechend gering ist das Interesse auf Seiten des Staatsanwalts und des Polizeichefs. Nur mit einer Minimalbesetzung versucht Jeanette Kihlberg einen Verdächtigen zu finden. Auf ihrer Suche im Pädophilenmilieu gerät sie an die Psychologin Sophia Zetterlund, die eines der Opfer Samuel Bai aus Sierra Leone behandelt hat. In den Fokus geraten Karl Lundström, der wegen Besitz von Kinderpornographie und -missbrauchs inhaftiert ist, und auch Bengt Bergmann, der bereits mehrmals des Missbrauchs angeklagt wurde, von seiner Frau jedoch jeweils ein Alibi erhält. Als Jeanette seine Tochter Victoria Bergmann telefonisch erreicht, gibt diese freimütig zu, von ihrem Vater missbraucht worden zu sein. Doch auch diese Spur führt anscheinend ins Leere. Schließlich soll Jeanette die Ermittlungen einstellen - es besteht offensichtlich kein Interesse daran, den Mörder dieser Kinder zu finden und mit Karl Lundström, der sich im Gefängnis erhangen hat, ist zumindest ein "Sündenbock" gefunden. Doch die Mörderin läuft immer noch frei herum....

Viel Interessanter als die eigentlich Handlung sind jedoch die einzelnen Hauptfiguren, deren Geschichte sich langsam vor den Augen der Leser entblättert:
Im Mittelpunkt stehen die Kommissarin Jeanette Kihlberg und die Psychologin Sophia Zetterlund, die sich auf traumatisierte Kinder spezialisiert hat, selbst in Sierra Leone gewesen ist, und (traumatische) Erfahrungen mit Kindersoldaten gesammelt hat.
Jeanette, die mit einem bisher erfolglosen Künstler verheiratet ist, Eheprobleme hat und deren Beziehung, nachdem ihr Mann eine Galeristin kennen gelernt hat, immer schwieriger wird, nähert sich der Psychologin an. Sophia hat eine Beziehung mit Lasse hinter sich, der sie verraten hat, und ist derzeit mit Mikael - einem ambitionierten, aber nicht empathischen, egozentrischen Pharmakologen liiert.
Daneben erhält man immer wieder Einblicke in die Psyche von Victoria Bergmann, die in der Kindheit von ihrem Vater schwer misshandelt und auch als Jugendliche in verschiedenen Situationen immer wieder gedemütigt worden ist. Sie ist in psychischer Behandlung bei Sophia, die sich ständig Tonbandaufnahmen der Therapiesitzungen anhört und dabei einschläft. Victoria scheint ein dissoziative Persönlichkeitsstörung zu haben - sie ist anscheinend eine multiple Persönlichkeit - nicht ungewöhnlich für einen traumatisierten Menschen. Je nachdem, was sie erzählt, verändert sie ihre Stimme und ihre Intonation. Victoria hegt einen tiefen Hass gegen Männer, denen sie unterstellt, so wie ihr Vater immer nur das Eine zu wollen. Einziger Lichtblick ist der kleine Junge Martin, den sie während eines Aufenthalts in ihrem Ferienhaus kennen lernt, doch er kommt bei einem tragischen Unfall ums Leben.
Als Leser erlebt man teilweise mit - wie aus dem Opfer Victoria Bergann die Täterin wird. Dass sie die Jungen auf dem Gewissen hat, ist im Prinzip von Anfang an offensichtlich. Es geht in dem Thriller eher darum, warum sie diese grausamen Taten verübt. Dazu instrumentalisert sie einen ebenfalls illegal eingewanderten Jugendlichen  für ihre Zwecke - das ist wirklich abartig.
Die zentrale Frage des Thrillers ist: "Wie viel Leid kann ein Mensch verkraften, ehe er selbst zum Monster wird?" (Buchrücken)

Bewertung
Die Einblicke in die kranke Psyche Victoria Bergmann sind einerseits faszinierend, aber auch abstoßend. Inwiefern die Figur psychologisch glaubwürdig ist, also ob eine Frau, die so massiv misshandelt und immer wieder gedemütigt worden ist, sich zu einem solchen Monster entwickelen kann - will ich nicht beurteilen. Es wird im Roman jedoch recht plausibel dargelegt.
Schade finde ich, dass ich recht früh realisiert habe, wer sich hinter Victoria Bergmann verbirgt - das ging mir bei Scherbenseele genauso. Und das hat meine persönliche Spannungskurve ziemlich nach unten gedrückt. Klar wollte ich dann wissen, ob sie gefasst wird und wie die Story ausgeht, aber der Reiz weiter zu lesen, war deutlich geringer als zu Beginn. Für mich ist ein Thriller dann gut, wenn der Täter/die Täterin bis zum Ende offen bleibt oder wie in diesem Fall, die Identität erst ganz zum Schluss offensichtlich wird.

Das Ende des Romans ist offen, durch Vorausdeutungen wird sogar auf ein weiteres Verbrechen hingewiesen. Das ist natürlich clever, da dadurch der Wunsch geweckt wird, direkt den nächsten Band der Trilogie lesen zu wollen. Obwohl ich jetzt ganz ehrlich, nicht unbedingt weiterlesen muss. Mal sehen.

Insgesamt ein recht spannender, in psychologischer Hinsicht interessanter Thriller, der mich aber nicht restlos überzeugt hat.