Dienstag, 27. Juni 2017

Lars Vasa Johansson: Anton hat kein Glück

- ein Märchen für Erwachsene.

Gebundene Ausgabe, 416 Seiten
Rowohlt, 21. Oktober 2016

Vielen Dank an den Rowohlt-Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Diesen Roman haben Mira und ich auf der Frankfurter Buchmesse entdeckt. Beim Lesen des Klappentextes hat er uns beide gleichermaßen angesprochen, so dass wir uns entschieden, ihn gemeinsam zu lesen. Unsere Erwartungen wurden nicht enttäuscht.


Inhalt

Anton ist ein Zauberer mit mäßigem Erfolg, der in Altersheimen, auf Festen und kleineren Veranstaltungen auftritt. Zu Beginn der Geschichte feiert er seinen 45. Geburtstag - allein auf einem Rastplatz, die einzigen Gratulanten, die ihn morgens angerufen haben, sind seine Eltern. Wie es scheint, macht ihm das nichts aus, doch im Verlauf der Handlung blickt man hinter die gleichgültige Fassade des Ich-Erzählers Anton.
Der Berufszauberer - stolz darauf, den Beruf auszuüben zu können, der ihm Spaß macht, erweist sich als egoistischer, nörgelnder und unsympathischer Zeitgenosse, den niemand vermissen würde. Einer, der von Neid erfüllt ist und von der Frage umgetrieben wird, warum er keinen Erfolg hat.

Neidisch ist er vor allem auf Sebastian. In Rückblicken erzählt er, dass die beiden als Jugendliche gemeinsam ein Zauberprogramm auf die Beine gestellt haben und aufgetreten sind. Zuerst wenig erfolgreich, bis sie tatsächlich Geld damit verdienen konnten.
Anton lernte nach einer Zaubervorstellung Charlotta kennen, verliebte sich und die beiden wurden ein Paar. Der Blick in die Vergangenheit zeigt jedoch auch, dass Anton sehr wenig von sich preisgibt und seinen Mitmenschen wenig Empathie entgegenbringt. So hört er Charlotta kaum richtig zu, bietet Sebastian zwar ein Zuhause, dessen Vater Alkoholiker ist, ist jedoch eher daran interessiert, dass sie weiter zusammen auftreten können.
Um sich ganz der Zauberei hinzugeben, "opfert" er Charlotta, die statt dessen mit Sebastian zusammenkommt. Die Wege der beiden Jungen trennen sich und während Anton als mittelmäßiger Zauberer kaum noch Engagements ergattern kann, haben Sebastian und Charlotta Erfolg und werden reich.

In dieser kritischen Lebensphase verirrt sich Anton im Naturschutzgebiet Tiveden National Park, weil ein rotes Chesterfield Sofa mitten auf der Straße steht, so dass er einen Autounfall hat. Auf seinem Weg durch den Wald ignoriert er mehrere Warntafeln, überschreitet eine "Salzlinie" und trifft auf ein kleines Mädchen, das ihn bittet ihm sieben verschiedene Blumen zu pflücken. Da er es eilig hat und ein Telefon sucht, weigert er sich ihr zu helfen.
Ein fataler Fehler, denn sie ist eine Waldfee, die ihn mit einem Todesfluch belegt. Das erklären ihm Gunnar und Greta, zwei Nachfahren der Hexen, die in einem kleinen Häuschen im alten Wald leben und diesen vor Straßenläufern (Touristen) beschützen. Von nun an wird Anton immer Unglück haben, bis er sich das Leben nehmen will. Die darauffolgenden Tage sind tatsächlich von skurrilen Unglücksfälle geprägt, die jedoch sehr lustig zu lesen sind.
Dabei lernt Anton Jorma kennen, einen jungen Mann, der sich auf einer Liebesquest befindet und der im weiteren Verlauf noch eine Rolle spielen wird. In seiner Verzweiflung kehrt Anton zu den beiden Alten zurück und sie erklären ihm, dass er den Todesfluch lösen kann, indem er drei Aufgaben bewältigen muss, so wie sich das für ein Märchen gehört. Erst dann kann die Königin des Waldes mit der Fee vereinbaren, den Fluch aufzuheben. Widerwillig lässt sich der Zauberer Anton auf die "echte" magische Welt ein. Seine ständigen Begleiter sind ein Spray und Gunnars selbst gebackene Biskuitrolle, die vor bösen Geistern und Flüchen schützen sollen.
Wird er die Aufgaben lösen und geläutert von seiner Heldenreise zurückkehren?


Bewertung
Gestern Abend haben Mira und ich telefoniert und uns hat der Roman gut gefallen. Beide haben wir den Protagonisten zu Beginn als unsympathisch empfunden, denn den Bewohner*innen des Altenheims bringt er während seines Auftritts keinen Respekt entgegen, schikaniert die Pflegerin und beschwert sich auch im Hotel permanent. Er ist ein echter Nörgler, der im Selbstmitleid ertrinkt und neidisch auf den Erfolg seiner ehemals besten Freunde schielt.
Während der Aufgaben, die er zu bewältigen hat, wird er jedoch geläutert. Er durchläuft eine Quest, eine Heldenreise, die ihn letztlich zu einem besseren Menschen macht, da waren wir uns einig.
Indem er sich mit seinem Verhalten und seiner Lebenssituation auseinander setzen muss, erkennt er, wie er sich anderen gegenüber verhält. Die nörgelnde alte Hexe, der er helfen muss, spiegelt sein Verhalten ebenso wider wie der Tränentriefer, dem er am Ende begegnet und der sich selbst zutiefst bemitleidet. Jorma, der seiner Freundin nachtrauert und in der Vergangenheit verhaftet ist, erscheint in der Hinsicht als Alter Ego des Protagonisten, wobei Jorma sich seine Empathie und Mitmenschlichkeit bewahrt hat.
Die Moral der Geschichte kommt in der Szene mit dem Tränentriefer für meinen Geschmack etwas zu deutlich daher und das Ende ist überaus positiv, zu positiv, wie auch Mira fand. Allerdings handelt es sich um ein Märchen und da ist nun mal am Ende alles gut.

Der phantastischen Anteile - die "echte" Magie, gegen die sich Anton lange wehrt, die mythologischen Figuren, wie das Miststück und der Tränentriefer, sind besonders gelungen und kleiden die Moral in ein Augenzwinkern. Die vielen skurrilen Situationen sorgen für gute Unterhaltung und Lesegenuss.

Ein Warnung am Ende:
Der Roman macht eine unbändige Lust auf gefüllte Biskuitrolle, die so oft erwähnt wird, das man dem Wunsch, sie sofort essen zu wollen, irgendwann nicht mehr widerstehen kann ;)

Ein schöner Roman, der uns auf unterhaltsame und lustige Weise erzählt, wie wir dem Tränentriefer entkommen:

"Je mehr ich lächelte, desto leichter konnte ich mich seiner destruktiven Energie entziehen." (S.375)

Hier geht es zu Miras Rezension.

Donnerstag, 22. Juni 2017

Paul Auster: Mann im Dunkel

- der eine düstere Parabel über den Krieg ersinnt.

Gebundene Ausgabe, 220 Seiten
Rowohlt, 1.April 2010


Inhalt
Der 72-jährige August Brill liegt nachts in seinem Bett und kann wieder einmal nicht schlafen. Er lebt nach einem Unfall im Haus seiner 47-jährigen Tochter Miriam, die vor fünf Jahren von ihrem Mann verlassen wurde. Auch deren Tochter Katya liegt wach. Sie studiert an der Filmakademie in New York, hat aber aufgrund eines traumatischen Ereignisses, das mit dem Tod ihres ehemaligen Freundes Titus Small zusammenhängt, ihr Studium unterbrochen. Ein Ereignis, das auch der alte Mann nicht vergessen kann.

"Ich denke oft an Titus´Tod, die entsetzliche Geschichte dieses Todes, die Bilder dieses Todes, seine verheerenden Folgen für meine Enkelin, aber dorthin will ich jetzt, kann ich jetzt nicht gehen, ich muss ihn so weit von mir fernhalten wie möglich." (S.10)

Statt dessen flüchtet sich August in eine selbst erdachte Geschichte, die einen Großteil des Romans ausmacht. Es ist eine Parabel über den Krieg.

Der junge Owen Brick, von Beruf Zauberer erwacht im Jahr 2007 in einem zylindrischen Erdloch, aus dem er nicht entkommen kann - keine Szene für Klaustrophobiker*innen. Er weiß nicht, wo er sich befindet und wie er in diese Situation geraten ist. Im Hintergrund hört er Kriegsgeräusche und plötzlich taucht ein Sergeant auf, befreit ihn und teilt ihm mit, dass sich die USA im Bürgerkrieg befänden. Statt dessen stehen die Twin Towers noch und im Irak herrscht kein Krieg.

"Bürgerkrieg, Brick. Weißt du denn gar nichts? Er geht schon ins vierte Jahr. Aber jetzt, wo du aufgetaucht bist, wird es bald vorbei sein. Du bist der Mann, der das Ende bringt." (S.17)

Seine Aufgabe besteht darin, den Mann zu töten, der sich diese Geschichte ausdenkt, die dann zur Wirklichkeit wird. Der Autor als Erfinder von Realitäten, von parallelen Welten, die neben der unseren existieren.
(Diese Theorie der parallelen Welten, formuliert von Giordano Bruno im 16. Jahrhundert, liegt auch der Fantasy-Reihe von Philip Pullman zugrunde.)

Ausgerechnet seine Jugendliebe, die einst unerreichbare Virginia Blaine, hat ihn in jene Welt geholt. Zurück in seiner eigenen soll er "August Brill" töten, damit der Krieg in der parallelen Welt beendet ist. Der Literaturkritiker Brill taucht in seiner eigenen Geschichte auf, er ist es, der getötet werden muss, damit der erdachte Krieg in der parallelen Welt beendet werden kann.
Eine Parabel darauf, dass Kriege von Menschen verursacht werden, in den Gedanken der Mächtigen entstehen? Auch in der parallelen Welt herrscht Krieg, sogar im Land selbst. Und der Autor der Geschichte sieht "schwarz" - es wird keine Hoffnung geben.

Parallel zu der erdachten Geschichte denkt der Schlaflose über die gemeinsamen Filmnachmittage mit seiner Enkelin nach, in die er sich flüchtet, weil er seit dem Tod seiner Frau Sonia nicht mehr in der Lage ist, an seiner Familiengeschichte weiterzuschreiben.

"Sich in einen Film zu flüchten ist etwas anderes, als sich in ein Buch zu flüchten. Bücher zwingen einen, ihnen etwas zurückzugeben, den Verstand und die Phantasie zu gebrauchen, wohingegen man einen Film im Zustand geistiger Passivität sehen und auch genießen kann." (S.25)

In den Filmen sind es die Frauen, die "die Welt auf ihren Schultern tragen." (S.33)
Im Gegensatz zu den Männern, die die Kriege verantworten und darin kämpfen?

Eine weitere nächtliche Beschäftigung, um die Gedanken an Sonia zu vertreiben, ist, Miriams Manuskript zu lesen, die sich mit der Autorin Rose Hawthorne beschäftigt. Einer mittelmäßigen Dichterin, die jedoch eine Zeile geschrieben hat, die August gefällt:

"Und die wunderliche Welt dreht sich weiter." (S.59)

- trotz der Kriege, der Grausamkeiten, die sich die Menschen einander antun. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen.

"Das Thema diese Nacht ist der Krieg" (S.146)

So denkt August an seine letzte Europareise zurück, an die Geschichten über den Krieg, die ihm begegnet sind.

  • Eine Literaturlehrerin, die sich in Belgien im 2.Weltkrieg einer Widerstandsgruppe angeschlossen hat und im KZ exekutiert wurde.

Eine Szene, nach der ich den Roman aus der Hand legen musste und die aufsteigenden Bilder am liebsten verbannt hätte.

  • Die Rettung einer jüdischen Familie als positivem Gegenentwurf zur vorherigen Erinnerung.
  • Eine Geschichte über einen Doppelagenten aus dem Kalten Krieg.

"Kriegsgeschichten. Kaum verlässt man für einen Augenblick seine Deckung fallen sie über einen her, eine nach der anderen..." (S.146)

Bevor August sich wieder mit dem grausamen Tod Titus im Irak-Krieg beschäftigt, erzählt er seiner Enkelin Katya, die auch nicht schlafen kann, die Geschichte seiner Liebe zu Sonia, von ihrer ersten Verliebtheit, der Trennung - er hatte Sonia für eine andere verlassen - und ihrer zweite Beziehung, bis diese lange Nacht vorüber ist.


Bewertung
Paul Auster erzählt mehr als eine Geschichte in diesem Roman. Neben der Parabel auf den Krieg, die erdachte Geschichte seines Protagonisten, reflektiert der Ich-Erzähler über sein eigenes Leben. Im Fokus steht seine große Liebe Sonia, der Verlust ihrer Ehe und sein Werben um die Frau, mit der er alt werden will. Er verschweigt die Tücken des Ehelebens - das Auseinanderleben, der Wunsch, wieder Neues zu entdecken - und des Alterns dabei nicht.
Ein wohltuende Episode in dem ansonsten düsteren Roman, der viele grausame Bilder aufsteigen lässt und ein dunkles Bild unserer Gesellschaft zeichnet.

Die Kriegsszenerie, die Unausweichlichkeit des Krieges, der die Geschichte durchzieht und auch in der parallelen Welt herrscht (vielleicht einer von vielen), ist das, was nach dem Lesen bleibt und wach rüttelt. Jeden Tag bestimmen Kriegsbilder die Nachrichten, man nimmt sie oftmals gar nicht mehr wahr. Indem Auster jedoch einzelne Personen ins Rampenlicht stellt und ihr furchtbares Schicksal schonungslos erzählt, führt er uns die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des Krieges brutal vor Augen.

Bisher habe ich von Auster nur die schöne Hundegeschichte "Timbuktu" gelesen, doch dieser Roman hat mich davon überzeugt, noch weitere von ihm lesen zu wollen.





Montag, 19. Juni 2017

Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht

- ein mutiger Liebesroman.

Gebundene Ausgabe, 208 Seiten
Diogenes, 22. März 2017


Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt

"Und dann kam der Tag, an dem Addie Moore bei Louis Waters klingelte." (S.7)

Mit dieser Aussage beginnt die ungewöhnliche Beziehung zwischen Addie und Louis, denn sie unterbreitet ihm den Vorschlag:

"Ich wollte fragen, ob du dir vorstellen könntest, hin und wieder zu mir zu kommen und bei mir zu schlafen." (S.9)

Das "Und" zu Beginn der ersten Aussage zeigt, dass sich Addie dieses Angebot lange überlegt und gezögert hat, es auszusprechen.

Schließlich bringt sie den Mut auf, es geht ihr nicht um Sex, sondern darum
"die Nacht zu überstehen" (S.9), mit jemandem zu reden und nicht mehr einsam zu sein.

Addie ist 70 Jahre, Louis noch etwas älter und beide sind verwitwet. Sie leben in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado (in der alle sechs Romane des Autors spielen) und wohnen einen Häuserblock voneinander entfernt. Dieses ungewöhnliche "Arrangement" wird sie zwangsläufig zum Gerede der Leute machen. Doch Addie reagiert auf Louis Bedenken, der am ersten Abend über den Hintereingang kommt, gelassen.

"Ich habe mir das genau überlegt - es ist mir egal, was die Leute denken. Viel zu lange habe ich darauf geachtet, mein ganzes Leben lang. Aber damit ist jetzt Schluss." (S.13)

Louis, ehemaliger Lehrer in Holt, wird nach der ersten gemeinsamen Nacht, in der er überhaupt nicht schläft, krank - Harnwegsinfektion. Addie reagiert verletzt, da sie glaubt, er wolle nicht mehr kommen. Als sie ihn im Krankenhaus besucht, klärt er das Missverständnis auf und sobald er gesund ist, verbringt er erneut die Nacht gemeinsam mit Addie. Langsam werden sie sich vertrauter, er lässt seinen Pyjama und seine Zahnbürste bei ihr und benutzt den Vordereingang. Sie zeigen sich in der Öffentlichkeit und eröffnen sich nachts ihre Geheimnisse, reden sich ihre Sorgen von der Seele.

Addie spricht vom tragischen Unfalltod ihrer Tochter Connie, von den Vorwürfen, die sich ihr kleiner Sohn Gene gemacht hat; davon, dass Carl, ihr Mann, diesen Tod nie verwunden und seinen Sohn nicht mehr wahrgenommen hat, dass ihre Ehe dadurch sehr gelitten und sie seit Jahrzehnten keinen Sex mehr hatte.

Louis erzählt von seine außerehelichen Affäre, davon, dass er Diane und seine Tochter Holly verlassen hat, aber wieder zurückgekehrt sei und dass er es bereut, sie verletzt zu haben; von der schmerzhaften Krebserkrankung seiner Frau und ihrem leidvollen Tod.

Addies Enkelsohn Jamie unterbricht ihre Zweisamkeit, seine Eltern haben sich getrennt und daher verbringt er die Ferien bei seiner Großmutter. Doch der Junge vertieft ihre Bindung, er fasst Vertrauen zu Louis und als dieser ihm die Hündin Bonny schenkt, kann Jamie wieder ruhig und ohne Alpträume schlafen.

Als der Sommer zu Ende geht, verändert sich ihr idyllisches Leben...

Bewertung
Ein mutiger Roman, der ein Tabuthema aufgreift. Die Tatsache, dass sich viele alte Menschen einsam fühlen und gerne jemanden zum Reden oder abends in ihrem Bett neben sich haben möchten. Und dass auch der Wunsch nach Sexualität immer noch da ist.
Doch kaum einer oder eine bringt tatsächlich den Mut auf, den Schritt zu tun, den Addie gewagt hat. Bewundernswert, sich nicht um das zu kümmern, was die anderen sagen. Warum auch? Ist sie nicht alt genug, um zu wissen, was gut für sie ist? Wen verletzt sie damit, außer gängige Konventionen? Unverständlich, dass ihr Sohn so unsensibel reagiert, aber auch realistisch. Die eigenen Eltern in einer neuen Rolle wahrzunehmen, scheint schwer zu fallen. Statt es seiner Mutter zu gönnen, erpresst er sie. Hat er selbst nicht gelernt zu lieben, nagt die Zurückweisung seines Vaters an ihm?

Ein wunderbar leiser Roman, der unaufgeregt von gemeinsamen Tagen berichtet, den Alltag schildert, das Leben so, wie es ist, erzählt und zeigt, wie zwei Menschen Vertrauen zueinander aufbauen, sich gegenseitig in ihrer Einsamkeit beistehen und ihre "Seelen bei Nacht" öffnen.

"Wer hätte gedacht, dass wir in unserem Alter noch einmal so etwas erleben. Dass noch längst nicht alle Veränderungen und Aufregungen hinter uns liegen, wie sich herausstellt. Dass wir noch nicht körperlich und geistig vertrocknet sind." (S.163)

Zwei alte Menschen, die bereits gelebt haben, ein Leben, das nicht ihren Erwartungen entsprochen hat und die dennoch ein spätes Glück finden.

"Wer bekommt denn schon das, was er sich wünscht? Nicht viele, wie mir scheint, wenn überhaupt. Immer sind es zwei Menschen, die blindlings aufeinanderstoßen und alte Ideen und Träume und falsch verstandene Erkenntnisse ausleben. Allerdings finde ich nach wie vor, dass dies nicht für dich und mich gilt. Jedenfalls nicht hier und jetzt. " (S.145)

Am Ende schildert Kent Haruf schonungslos, dass dieses Glück nicht akzeptiert wird - ausgerechnet von den Jungen. Man wünscht Addie und Louis, dass sie wieder zueinander kommen und den Mut nicht verlieren.

Ein Roman, der berührt und bei dem ich oft inne gehalten habe, um über einzelne Sätze nachzudenken und der viel zu kurz ist!

Eine klare Leseempfehlung!

Sonntag, 18. Juni 2017

E.O.Chirovici: Das Buch der Spiegel

Wer sagt die Wahrheit?

Quelle: pixabay
Hörbuch von audible

gesprochen von Jonas Nay, Stephan Kampwirth, Volker Lechtenbring, Sebastian Rudolph und Sasche Rotermund

8 Stunden und 15 Minuten





Inhalt

1.Teil
Der Literaturagent Peter Katz erhält per Email ein Manuskript von Richard Flynn, in dem dieser von wahren Ereignissen aus dem Jahr 1987 berichtet. Er verspricht den Mordfall des berühmten Professors Wieder in Princeton aufzuklären, der jetzt über 20 Jahre zurückliegt. In dem Auszug aus dem Manuskript erzählt Richard, dass die junge Laura Baines, eine begabte Mathematikstudentin bei ihm eingezogen ist und ihn mit dem Professor bekannt gemacht hat. Dieser bot ihm einen Job an - seine umfangreiche Bibliothek mithilfe eines Computerprogramms zu erfassen und zu sortieren. Richard, der eine Liebesbeziehung mit Laura unterhielt, war eifersüchtig auf den Professor und glaubte, er habe ein Verhältnis mit Laura. Zudem arbeite Wieder an einem geheimen Projekt, in dem es um traumatische Erinnerungen von Soldaten gehe. Sehr mysteriös. Richard erwähnt auch den Handwerker Derek, der unter retrograder Amnesie leidet und der für den Professor Reparaturarbeiten erledigt. Wieder hatte ihn einst begutachtet und ihm eine Schizophrenie bescheinigt, dadurch musste Derek, der des Mordes an seiner Frau verdächtigt wurde, nichts ins Gefängnis. In der forensischen Psychiatrie wurde er von einem Patienten niedergeschlagen und verlor sein Gedächtnis. Aus Nächstenliebe nahm sich der Professor seiner an und Derek war es auch, der die Leiche des Professors an einem Wintermorgen gefunden hat.
Das Manuskript bricht vor der Schilderung der Mordnacht ab, so dass Peter Katz versucht, Richard Flynn zu kontaktieren. Er kommt jedoch zu spät, denn Flynn stirbt an den Folgen einer Krebserkrankung und das Manuskript ist nicht auffindbar. Richard Flynn galt anfangs als Tatverdächtiger, doch letztlich konnte der Mord an Wieder nie aufgeklärt werden.

2.Teil
Besessen davon, die Wahrheit herauszufinden, beauftragt Katz den befreundeten Journalisten John Keller damit, die Beteiligten von damals ausfindig zu machen und Licht in die Ereignisse zu bringen.
Der findet heraus, dass sich Wieder einen Namen als psychiatrischer Gutachter gemacht hat und dass Laura Baines ihren Namen in Westlake geändert hat und inzwischen Professorin für Psychologie ist. Sie spricht nur unter der Voraussetzung mit Keller, dass sie vorher Richards Manuskript lesen darf.
Laura stellt die Ereignisse fast konträr zu der Erzählung Flynns dar. Während Richard behauptet, Lauras Exfreund habe sie verfolgt und ihr nachgestellt, behauptet Laura, sie habe nie eine Liebesbeziehung mit Richard gehabt und er sei es gewesen, der ihr und ihrem Freund gefolgt sei, nachdem dieser eine Zeit lang in Europa studiert habe. Auch habe sie nie eine Affäre mit dem Professor gehabt, sondern lediglich seine Arbeit unterstützt. Keller unterhält sich auch mit Derek, der wiederum behauptet, in der Mordnacht habe es einen heftigen Streit zwischen dem Professor, Laura und Richard gegeben, da Richard deren Affäre entdeckt habe. Und er sei sich sicher, dass Richard den Professor umgebracht habe.
Wem soll Keller glauben?
Nach den Gesprächen mit Lauras ehemaliger Freundin und dem ermittelnden Detective in dem Fall - Roy Freeman - scheint dieser immer komplizierter zu werden, da sich alle Aussagen widersprechen. Keller entdeckt zudem, dass ein verschollenes Buch, das der Professor veröffentlichen wollte, unter Laura Westlakes Namen erschienen ist. Hat sie es gestohlen und den Professor ermordet? Oder sich Richards bedient?

3.Teil
Der letzte Teil wird vom inzwischen pensionierten Detective Freeman erzählt, dem es letztendlich gelingt den Fall aufzuklären und der erkennt, dass alle Beteiligten sich geirrt haben und ihre Wahrnehmungen von den eigenen Obsessionen verzerrt waren.

Bewertung
Ein gelungener Krimi, indem alle Aussagen einer Person von der nächsten widerlegt werden und man irgendwann überhaupt nicht mehr weiß, wer lügt und wer die Wahrheit gesprochen hat. Schritt für Schritt setzen sich die Puzzleteile zusammen und ergeben ein Gesamtbild des Mordes, an dem - so viel sei hier verraten - mehrere beteiligt waren. Das Verbrechen ist sehr vielschichtig und in jedem Teil wird eine Schicht abgetragen, bis die Tat am Ende in ihrer Gesamtheit sichtbar wird.

Unglaublich spannend, kunstvoll komponiert und als Hörbuch von den einzelnen Sprechern sehr gut gelesen. Man sollte es allerdings nicht mit vielen Pausen oder "nebenbei" hören, da die Handlung kompliziert ist und man Gefahr läuft, den Überblick zu verlieren.

Ein schönes Spiel mit Sein und Schein, mit dem, was die Menschen wahrnehmen wollen und dadurch die "objektive" Wahrheit verzerren.





Freitag, 16. Juni 2017

Volker Kutscher: Lunapark

- der sechste Fall für Gereon Rath.

Gebundene Ausgabe, 557 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 2016



Inhalt
Dies ist bereits der 6.Fall, den der unkonventionelle und eigenwillige Kriminalkommissar Gereon Rath in der Berliner Kriminalgruppe unter Ernst Gennat, der Buddha genannt, löst.
Spielte der 1.Fall noch in der Weimarer Republik, sind im Jahr 1934 die Nazis an der Macht und bauen ihren Terrorstaat aus - im Fokus stehen die Braunhemden. Der Roman spielt unmittelbar vor und während dem sogenannten Röhm-Putsch, in dem große Teile der SA liquidiert wurden.

In der Gestapo hat der ehemalige Kriminalsekretär Raths, Reinhold Gräf inzwischen Karriere gemacht hat, während Rath weiterhin vergeblich auf eine Beförderung wartet.

Im aktuellen Fall wird ein SA-Mann tot unter einer Brücke aufgefunden, an dessen Pfeiler die Parole:

"ARBEITER WEHRT EUCH! TOD DEN HITLERFASCHI..." (S.17)

unvollständig gepinselt wurde. Die Vermutung liegt nahe, dass das Opfer Hermann Kaczmarek, ein SA-Rottenführer, die Kommunisten dabei gestört hat, die Parole zu vollenden und dafür mit seinem Leben bezahlen musste.
Neben dem Morddezernat ermittelt auch die Gestapo in dem Fall, für Rath äußerst ungewöhnlich, der eine gemeinsame Arbeit mit der Politischen Polizei immer schon abgelehnt hat.
Bei der Durchsuchung der Wohnung des Toten stößt Andreas Lang, Raths Kriminalsekretär, auf ein kleines Waffenarsenal und eine hohe Summe Geld. Wie kommt ein einfacher SA-Rottenführer zu solch einer Summe? Daneben findet Lang auch ein Foto, auf dem der Tote gemeinsam mit Hermann Lapke zu sehen ist, dem ehemaligen Chef der Nordpiraten, eines kriminellen Ringverbandes, der unter den Nazis zerschlagen wurde und anscheinend im SA-Sturm 101 im Wedding aufgegangen ist. Des Weiteren ist Erich Sperling auf der Fotografie zu sehen, der zum Feldjägerkorps gehört, die schwarze Schafe in der SA aufspüren sollen - eine interessante und nützliche Verbindung.
Die Gestapo ist an dem Fall deshalb interessiert, da die Parolen überall in der Stadt auftauchen und sie vermutet ein nach Moskau emigrierter Kommunist sei zurückgekehrt.
Zeitgleich taucht die junge Alex Reinhold bei Charly Rath auf. Alex Bruder, ein Kommunist, stand einst unter Verdacht einen SA-Mann getötet zu haben. Hängen diese Ereignisse zusammen?
Charly hatte in einem anderen Fall Alex zur Flucht geholfen, denn sie hat ein Herz für Straßenkinder. So kommt es, dass sie und Gereon Fritz Thormann, eine Waise, als Pflegekind angenommen haben.

Der 13jährige Junge möchte unbedingt Mitglied in der Hitlerjugend werden und bringt folgendes Argument vor:

"Weißt du eigentlich, wie peinlich das ist?", sagte er, und sein Stimme war kurz davor, sich zu überschlagen. "Ich bin der Einzige in unserer Klasse, der noch nicht dabei ist. Der Einzige! Weißt du, was ich mir alles anhören muss?" (S.31)

Trotzdem ist Charly dagegen, während Gereon die HJ als harmlose Pfadfindertruppe abtut. Sein mangelndes politisches Interesse scheint zunehmend gefährlicher für ihn zu werden, während Charly die neue Situation gut einschätzen kann.

Als Gereon Rath den Obduktionsbericht erhält, ist er sicher. Das ist kein politischer Mord, denn Hermann Kaczmarek ist an einem Glasauge erstickt - und erst nach seinem Tod so übel zugerichtet worden. Wie kommt das Glasauge Walter Spindlers in Katsches, der Spitzname Kaczmareks - Luftröhre - was hat der Kommunist Spindler mit dem Fall zu tun?
Des Weiteren findet Raths Sekretärin heraus, dass fast alle Mitglieder des SA-Sturmes 101 ehemalige Nordpiraten sind, anscheinend hat ihr Chef Hermann Lapke nach der Säuberungsaktion seine Truppe in die SA überführt und geht weiterhin seinen Geschäften - Waffenhandel, illegale Spielcasinos - nach.
Nachdem ein weiterer SA-Mann ermordet wird, taucht ein weiterer alter Bekannte Gereon Raths auf, der mächtige Gangster Johann Marlow. Die beiden verbindet eine lange - für einen Polizeibeamten unheilvolle - Geschichte. Erneut bittet Marlow Rath um einen Gefallen, denn er kennt den Mörder der SA-Männer und auch das dahinter stehende Motiv.
Wird Rath darauf eingehen? Wem gilt seine Loyalität? Und welche Rolle spielt der stillgelegte Lunapark im Kriminalfall?
Der Fall nimmt noch einige unerwartete Wendungen und am Ende stellt sich heraus, dass man im Neuen Deutschland kaum noch jemandem trauen kann und offene Rechnungen beglichen wurden.

Bewertung
Kutscher zeichnet ein realistisches Bild Berlins im Jahre 1934. Die umgehende Angst, das Misstrauen, das Zerwürfnis innerhalb der Familie, wenn sich politische Einstellungen widersprechen, aber auch die Naivität derer, die glaubten, der Spuk sei bald vorüber, wird deutlich.
So gesehen ist dieser Roman auch ein Beitrag gegen das Vergessen, da er sehr deutlich die Brutalität der SA, SS und Gestapo und die Hilflosigkeit derer schildert, die noch an den Rechtsstaat glauben - obwohl längst Willkür und Terror herrschen.

Der Kriminalfall ist spannend, aber wie immer bei Kutscher sehr kompliziert. Über 560 Seiten fällt es manchmal schwer alle Handlungsfäden im Blick zu behalten. Zudem gibt es viele Anspielungen auf die vorangegangenen Fälle, Ereignisse, die mir nicht mehr so präsent waren.
Nichtsdestotrotz habe ich auch diesen Kriminalfall bis zum Ende hin mit Interesse verfolgt und mein geschichtliches Wissen aufgefrischt und einiges dazugelernt.

Die Figur Gereon Raths ist faszinierend, da er sich den einfachen Kategorien gut - böse entzieht. Zwar ist er als Kriminalpolizist auf der Seite, die Verbrecher ausfindig macht und der Bestrafung zuführen soll - doch wie immer handelt er auf eigene Faust und verfolgt eigene Ziele.
In der Zusammenarbeit mit Marlow zeigt sich zum ersten Mal, dass er sich mit einem brutalen Gangster eingelassen hat und Raths Widerwille nimmt zu, Marlow zu Diensten zu sein. Doch dieser weiß, wie er Rath auf Kurs bringen kann.
Seine politische Naivität ist nur schwer zu ertragen, Charly bietet da einen positiven Gegenentwurf, doch seine Geheimniskrämer gefährdet wieder einmal ihre Beziehung und am Ende dieses Falls kann man gespannt sein, wie es mit den beiden und dem Jungen Fritz weitergeht.

Donnerstag, 8. Juni 2017

John Irving: In einer Person

- auf der Suche nach Identität.

Taschenbuchausgabe, 734 Seiten
Diogenes, 27. November 2013


Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Inhalt
Der Schriftsteller William Abbott, fast 70 Jahre, blickt als erzählendes Ich auf sein bewegtes Leben zurück. Chronologisch erzählt er von seiner frühen Jugend bis ins Jahr 2010, greift immer wieder vor, weckt Neugier und springt zurück.

Geboren wird er im März 1942 als William Dean. Sein Vater, William Francis Dean, kämpft im 2.Weltkrieg als "Codeknacker ", heiratet 1943 seine Mutter Mary und bereits ein knappes Jahr später sind die beiden wieder geschieden, da Mary beobachtet hat, wie er eine andere Person geküsst hat,

"als sie mit mir schwanger war - möglicherweise sogar nach meiner Geburt-, und dass sie genug von der Mund-zu-Mund- Begegnung gesehen hatte, um zu wissen, dass es sich nicht um einen unschuldigen Kuss handelte." (S.25)

In der Geschichte seines Vater gibt es Unstimmigkeiten, die sich vor allem um sein Alter und seinen Verbleib drehen. Nach Billys Rechnung war sein Vater noch keine 18 Jahre, als sein Sohn auf die Welt gekommen ist und wer ist die andere Person, die er geküsst hat? Wer ist sein Vater und warum ist das Jahrbuch der Schule aus dem Jahre 1940 im Besitz seines Onkels Bob, der es nicht zurückgeben will? Welches Geheimnis verbirgt Bills schräge Familie vor ihm?

Seinem Grandpa Harry Marshall gehört das Sägewerk und das Holzlager von Fist Sister, einer Stadt in Vermont. Grandpa Harry "war ein grandioser Frauendarsteller" (S.28) - zum Leidwesen seiner konservativen Frau Victoria. Er lebt erst auf der Bühne in Frauenrollen mit entsprechender Verkleidung auf, die Jeanshose und das Holzfällerhemd, seine "Berufskleidung", hingegen wirken wie eine Tarnung. Nach dem Tod seiner Frau wird er am liebsten ihre Kleidung tragen.

"War Harry Marshall ein richtiger Transvestit? Zog Grandpa Harry sich einfach nur gelegentlich Frauenklamottten an, oder steckte mehr dahinter? Würden wir meinen Grandpa heutzutage einen verkappten Schwulen nennen, der sich nur als Frau verkleidete, wenn es gesellschaftlich statthaft war? Keine Ahnung. Wenn schon meine Generation unterdrückt war, und das war sie zweifellos, kann ich mir vorstellen, das Homosexuelle aus der Generation meines Großvaters - ob nun lupenrein oder nicht - alles daransetzten, unbemerkt zu bleiben. (S.93)

Harrys Geschäftspartner ist der Norweger Nils Borkman, der gleichzeitig die Theatergruppe First Sister Players leitet - ein Ibsen-Fan, immer bestrebt die schwierigen Stücke den Laiendarstellern nahe zu bringen.

Auch Marys ältere Schwester Muriel ist Mitglied des Ensembles und genau so nörglerisch wie ihre Mutter Vicky. Sie ist gehört zu denjenigen, für die Toleranz ein Fremdwort ist. Ihr Mann Bob ist da offener, hat jedoch ein Alkoholproblem und ist für die Auswahl der Schüler an der Favorite River Academy zuständig - einer Jungenschule, auf die Billy ebenfalls geht.

Die Theatergruppe erhält Aufwind, als 1955 der neue Englischlehrer der Favorite River Academy auftaucht - Robert Abbott, ein Shakespeare-Fan, der selbst in der Schule Theateraufführungen leiten wird, in denen Billy mitspielt.

Billys Mutter, Souffleuse der First Sister Players, verliebt sich in den 10 Jahre jüngeren Mann genauso wie Billy selbst, der es eine "Schwärmerei für die Falschen" (S.72) nennt, da ihm durchaus bewusst ist, dass ein Junge nicht für einen Mann "schwärmen" sollte. Ein Glaubenssatz, der ihm in der Schule eingetrichtert wird.

Nach der Heirat seiner Mutter mit Robert ziehen sie in die Lehrerwohnungen der Schule, dort lernt Billy Elaine kennen, deren Eltern ebenfalls unterrichten. Die beiden freunden sich an - eine Verbindung, die ihr ganzes Leben bestehen bleiben wird.

"Vielleicht könnte ich ihn einfach nur anfassen", meinte Elaine nachdenklich. "Nicht deinen nackten Ständer!", ergänzte sie rasch. "Vielleicht könnte ich ihn nur fühlen - also, durch deine Klamotten." "Klar, warum nicht?"; sagte ich möglichst beiläufig, fragte mich allerdings (noch Jahre später), ob je ein anderer Mensch seine erste sexuelle Erfahrung so gründlich ausgehandelt hatte. (S.164)

Beide hegen eine gemeinsame Leidenschaft für Billys Mitschüler Kittredge (Elaine geht auf eine Mädchenschule), einen Ringer und grandiosen Schauspieler in den Shakespeare Stücken. Sie spielen den anderen jedoch vor, sie seien ein Liebespaar.

"Wollte ich bei meinen Mitschülern bewusst den Eindruck erwecken, Elaine Hadley wäre meine Freundin? Spielte ich schon da nur eine Rolle? Ob bewusst oder unbewusst, ich benutzte Elaine zur Tarnung." (S.108)

Elaines Mutter - Billys Logopädin vertraut er seine "Schwärmereien für die Falschen" ebenso wie seinem Grandpa an, beide zeigen Verständnis für den unsicheren jungen Mann.

Dank Kittredge erhält Bill den Spitznamen "Nymphe", da er im Shakespeare Stück "Sturm" die Rolle des/der Ariel übernimmt.

"Ich glaube, dass das Geschlecht von Ariel wandelbar ist." (S.102)

Ein Vorausdeutung auf Bills Bisexualität:

"Wenn ich wollte, konnte ich auch unsichtbar sein - ein Luftgeist wie Ariel. Es gibt kein eindeutig festgelegtes bisexuelles Äußeres, aber dieses Aussehen strebte ich an." (S.200)

Neben der Leidenschaft für Kittredge ist es die Bibliothekarin Miss Frost, die Billy maßgeblich beeinflusst, nicht nur, weil sie für ihn die "passende" Lektüre bereit hält.

"Ich lernte Miss Frost in einer Bibliothek kennen. Ich mag Bibliotheken, obwohl ich Mühe mit der Aussprache des Wortes habe - im Plural wie im Singular. Offenbar fällt mir die Aussprache bestimmter Wörter äußerst schwer; überwiegend Hauptwörter: Menschen, Orte und Dinge, die mich entsetzlich aufgeregt, in schwere Konflikte oder abgrundtiefe Panik gestürzt haben." (S.11)

"Miss Frost war eine Frau mit aufrechter Haltung und breiten Schultern, mein Hauptaugenmerk allerdings galt ihren kleinen, aber wohlgeformten Brüsten. In scheinbaren Widerspruch zu ihrer mannhaften Größe und unübersehbaren körperlichen Stärke hatten Miss Frosts Brüste etwas überraschend Frisches, unwahrscheinlich Knospendes, Jungmädchenhaftes." (S.14)

Mit seiner Obsession für die Bibliothekarin legt Bill auch den Grundstein für seine weitere literarische Karriere, die er auch seinem Stiefvater verdankt, der es ihm ermöglicht hat- gegen den Widerstand seiner Mutter - einen Ausweis für die Stadtbibliothek zu erhalten und seine Liebe für das Theater geweckt hat. Miss Frost ist die erste, der er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, eröffnet. Und sie ist die erste, die seine sexuelle Identität festigt, was zu einem Zerwürfnis mit seiner Familie führt.
Genau wie Billys Vater umgibt nämlich auch Miss Frost, "der Liebe seines Lebens" (S.419), ein Geheimnis. Gleiches gilt für Kittredge, dessen Leben eine unerwartete Wende nehmen wird - mehr sei hier nicht verraten.

"[A]llein auf dem College in New York [...], konnte ich mich endlich zu meinen homosexuellen Anteilen bekennen. Nach Tom [ein Mitschüler] hatte ich viele Beziehungen mit Männern. Im März 1963, kurz bevor ich erfuhr, dass ich einen Platz am Institut für Europäische Studien in Wien bekommen hatte, hatte ich mein Coming-out bereits hinter mir." (S.205)

In Wien lebt Billy auch mit einer Frau zusammen und lernt den Literaturprofessor und Lyriker Larry kennen, auch er wird ein wichtiger Freund in den nächsten Jahrzehnten, die im Zeichen der Krankheit AIDS stehen, an der viele Weggefährten Billys sterben.
Am Ende der Handlung kehrt er nach First Sister zurück, das sich zumindest den Anschein gibt, toleranter geworden zu sein - inzwischen gibt es "Gruppen für lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Kids" (S.659) - und schließt die offenen Kapitel seines Lebens.


Bewertung
Dies ist mein vierter Roman von John Irving. Nachdem ich vor langer Zeit "Gottes Werk und Teufels Beitrag" gelesen habe, liegen "Die vierte Hand" und "Straße der Wunder" noch nicht so lange zurück.
Mich hat er gepackt - die Figuren sind schräg, anders, besonders und immer liegt den Romanen ein gesellschaftlich brisantes Thema zugrunde.

In diesem Roman ist es der Umgang mit Bi- und Homosexualität, mit Transsexuellen oder wie man heute sagt, Transgender. Die Hauptfigur selbst ist bisexuell mit einer Vorliebe für Männer, die wie Frauen aussehen, sexuell jedoch noch Männer sind. Damit sitzt Billy zwischen allen Stühlen.

"In dieser bitterkalten Nacht im Februar 1978 in New York mit knapp sechsunddreißig, war mir bereits klar: Meine Bisexualität bedeutete, dass Heterofrauen mich für noch unzuverlässiger als den typischen Heteromann hielten, während schwule Männer mir (aus den gleichen Gründen) auch nie ganz trauten." (S.496)

Viele Strategien werden angewandt, um die

"weitestverbreiteten Heimsuchungen mit der Wurzel auszurotten. [...] ein unangebrachtes erotisches Hingezogensein zu anderen Jungen oder Männern." (S.47)

Billys Mutter greift zu Geheimniskrämerei und zu offenen Verboten, Kittredges Mutter verführt ihren Sohn, um seine Vorliebe für das eigene Geschlecht zu beenden, die Betroffenen werden Ausgestoßene und müssen Beschimpfungen und Anfeindungen über sich ergehen lassen.

Der Roman plädiert offen für Toleranz - gegenüber all jenen, deren Sexualität von der sogenannten Normalität abweicht.

"Mein lieber Junge, bitte stecke mich nicht in eine Schublade. Ordne mich nirgends ein, bevor du mich überhaupt kennst", hatte Miss Frost zu mir gesagt; ich habe es nie vergessen. (S.722)

Gleichzeitig bietet "In einer Person" eine Kulturgeschichte der Homosexualität von den 1940er bis heute. Im letzten Drittel des Romans bestimmt vor allem die Konfrontation mit der Krankheit AIDS Billy Leben, da viele Weggefährten daran sterben.
Am Ende kehrt Billy nach Hause zurück und wird selbst Lehrer - in einer toleranten Schule, in der sogar offen ein Junge den Geschlechterwandel vollzieht. Das heißt jedoch nicht, dass die Anfeindungen und Vorurteile vollständig verschwunden sind oder jemals verschwinden werden.

Die Suche nach der eigenen Identität im binären Geschlechtermodell ist hoch aktuell. In der Serie "Billions" spielt Asia Kate Dillon zum ersten Mal eine Figur, die sich dem binären Geschlechtermodell verweigert, weder er noch sie noch es ist.

Auf Twitter sagt Dillon über sich selbst:
"My sex ist Female. My gender ist identity is Non-binary. Sex ist between legs. Identitiy ist between ears. (17:39 - 10. Februar 2017)

Erneut ein Roman von John Irving, der mich trotz seiner recht drastischen Sprache, überzeugen kann, der sich flüssig liest und trotz seines Umfangs nie langweilig wird - eine klare Leseempfehlung.