Montag, 21. November 2016

Jean-Paul Didierlaurent: Die Sehnsucht des Vorlesers

- ein Hommage an das geschriebene Wort.

Buchdaten
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Erschienen am: 22. September 2015
ISBN-13: 978-3423260787
Originaltitel: Le Liseur du 6 h 27

Inhalt
Guylain Vignolles arbeitet in einer Fabrik, in der Bücher geschreddert und recycelt werden. Seine Aufgabe ist es, die Maschine, von ihm nur als Bestie bezeichnet, jeden Morgen in Gang zu setzen, zu überwachen und am Abend vom Papierbrei zu säubern. Er hasst seine Arbeit und sie bereitet ihm Qualen, da er Bücher liebt. So zählt er jeden Morgen auf dem Weg zur Metro in Paris die Straßenlampen und andere Dinge, um Ruhe in sein Leben zu bringen.

"Von montags bis freitags wartete er hier auf den 6.27-Uhr-Zug, die Füße genau auf der weißen Linie, die den Sicherheitsabstand zum Gleis markiert. Kurioserweise besaß diese schon etwas verblasste Linie die Fähigkeit, ihn zu beruhigen und den Geruch des Gemetzels zu vertreiben, den er sonst ständig in der Nase hatte." (S.9)

In der Métro jedoch geschieht jeden Morgen etwas Außergewöhnliches. Abends beim Säubern der Maschine stiehlt Guylain heimlich unversehrte Buchseiten aus dem Bauch der Bestie. Über Nacht trocknet er sie und liest seine Findelkinder morgens in der Métro vor und alle hören ihm zu.

Auch diese Findelkinder sind im Roman enthalten und spiegeln die Emotionen des Protagonisten wider.

Besonders verbunden fühlt er sich mit dem Portier der Firma, Yvon Grimbert, der aus Protest darüber, dass Bücher zerstört werden, eine besondere Vorliebe für die französischen klassischen Dramatiker entwickelt hat und fast ausschließlich in Versen spricht - wunderbar.

Die Bestie, so wie sie Guylain beschreibt, scheint fast zu leben und hat seinen besten Freund verstümmelt, der auch an der Maschine gearbeitet hat. Beide Beine hat er auf diese Art und Weise verloren und die Geschichte, wie er sie "zurückerhält" könnte für sich allein stehen.
Daneben pflegt Guylain kaum soziale Kontakte, wenn man von den Telefongesprächen mit seiner Mutter absieht.

Doch dann fragen ihn zwei ältere Damen, ob er in ihrer Altersresidenz vorlesen möchte. Die alten Herrschaften sind ganz begeistert von seinen Findelkindern. Und er entdeckt zufällig einen USB-Stick in der Métro, auf dem sich 72 Dokumente verbergen, die Geschichte einer jungen Frau, deren Leben dem von Guylains ähnlich zu sein scheint. Wird er sie finden?

Bewertung
Der Roman zeigt zu Beginn die Einsamkeit eines Mannes, der in seinem Beruf völlig unglücklich ist, da er sein Tun hasst. Sicherlich eine Situation, mit der sich viele identifizieren können. Und die Tatsache, dass er kostbare Bücher zerstören muss, ist für Bibliophile ein echtes Verbrechen!
So flüchtet er sich ins Vorlesen in dem Versuch, diesem Gemetzel etwas entgegenzusetzen. Es ist ein
stiller, fast tragischer Held, der uns in diesem wunderschönen Roman begegnet.
Er wird jedoch durch unerwartete Ereignisse aus seinem Leben gerissen wird, als er in durch eine Geschichte vom Leben einer Frau erfährt, das seinem eigenen gleicht. Während er vorliest, schreibt sie gegen ihre Arbeit und ihre negativen Emotionen an.
Ein Roman, der uns die Kraft der geschriebenen Worte vor Augen führt, der berührt, ohne kitschig zu wirken. Der unterhält, ohne belanglos zu sein - lesenswert.