Sonntag, 9. April 2017

Stephan Lohse: Ein fauler Gott

- ein stiller Roman über einen Jungen, der den Tod seines Bruders verkraften muss.

Gebundene Ausgabe, 320 Seiten
Suhrkamp, 4.März 2017

Vielen Dank an den Suhrkamp Verlag für dieses Leseexemplar.

Inhalt

"Gott ist eine Art Herr Behrends des Himmels, der die Seelen an ihren Armen packt, bis der Schmerz in ihnen pocht, und sie zum Arbeiten in die äußersten Ecken des Himmels verbannt, wo sie nackt und mit verdreckten Gesichtern aufräumen müssen und putzen und Gottes Sachen durch die Gegend schleppen. Gott selbst ist faul in seiner Allmacht, und es bereitet ihm Freude, den Brüdern die Brüder zu stehlen und den Müttern ihre Kinder. Er ist unersättlich. Es gibt im Himmel mehr Tote als Lebende auf der Erde. Während Gott wie Herr Behrends, sein Sportlehrer, die Seelen machen ließ, weinte Mami und hatte zum Sprechen keine Luft mehr. Ben weinte auch. Er konnte nicht mehr aufhören." (S.8)

So ungerecht stellt sich der 11-jährige Benjamin Schrader den Himmel vor, nachdem sein 8-jähriger Bruder unerwartet gestorben ist. Nach einem epileptischen Anfall im Freibad in Hamburg, Sommer 1972, während eines Wettschwimmens, stirbt er 10 Tage darauf im Krankenhaus, ohne dass die Ursache des Todes geklärt werden kann.

"Jonas ist acht Jahre und vier Monate alt. Er fährt mit Ben, der Nachbarin Frau Berg und ihrer Tochter ins Schwimmbad. Ruth bleibt zu Hause und gönnt sich einen freien Tag im Garten. Das Letzte, was sie von Jonas sieht, ist seine offene Sandale." (S.50)

Seine Mutter Ruth macht sich Vorwürfe, der Vater der Kinder - Hans- hat die Familie vor einem Jahr verlassen und inzwischen eine neue Lebensgefährtin. Auch er kann den Tod Jonas nicht begreifen, lebt aber in Frankfurt.

Der Roman erzählt überwiegend aus der personalen, kindlichen Sicht Bens. Über seine Trauer, seinen Kummer, seine Sorgen, die er sich um seine Mutter macht, die mit der Heizdecke an den Füßen so oft weinen muss und kaum noch Anteil am Leben hat.

"Ben überlässt sich der Zentralen Verwaltung. Sie fährt ihn summend zu seinem Platz." (S.21)

Schritt für Schritt gelingt ihm mit seiner Zuversicht der Weg in den Alltag zurück, er findet einen neuen Freund, macht erste sexuelle Erfahrungen, muss sich seinen Platz im Beziehungsgefüge der Klasse erkämpfen und gleichzeitig bemüht er sich um seine Mutter. Seine häufigste Aussage, wenn Freunde ihn fragen, ob er noch bleiben wolle:

"Ich muss nach Hause, meine Mutter wartet auf mich." (S.81)

Ruth verkraftet den Tod ihres Sohnes nicht - einige Passagen des Romans sind aus ihrer Sicht erzählt, und zeugen von ihrer Unfähigkeit den Verlust ihres Kindes zu akzeptieren. Sie geht alle Orte noch einmal ab, die mit seinem plötzlichen Tod zusammenhängen: das Schwimmbad, das Krankenhaus, einen Arzt, doch niemand kann ihr helfen. Sie beneidet Ben, der sich Jonas, wenn er ihn vermisst, immer lebendig vorstellt, während sie wieder an die Situation im Krankenhaus zurückdenken muss. An ihren Schuldgefühlen geht sie fast zugrunde, sie nimmt kaum noch Anteil am Leben.

"Ruth endet lange vor ihrer Haut. Ihr Körper hat sich zurückgezogen und teilt sich nur noch durch seinen kargen Anspruch mit, ernährt zu werden, gesäubert und gelegentlich bewegt. Ihre Haut ist kalt, sie hängt vom Fleisch wie ein nutzloser Lumpen." (S.213)


Auch Ben, obwohl er besser mit der Situation zurecht kommt, leidet und trauert um Jonas. Mit seiner Mutter kann er nur selten über seinen Bruder reden, aber Herr Gräber, ein Nachbar, hört ihm zu. In seinem Vorgarten steht ein altes Auto ohne Räder, in dem Herr Gräber Ben das Auto fahren beibringt, ihm gegenüber öffnet er sich.

"Magst du von Jonas erzählten?", fragt Herr Gäbler nach einer Weile. "Nein", sagt Ben. "Aber du könntest es probieren?" Ben gerät in einen dunklen Tunnel, der immer schmaler wird, bis er am Ende so eng wie ein Strohhalm ist. Um herauszukommen, sagt Ben leise: "Ja" (S.70)

Herr Gräber nimmt Ben in seinem Kummer wahr und da auch er Winnetou gelesen hat, stellt er sich vor, der Himmel sei wie die ewigen Jagdgründe, die

"wie eine Lücke in der Zeit [sind]. Dort wird Jonas für immer so bleiben, wie du ihn erinnerst. Und du erinnerst ihn jedes Mal, wenn du traurig wirst." (S.224)

Für Ben kristallisiert sich heraus, dass er seine Mutter wieder zum Leben überreden muss. Ob ihm das gelingen wird?

Bewertung
Ein sehr berührender Roman, der aus kindlicher Sicht die Trauer um einen geliebten Menschen in bilderreicher Sprache zum Ausdruck bringt. Die ungewöhnlichen Metaphern und Beschreibungen haben mich neben dem sensiblen Umgang mit der schwierigen Thematik fasziniert. Wie Ben sich selbst als Maschine vorstellt, seinen Kopf als Ort mit Regalen, wie seine Zentralverwaltung die Kontrolle übernimmt, damit er weiter leben kann, spiegelt seine Hilflosigkeit mit der Situation umzugehen, wider.
Als er zum ersten Mal seit Jonas Tod wieder im Schwimmbad ist, kann er zunächst nicht ins Wasser gehen.
"Dem Brennen der Sonne ausgesetzt, schrumpft Ben etwas. Es ist fast nicht zu bemerken und eigentlich ein Geheimnis. Nur möchte Ben gerade kein Geheimnis haben. An den Stellen, an denen er schrumpft, faltet sich seine Haut. Durch die Falten dringt die Hitze in ihn ein und beißt sich ins Innere. Die Sachen in Bens Regalen trocknen aus. Die Regale selbst werden staubig. Ein Wind weht über sie hinweg und kämmt Rillen in den Staub. Ben braucht lange, um in einem der hinteren Regale ein Seil zu finden. Er zieht es hervor verknotet es an einem geheimen Haken und reißt an ihm, bis es sich strafft." (S.187)

Die Sprache macht diesen Roman, der neben der Trauerarbeit auch den Weg des Jungen zum Jugendlichen mit all den Ritualen, Hindernissen und der Entdeckung der eigenen Sexualität ehrlich beschreibt, zu etwas ganz Besonderem.

Eine klare Leseempfehlung!