Dienstag, 14. März 2017

Ian McEwan: Am Strand

- die Hochzeitsnacht.


Hörbuch von audible
gelesen von Jan Josef Liefers
4 Stunden, 38 Minuten

Inhalt
Großbritannien, 1962: Das junge Paar Florence und Edward sitzen in einer Hotelsuite am Strand von Dorset in Erwartung ihrer Hochzeitsnacht am Tisch und gerade wird ihnen ihr englisches Abendessen serviert.
Währenddessen dürfen wir dürfen ihren Gedanken zuhören, denn die gesamte Handlung des Romans, die - bis auf einige Rückblicke - an jenen Abend spielt, besteht fast ausschließlich aus innerer Handlung. Abwechselnd werden wir Zeuge von Edwards und Florence innerem Monolog, ihren Ängsten, ihren Unsicherheiten, und dem, was sie nicht zu sagen und tun wagen und den daraus resultierenden Missverständnissen.

Während Edward ungeduldig der Hochzeitsnacht entgegenfiebert, hat Florence ungewöhliche Gefühle angesichts der bevorstehenden Vereinigung. Sie empfindet tiefe Liebe für ihren Ehemann, in dem sie eine Art Seelenverwandten erkannt hat, jede körperliche Annäherung verursacht ihr jedoch ein Ekelgefühl. Beim Küssen glaubt sie zu ersticken und allein der Gedanke an die Penetration löst einen Brechreiz bei ihr aus. Sie weiß, dass sie mit dem Ehegelöbnis ihre Einverständnis für die körperliche Vereinigung gegeben hat und möchte diese hinter sich bringen.

Edward hingegen hat in den letzten 18 Monaten behutsam auf dieses Ziel hingearbeitet und bietet seine ganze Zurückhaltung auf, um Florence nicht zu erschrecken.

Bevor wir uns mit dem Paar auf dem Himmelbett wiederfinden, erfahren wir im Rückblick, wie die beiden sich zufällig auf einer Demonstration gegen die Atombombe in ihrer Heimat Oxford kennengelernt haben und etwas über ihren familiären Hintergrund.
Während Florence Mutter Philosophiedozentin, ihr Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, ihre Familie als wohlhabend bezeichnet werden kann, ist Edwards Vater Schuldirektor einer Grundschule und seine Mutter "hirngeschädigt". Ein Umstand, den die Familie vor ihr selbst verbirgt, obwohl der Haushalt im Chaos zu ertrinken droht.

Edwards Wunsch Geschichte in London zu studieren, gleicht einer Flucht aus den Verhältnissen. Obwohl Florence ebenfalls in London Musik studiert hat, haben sich ihre Wege nicht gekreuzt - bis zu jener Demonstration. Florence Heim erscheint Edward wie ein Wunder und er fühlt sich in der Familie wohl und akzeptiert. Ein Posten in der Firma ihres Vater ist in Aussicht.

Zurück in der Hochzeitssuite hat es das junge Paar bis auf das Bett geschafft und der folgende "Schlamassel" zwingt die junge Braut zur Flucht an den Strand. Nachdem Edward ihr gefolgt ist und die beiden endlich "ungeschminkt" und frei miteinander reden, unterbreitet Florence ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag, der ihr beider Leben verändert.

Bewertung
Inzwischen bin ich ein großer Anhänger Ian McEwans, dessen genaue Beobachtungsgabe und Fähigkeit, das Beobachtete sprachlich präzise auf den Punkt zu bringen, seinesgleichen sucht. Seine Sensibilität, seine Empathie, die Fähigkeit die Gedanken des jungen Mannes und der jungen Frau schonungslos offenzulegen, ohne seine Protagonisten bloßzustellen, sind bewundernswert.

Die Situation im Schlafzimmer auf dem Bett zum Beispiel, wenn es Edward nicht gelingt den Reißverschluss von Florence Kleid zu öffnen, ist komisch, ohne Edward als Idioten dastehen zu lassen. Es ist genau so beschrieben, wie es hätte sein können, mit all dem Ungesagten zwischen dem Paar.
Die Erkenntnisse, zu denen beide nach dem Schlamassel gelangen, sind Teil einer jeden Beziehung - das Wissen, dass man unterschiedliche Meinungen, Ansichten und Bedürfnisse haben darf und muss.
Dass man eben kein gemeinsamer Organismus ist, sondern beide unterschiedlich empfinden, obwohl sie sich lieben. Sich dies einzugestehen und darüber zu reden, ist heute vielleicht selbstverständlich. Doch zu Beginn der 1960er sicherlich kein Konversationsthema zu Beginn einer Ehe.
Das, was in den Protagonisten abläuft, glaubhaft sichtbar zu machen, ihre unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorstellungen, auszudrücken, ist Ian McEwan hervorragend gelungen.

Der Roman ist, obwohl er kaum äußere Handlung, eigentlich keine "Action" enthält, spannend, weil man mit den Figuren leidet, ihren Gedanken und Gefühlen folgt und wissen möchte, wie sie aus dieser Situation herauskommen.

Eine klare Lese- bzw. Hörbuchempfehlung, überzeugend gelesen von Jan Josef Liefers.