Dienstag, 9. Juli 2024

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

Leserunde auf whatchaReadin

Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."

Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.

Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.

Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.

In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen. 

Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.

Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.

Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.

Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.

Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.