Donnerstag, 28. April 2016

Orhan Pamuk: Diese Fremdheit in mir



Wer verstehen will, warum Istanbul heute nicht mehr die tolerante, multikulturelle Stadt ist, die sie einmal war, sollte den neuen Roman des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk lesen. (Süddeutsche Zeitung)

Inhalt
Der erste Teil des Romans über den Straßenverkäufer Mevluts beginnt mit der Entführung einer jungen Frau.
Mevlut hat sich auf der Hochzeit seines Cousins in eine schwarzäugige Schönheit verliebt, die jüngste Schwester der Braut. Drei Jahre lang schreibt er ihr Liebesbriefe nach Anatolien und entführt sie schließlich mit Hilfe seines Cousins. Doch es stellt sich heraus, dass er statt der schwarzäugigen Samiha, ihre ältere Schwester Rayiha aus ihrem Dorf nach Istanbul mitgenommen hat. All seine Briefe hat sie erhalten, ein Schachzug seines Cousins, wie sich im weiteren Verlauf des Romans herausstellt, in dem diese Briefe und die Verwechslung Mevluts Leben mitbestimmen.



Im 2.Teil springt die Handlung ins Jahr 1994, in dem Mevlut, wie sein Vater zuvor Straßenverkäufer ist - und zwar Boza-Verkäufer. Ein Getränk, das aus fermentiertem Weizen hergestellt wird und ein beliebtes Getränk zu Zeiten des Sultanats, als Alkohol verpönt, aber ein kleiner Drink trotzdem willkommen war. In dieser Nacht wird er überfallen und ausgeraubt.

Daraufhin wird Mevluts Lebensweg bis zur Entführung von Rayiha nachgezeichnet, wie sein Vater ihn nach Istanbul mitgenommen hat, damit er dort die Schule besuchen und mit ihm gemeinsam Yoghurt verkaufen kann. Ab dem 3.Teil erzählt nicht nur der auktoriale Erzähler Mevluts Geschichte, sondern auch die anderen Figuren kommen zu Wort - als Ich-Erzähler legen sie ihre Sicht über Mevlut und das Leben in Istanbul dar. Ein facettenreiches Bild der Stadt entsteht vor den Augen der Leser/innen. Im Hörbuch wird jede dieser Protagonisten von einem anderen Sprecher vorgelesen, was die vielfältigen Sichtweise auf Mevluts Leben besonders eindrücklich macht. Neben seinem Vater spielen vor allem sein Onkel Hassan und dessen Söhne eine Rolle, die sich mit Mevluts Vater überwerfen. Trotzdem prägen sie Mevluts weiteren Lebensweg mit und lange ist er auf ihre Hilfe angewiesen. Neben seinen Cousins ist auch sein kurdischer Freund Ferhat ein Ankerpunkt für Mevlut, der ihn - der eigentlich politisch nicht interssiert ist - mit zu den Kommunisten nimmt. Mevlut ist im Gegensatz zu seinen Verwandten und Freunden ein gutmütiger, fast schon naiver Mann, der völlig in der Rolle des Boza-Verkäufers aufgeht.

Der 4.Teil schließt an den 1.Teil an und schildert die erste Zeit Mevluts und Rayihas in Istanbul. Ihre behutsame Annährerung und ihr gemeinsames Glück - obwohl sie die "falsche Frau" ist. Rayiha gebärt ihm zwei Mädchen, über die Mevlut sich über alle Maßen freut. Eine Trübung des Glücks erfährt er erst, als Samiha, die Mevluts Cousin heiraten möchte - derjenige, der ihm auf der Hochzeit den falschen Namen genannt hatte - von Ferhat entführt wird. In seiner Wut bringt dieser Cousin die Geschichte der Briefe, die eigentlich für Samiha bestimmt waren, wieder auf den Tisch. Dies führt zur Eifersucht Rayihas und letztlich zu einem tragischen Ereignis, das Mevluts Leben verändert.

Bewertung
Der Roman ist eine großartige Familien- und Liebesgeschichte und eine Schilderung der Veränderungen Istanbuls von 1969 bis ins Jahre 2012 zu einer modernen Metropole aus der Sicht des "einfachen Mannes" Mevlut, der tolerant und gutmütig möglichen Konflikten aus dem Weg geht. Seine wechselnden Berufe neben dem Bozaverkauf, z.B. seine Zeit als Stromableser, ermöglichen neben lehrreichen Passagen über die Stadtgeschichte Istanbuls auch einen Einblick in die kulturellen Unterschiede zu unserer westlichen Lebenswirklichkeit.
Daneben widmet Pamuk, der selbst Architekt ist, einem Thema besonders viel Raum, nämlich dem illegalen Bauen. Die sogenannten "Gecekondu" (provisorische Bauten) überziehen die Hügel der Stadt und stehen im Mittelpunkt krummer Geschäfte und Spekulationen. Eine Figur tritt in diesem Zusammenhang als Drahtzieher immer wieder in den Vordergrund: Hadschi Hamit Vural, der in seiner durchtriebenen, opportunistischen Art einen Kontrastfigur zum gutmütigen Mevlut bildet, aber auch für amüsante Szenen sorgt.

Trotz einiger Längen hat mich der Roman gepackt, da die Figur Mevlut als liebenswerter Sympathierträger konzipiert ist und dessen Schicksal berührt. Auch die verschiedenen Figuren, die immer wieder zu Wort kommen, tragen durch diesen großartigen Roman, der mir die Stadt Istanbul auf besondere Art und Weise nahe gebracht hat.