Sonntag, 1. Januar 2017

Ray Bradbury: Das Böse kommt auf leisen Sohlen

- eine gruselige, fantastische Geschichte.


Taschenbuch, 272 Seiten
Diogenes, 25.September 2013
Originalausgabe: "Something wicked this way comes", 1962


Gelesen habe ich diese ungewöhnliche Geschichte im Rahmen einer Leserunde bei whatchareadin, vielen Dank auch an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen zwei Jungen, die in einer kleinen Stadt in Illionois leben, wahrscheinlich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Die Geschichte spielt kurz vor dem 14.Geburtstag von Jim Nightshade und Will Halloway, eine "Woche im Oktober, in der sie über Nacht erwachsen wurden, in der das Jungsein ihnen entglitt..." (S.13).

Wills Vater, Charles Halloway arbeitet in der Bibliothek der kleinen Stadt, die wunderbar beschrieben wird:

"Alles geschah hier. Hör nur! Zehntausend Menschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, daß nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schleppten Kanonen, schärften Guillotinen; Chinesen marschierten bis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos - doch Jim und Will besaßen die Gabe des Gehörs, des Geruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eine Fabrik für Gewürze aus fernen Ländern. Hier schlummerten fremdartige Wüsteneien. Ganz vorn stand der Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss die entliehenen Bücher eintrug, doch dahinter lagen Tibet, die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, die andere Bibliothekarin, durch die Äußere Mongolei und trug schweigend Brocken von Peking und Yokohama und Celebes auf dem Arm. Weit untern hinter der dritten Regalreihe raschelte im Düstern der Besen eines alternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten Gewürze zusammen." (S.24)

Zu Beginn der Handlung, in der ein Blitzableiterverkäufer Jim einen Blitzableiter für das nahende Gewitter schenkt, steht vor allem der Kontrast der beiden Jungen im Mittelpunkt. In verschiedenen Szenen wird beschrieben, dass sie beste Freunde sind, aber vom Charakter und ihrem Wesen her kaum unterschiedlicher sein könnten.

Charles Halloway sagt in der Bibliothek zu ihnen:

"Jim trägt große schwarze Hüte und liest die entsprechenden Bücher. Bald wird er hier von Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen - weicher Filzhut, dunkel. Oder auch zu Dr. Faustus - extragroßer schwarzer Zauberhut. Für dich, Will, sind die weißen Hüte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und dann, auf der nächsten Stufe - vielleicht Buddha." (S.26)

Nachdem Will wieder einmal hinter Jim her rennt, fällt ihm auf:

"Es ist immer dasselbe. Er rennt. Ich rede. Ich drehe Steine um. Jim greift in den kalten Schlick darunter. Ich erklimme Hügel. Jim schreit von der höchsten Kirchturmspitze herab." (S.52)

Wie treffend diese Charakterisierung ist, zeigt der weitere Verlauf der Geschichte.
Auf dem Rückweg von der Bibliothek entdecken die beiden ein Papier, auf dem die Ankunft eines Jahrmarktes angekündigt wird: Cooger & Dark, der verschiedene Sensationen verspricht:
Mephistophele, der Feuerfresser, Mr. Elektriko, der illustrierte Mann, ein Skelett, die Staubhexe und ein Spiegellabyrinth.

Aufgeregt laufen sie nach Hause, Punkt Mitternacht wachen beide auf, da sie die Jahrmarktsorgel hören und beobachten von ihrem Fenster aus eine uralte Lokomotive, mit der der Zirkus anreist. Sie verlassen ihre Betten und beobachten heimlich, den Aufbau des Zeltes auf der Mondwiese. Die ganze Szenerie ist unheimlich und mysteriös.

 "In einem Zirkus sollte man Knurren und Brüllen hören wie im tiefen Wald (...). Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarz-weiße Bühne voller Geister, die ihre Lippen bewegten; mondweiß stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille, daß man den Wind in den Härchen auf der Backe flüstern hörte." (S.55)

Am nächsten Tag im hellen Sonnenlicht verlieren die Jungen ihre nächtlichen Ängste und besuchen den Zirkus. Dort treffen sie ihre Lehrerin Miss Foley, die ihren Neffen Robert sucht. Zunächst hat es den Anschein, als ob sich alles Gruselige der Nacht in Wohlgefallen auflöst. Doch dann müssen die beiden Miss Foley aus dem Spiegelkabinett retten, die dort fast "ertrunken" wäre.
Auch Jim verliert sich kurzzeitig im Anblick der vielen Spiegelungen und am Abend auf dem Nachhauseweg entdecken die beiden Jungen plötzlich die Tasche des Blitzableiterverkäufers. Wo ist er hin? Und warum hat er seine Tasche zurückgelassen?

Deutet sich bisher nur an, dass etwas Böses auf leisen Sohlen näher kommt, betritt jetzt der Illustrierte Mann - Mr. Dark - die Bühne, dessen ganzer Körper mit schauerlichen Tattoos bedeckt ist. Die Jungen treffen ihn auf einem Karussell, das außer Betrieb ist. Voller Entsetzen werden sie heimlich Zeuge, wie sein Partner Mr.Cooger auf dem Karussell, nachdem es repariert ist, auf einer Rückwärtsfahrt zu einem 11-jährigen Jungen wird. (Wer "Herr der Diebe" von Cornelia Funke kennt, auch dort gibt es ein solches Karussell. Ob sie Ray Bradburys Geschichte gelesen hat?)

Als sie ihm nachlaufen, entdecken sie, dass er zu Miss Foleys Haus läuft. Ist es wirklich ihr Neffe? oder entspringt alles nur ihrer Fantasie.
Dieses In-der-Schwebe-lassen zwischen der Möglichkeit, die Jungen bildeten sich alles nur ein oder einer tatsächlichen fantastischen Begebenheit wird noch eine ganze Weile aufrecht erhalten. Erst im letzten Teil des Romans wird das Geheimnis um den Zirkus und Mr.Dark gelüftet.
Großartig ist die Szene, in der Will und Jim bei der Parade des Zirkus unter dem Gullydeckel sitzen, während der Illustrierte Mann sich mit Charles unterhält, weil er die beiden Jungen sucht. Da kommt das Böse auf leisen Sohlen.
Wills Vater spielt im Kampf dagegen eine immer größere Rolle und seine nächtlichen Gespräche mit Will - und auch Jim verlangsamen die Handlung, halten die Spannung noch länger aufrecht und sind zudem philosophisch gefärbt.

"Manchmal trägt der Mann, der am glücklichsten von allen aussieht, der immer mit dem breitesten Lächeln durch die Stadt läuft, die allergrößte Sündenlast. Es gibt solchen und solche Lächeln, man muß lernen, die dunklen von den lichten zu unterschieden. Wer bellend lacht, richtig laut und herzhaft, der hat meist etwas zu verbergen. (...) Andererseits sieht man manchmal Menschen vorbeigehen, unglücklich, bleich, niedergeschlagen -das sind zuweilen die wirklich guten Menschen, Will. Gut sein ist nämlich furchtbar schwierig. Die Menschen strengen sich an und zerbrechen dabei oft. (...)
Ach, wie herrlich wäre das, wenn man nur gut sein und Gutes tun müßte, nicht immer darüber nachdenken!" (S.129)

Bewertung
Ray Bradburys Schreibweise ist besonders bilderreich und erinnert mich an Harper Lee.

"Sein Leben lang hatte er [Charles] Bücher geschrieben, geschrieben in die gewaltigen Räume gewaltiger Gebäude, und sie waren zu den Fenstern hinausgeflogen." (S.193)

Es gelingt ihm mit diesen Bildern von Anfang an eine unheimliche, gruselige Atmosphäre zu zeichnen, die die Leser/innen lange im Unklaren lassen, ob das alles der Fantasie der Jungen entspringt, oder ob hier etwas Böses am Werk ist. Und wenn, was oder wer ist das Böse?
In der Leserunde wurde erwähnt, dass Bradbury Stephen King beeinflusst haben soll, darüber kann ich wenig sagen, da ich überwiegend seine Filme kenne. Einige Szenen erinnern mich aber an "Es", das zunächst harmlos Wirkende, dass sich dann als besonders gefährlich erweist - der Clown, der Zirkus.
Ein bemerkenswerter Roman, der durch seine besondere Sprache überzeugt und mit philosophischen Exkursen aufwartet. Und auch die Botschaft ist eine zeitlose, wie das Ende des Romans offenbart.


!SPOILER!
Der illustrierte Mann erweist sich nämlich als moderner Mephisto, der die lebenden Seelen der Menschen einfängt und sie als Abbilder auf seinem Körper erscheinen lässt, eine "Kreatur, die es gelernt hat, von Seelen zu leben." (S.192)

Er versteht es, die Menschen mit ihren unerfüllten Sehnsüchten, Ängsten und Schmerzen anzulocken und zu binden. Sie zu erlösen.
Charles Halloway gelingt es, dem Bösen etwas entgegenzusetzen - das Lachen. Es vertreibt die Ängste, die Schmerzen und kann die Seele befreien. Obwohl man gerade ihm, der unter seinem Alter leidet, zugetraut hätte, den Verlockungen des Karussells zu erliegen, erweist er sich als großer Held, der den illustrierten Mann, den Seelenfänger mit seinem Lachen, das seine eigenen Ängste und die Sehnsucht nach Jugend vertreibt, besiegt.