Mittwoch, 10. Juli 2024

Tom Rachmann: Die Hochstapler

Leserunde auf whatchaReadin

Ein grandioser Roman, der das Schreiben und die Schriftstellerei thematisiert, mit Fiktion und Realität spielt und der nebenbei zeitaktuelle Themen, u.a. die Pandemie, unter die Lupe nimmt.

Zu Beginn - ein Inhaltsverzeichnis, das darauf hindeutet, dass wir mehrere kleinere Geschichten lesen werden. "Die Autorin" macht den Anfang und beendet den Raum, dazwischen finden sich Kapitel über den Bruder, die Tochter, die Freundin der Autorin, aber über Menschen, die ihr zufällig begegnet sind.
Zwischen den einzelnen Kapiteln oder Geschichten stehen Tagebucheinträge der fiktiven Autorin Dora Frenhofer, in denen sie ihren Erfolg als Schriftstellerin, ihren Schreibprozess, ihre zunehmende Demenz und auch die Situation während der Corona-Pandemie reflektiert. Sie nimmt uns beim Erstellen ihres letzten Manuskripts mit und liefert uns einen Einblick in ihr "reales" Leben. 

Das erste Kapitel beschreibt die Autorin selbst, bzw. die literarische Figur Dora Frenhofer in ihrer beginnenden Demenz, was an den Schreibfehlern deutlich wird und an dem eingebildeten "Senilitätsassistenten", ihrem Lebensgefährten Barry, der offenkundig nicht wirklich existiert.

"Niemand ist oben oder sonst wo im Haus. Nur Dora, die über eine Romanfigur brütet, diesen Ehemann Barry (...) den sie in eine Geschichte eingebaut hat, die, wie die meisten ihrer Geschichten in letzter Zeit, keinen richtigen Sinn ergeben." (S.18)

Im ersten Tagebuch beleuchtet sie die Frage, ob sie den Schriftstellerinnenberuf aufgeben kann und den Schreibprozess selbst. Der Teil ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Interessant ist die Idee, dass der letzte Satz des Tagebuchs den Beginn des nächsten Kapitels darstellt, in dem es um den Bruder der Autorin geht, der 1974 von der Autorin gedrängt wurde, nach Indien zu reisen, um etwas zu erleben.

Großartig schildert Dora Frenhofer das, was ihrem Bruder in Indien geschehen sein könnte und flicht nebenbei die Problematik der wachsenden Bevölkerung anhand der Geschichte einer weiteren Person ein. Beide treffen aufeinander- gut erzählt und teilweise komisch und tragisch. Genau wie das Kapitel über ihre Tochter Beck Frenhofer, die Texte für Comedians verfasst, ohne dass dies jemand wissen darf. Selbst auf der Bühne gescheitert, ist dies ihr Talent. Für andere Gags zu schreiben.

"Sie hat seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden und ist in der Öffentlichkeit unbekannt. Trotzdem ist Beck Frenhofer eine der einflussreichsten Comedians ihrer Generation." (S.87)

In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die Künstlerszene aufgezeigt, aber auch aktuelle Themen wie Cancel-Culture, Blackfacing und wie "grottenschlechtes" Material viral gehen kann. Wie eine Reaktion eine Gegenreaktion erzeugt.
Stilistisch unterscheidet sich dieses Kapitel extrem vom vorherigen - vom Vokabular, Satzbau, stilistische Mittel. Rachmann tritt meines Erachtens genau den Ton der Szene. Beck glaubt kurzfristig, sie könne eine eigene Karriere beginnen, endlich auf die Bühne treten, doch sie bleibt Regisseurin im Hintergrund.

"Der Käfig ist offen. Das Tier bleibt, wo es ist." (S.117)

Im Tagebuch erinnert sich Dora daran, wie sie Becky das Lesen beigebracht hat.
Hier taucht der Titel explizit zum ersten Mal auf, da Dora steht Angst hatte, literarisch Gebildete könnten sie als "Hochstaplerin" entlarven. (S.122)

Jedes Kapitel hat seinen eigenen Sound, einen für die Figur passenden Stil. Jede Geschichte für sich wirkt sehr realistisch, alle Protagonisten sind authentisch, glaubwürdig gezeichnet. Die Kritik bzw. die Beobachtungen über gesellschaftliche Phänomene und Probleme werden so in den entsprechenden Kontext, in die Geschichte der einzelnen Figuren eingebettet, dass sie "by the way" daherkommen. Keine Belehrung, kein Pädagogisieren, nur Beobachtungen, so dass wir als Leserinnen und Leser uns selbst eine Meinung dazu bilden können.

Hat man das letzte Kapitel gelesen, stellen sich folgende Fragen:
Welcher Teil ist Fiktion der Autorin Frenhof, wo begegnet uns die wahre Dora Frenhofer? In den Tagebucheinträgen, im letzten Kapitel? Welche Figuren sind fiktiv, welche haben als Freunde der Autorin wirklich existiert?
Das Grandiose ist jedoch, dass diese Fragen letztlich nicht wichtig sind, sondern zeigen, welche Wirkung Fiktion entfalten kann. Wie gebannt wir die Geschichten der herausragend gestalteten, authentischen Figuren verfolgen. Jede einzelne Figur und das, was ihr widerfahren ist, könnte es real sein und ist doch fiktiv - im doppelten Sinne ;)

Ein brillanter, intelligenter Roman, ein Lesehighlight in diesem Jahr!

Dienstag, 9. Juli 2024

Lukas Hartmann: Martha und die Ihren

Leserunde auf whatchaReadin

Lukas Hartmann erzählt in seinem neuen Roman die Geschichte seiner Großmutter väterlicherseits: "Martha und die (der) Ihren."

Zunächst steht die junge Martha im Mittelpunkt des Geschehens. Da ihr Vater früh verstirbt und ihre Mutter die Familie mit den 6 Kindern nicht alleine ernähren kann, werden diese auf andere Bauernhöfe verteilt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das in der Schweiz, die Geschichte spielt in einem kleinen Dorf in der Nähe Berns, übliche Praxis. Martha wird ein sogenanntes Verdingkind - eine Schmach, die ihr ganzes Leben bestimmt.

Sie kommt zu einer Familie mit 5 Kindern und muss sich hintenan stellen - eine winzige Schlafkammer, kaum genug zu essen, zudem muss sie auf Severin aufpassen. Wahrscheinlich leidet er an Trisomie 21 und überfordert Martha, die nicht weiß, wie sie mit ihm umgehen muss. Eigentlich eine Zumutung. Gegen alle Widerstände setzt sie sich durch und beginnt in der Spinnerei zu arbeiten - ist fleißig und gönnt sich keine Pausen. Ihre größte Angst ist wieder arm zu werden, sie setzt alles daran, um zu etwas Wohlstand zu gelangen.

Als sie selbst Mutter wird, leidet der kleine Toni unter ihrem Arbeitseifer. Toni ist der Vater des Autors, wobei dieser die Namen seiner Familie bis auf "Martha" geändert hat, wie er im Nachwort erklärt. Statt Toni Liebe und Zuneigung zu schenken, muss Martha für ihre Familie sorgen, da ihr Mann erkrankt ist, so dass sie die Schusterarbeiten nebst Haushalt mit übernehmen muss.

In ihrer Geschichte spiegelt sich vor allem auch die Last wider, die auf den Frauen gelegen hat. Martha durfte nur heimlich arbeiten, da die Bauern Schuhe, geflickt von einer Frau, die das Handwerk nicht gelernt hat, nicht angenommen hätten. Hinzu kommt die schwierige politische Situation, im Rest Europas herrscht Krieg und auch die neutrale Schweiz ist von der Lebensmittelknappheit betroffen. 

Der Preis, die Armut zu besiegen, bringt auf Seiten Marthas zwar unbedingten Arbeitseifer, Fleiß und Geschick mit sich, allerdings auch ein Zurückstecken aller persönlichen Wünsche und Träume. Es ist unglaublich, was diese Frau alles geleistet hat - gleichzeitig ist sie nicht in der Lage, ihren Kindern Liebe oder auch nur Wärme und Lob zu schenken. Sie selbst hat es nicht erfahren, wie soll sie es weitergeben.

Dieser Mangel bestimmt auch Tonis Leben, der ebenfalls unfähig ist, seinen Sohn Bastian (= Lukas Hartmann) zu loben, ihm seine Liebe zu zeigen. Auch Toni schuftet, um finanziellen Wohlstand zu erreichen, ohne seine eigenen Bedürfnisse und Interessen zu berücksichtigen. Erst Bastian kann sich aus dieser Spirale befreien.

Der Roman zeigt sehr deutlich, wie sich Marthas Lebensumstände auf die nächste und auch noch die übernächste Generation auswirken. Zwar hätten ohne ihren Arbeitswillen ihre Kinder vielleicht das gleiche Schicksal erlitten wie sie selbst, doch die psychischen Auswirkungen der mangelnden Aufmerksamkeit begleiten sie lebenslang und sie geben diese Erfahrungen weiter.

Sehr authentische Figuren, allerdings bleiben sie distanziert. Der Autor wählt eine sehr nüchterne, sachliche Sprache und rafft auch große zeitliche Abschnitte, um alle drei Generationen darstellen zu können. So habe ich den Roman mit Interesse gelesen, ohne wirklich in die Geschehnisse emotional involviert zu sein.

Die Frage, inwiefern das Schicksal meiner Vorfahren mein eigenes bestimmt, beantwortet Hartmann für seine Familie väterlicherseits allerdings sehr glaubwürdig.

Donnerstag, 25. April 2024

Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Ändert sich die Zukunft, wenn man die Vergangenheit beeinflusst?

Leserunde auf whatchaReadin

Ein ungewöhnliches Setting hat sich Scott Alexander Howard einfallen lassen. Die 16-jährige Protagonistin Odile, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird, lebt in einem Tal, das von Bergen und einem See begrenzt wird. Jenseits der Berge im Osten liegt das gleiche Tal, allerdings 20 Jahre in der Zukunft, dahinter eine weiteres Tal, wieder 20 Jahre in der Zeit voran. Wie viele von den Tälern es gibt, bleibt offen. Im Westen hingegen liegt die Vergangenheit - das Tal vor 20 Jahren, sowie weitere Täler, jeweils 20 Jahre in der Zeit zurück.

Die schüchterne Außenseiterin Odile, die in der Schule keinen Anschluss hat, bewirbt sich auf Bestreben ihrer Mutter - ihr Vater ist gestorben, als sie 4 Jahre alt war - für eine Ausbildung im Conseil. Dieses regelt die Besuche zwischen den Tälern. Menschen, die jemanden verloren haben, den sie sehr geliebt haben, können unter bestimmten Umständen diesen in der Vergangenheit besuchen, oder wenn Menschen wissen, dass sie sterben, einen geliebten Menschen in der Zukunft sehen. Diese Besuche unterliegen strengen Auflagen und müssen von eben jenem Conseil entschieden und überwacht werden.
Odile muss im Auswahlverfahren auf die Frage antworten, in welches Tal sie reisen wolle - nach Osten oder Westen.
Diese Frage wirft viele Gedanken auf:
Würde ich wirklich in die Vergangenheit reisen wollen, um einen geliebten Menschen noch einmal sehen zu dürfen? Wenn ich weder mit ihm sprechen darf noch die Zeit verändern darf? Würde es mich nicht allzu sehr belasten und die Trauer noch verstärken?

Odiles Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als sie zufällig vor der Schule Besucher aus einem anderen Tal trotz deren Masken erkennt. Es sind die Eltern Edmes, eines Mitschülers, der sich für Odile in einer Situation eingesetzt hat, in der sie gedemütigt wurde, und für den sie zunehmend Gefühle entwickelt. Der Besuch kann nur bedeuten, dass Edme bald sterben muss.
Bis dahin wähnt man sich in einem klassischen Jugendbuch und die Vermutung entsteht, dass sie sich ernsthaft in Edme verlieben und in ein Dilemma geraten wird. Soll sie ihm verraten, dass er sterben wird? Soll sie ihn warnen? Und was wird auch ihrer Bewerbung für das Conseil, wenn sie solch eine Handlung vollzieht.

Im Conseil wird während des Bewerbungsverfahrens darüber diskutiert, ob in dem Moment, in dem ich die Vergangenheit ändere, auch die Zukunft für alle eine andere wird. Die Gefahr besteht, dass man die Zukunft so beeinflusst, dass bestimmte Dinge bzw. Menschen nicht nur verschwinden, sondern es so sein wird, dass sie nie existiert haben.

"Was es nie gegeben hat, hinterlässt keine Spur. Keine schwache Erinnerung, kein störendes Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kein Erschaudern, nichts." (S.125)

Eine Veränderung würde alle betreffen würde, wie Wellen würde sich die Veränderung durch das ganze Tal ziehen.
Sehr kompliziert, die Sache mit der Zeit, wenn man nicht Einstein ist  - aber auch sehr faszinierend. In der Leserunde wurde intensiv über das Paradox der Zeitreisen diskutiert.
Eine Frage haben wir uns auch gestellt: Was ist mit der genetischen Vielfalt im Tal, wenn es nur diesen begrenzten Raum gibt?

Im 2.Teil des Romans wird die Handlung deutlich düsterer und verliert zeitweise den Jugendbuchcharakter. Über das Ende wurde in der Leserunde heftig diskutiert. Dieses möchte ich aber den zukünftigen Leser:innen des Romans nicht vorwegnehmen. Es gab Stimmen pro und contra und auch andere mögliche Alternativen für den Schluss kamen zur Sprache.
Mir persönlich hat das Ende gefallen und ich fand das Zeitreise-Gedanken-Experiment sehr spannend und interessant, es führt uns selbst zu der Frage "was wäre gewesen wenn "- allerdings können wir (noch) nicht in der Zeit zurückreisen, um eventuelle Fehler wieder gut zu machen oder unsere Zukunft zu verändern.
Auch sprachlich hat mich der Roman überzeugt, dem Autor gelingt es die jeweilige Stimmung der Situation einzufangen. Eine schöne Passagen, in denen Edme für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium übt und Odile ihm zuhört:

"Wie ein Derwisch sprang Edme vor den Bäumen umher; seine Geige zerriss die Nacht in schmale Bänder. als er fertig war, herrschte dröhnende Stille." (S.152)

Ein lesenswerter Debütroman, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.


Donnerstag, 21. März 2024

Dana von Suffrin: Nochmal von vorn

Leserunde auf WhatchaReadin


Ich hatte etwas Probleme in diese Geschichte hineinzufinden, da die Zeitebenen hin- und herspringen. Der Roman beginnt recht humorvoll  mit dem Treffen verschiedener Außenminister im Jahr 1940, die über die Region Siebenbürgen entscheiden - ein Treffen, das tatsächlich stattgefunden hat.
Die Region, in der die Großeltern der Protagonistin leben, wird Ungarn zugesprochen. 
Im 1.Kapitel erfährt Rosa in ihrem Viererbüro, dass ihr Vater im Krankenhaus gestorben ist. Danach ist sie "in dem Zustand (...), den (sie sich) mir immer gewünscht ha(t): an gar nichts denkend, vollkommen leer." (S.13)

Während sie an ihre ältere Schwester Nadja denkt, wird sie wütend, da diese sich der Familie regelrecht entzogen hat, sie sei verantwortungslos, aber nicht abgestumpft. Nachdem sie im Krankenhaus war, fährt Rosa in die Wohnung ihres Vaters, der in einem Mietshaus gewohnt hat, in dem auch viele Studenten leben, und offensichtlich ein komischer Kauz gewesen ist:
"Mein Vater muss den Nachbarn als Sonderling gegolten haben, als alter, dürrer Typ, der kein >>ch<< ansprechen konnte (und der, wenn er in Wut geriet, ständig alle Buchstaben verwechselte, worüber wir früher in einer grenzenlose, unsinnige Heiterkeit verfallen waren)" (S.22); "Er lebte wie ein Schatten" (S.23).

Insgesamt entsteht der Eindruck einer dysfunktionalen Familie, die rebellische Schwester Nadja, der schwermütige Vater und die Mutter, die ihre Familie verlassen hat, und irgendwo dazwischen steht Rosa.
Ihr jüdischer Vater, der in Israel groß geworden ist, ist zwar Chemiker, seine Abschlüsse wurden in Deutschland jedoch nicht anerkannt, so dass er als Laborant arbeiten muss und die Familie nur wenig Geld zur Verfügung hat. Sein Bruder Arie ist in Israel geblieben, Rosas Oma Zsazsa ist in einem Altenheim in Tel Aviv untergebracht.
Die Erinnerungen Rosas sind sehr assoziativ - erzählt wird im inneren Monolog, teilweise mit langen, verschachtelten Sätzen. Ausgehend vom Tod denkt Rosa an alles Mögliche zurück. Wie ihre Eltern sich kennengelernt haben, wie chaotisch das Familienleben verlaufen ist. In ihrer Erinnerung streiten immer alle miteinander. Die Mutter, die aus Bayern stammt und ihr Studium nicht abgeschlossen hat, ist unzufrieden mit ihrem Leben als Mutter und Hausfrau. Es bleibt die Frage, warum die Eltern geheiratet haben, wenn sie sich doch offenkundig nicht mögen. Konsequenterweise verlässt Veronika die Familie, kurz bevor auch Nadja auszieht und Rosa mit dem Vater allein lässt. Obwohl Rosa positive Kindheitserinnerungen an ihre Schwester hat, denkt sie in der Gegenwart stets negativ an Nadja.
Nebenbei werden auch geschichtliche Ereignisse eingeflochten - der Jom Kippur Krieg in Israel und das Ende der deutschen Besatzung in Siebenbürgen, das den jüdischen Großeltern die Freiheit zurückgebracht hat.
Im Versuch den Inhalt zusammenzufassen, wird wieder deutlich, wie zerstückelt alles erzählt wird und wie es zunehmend schwieriger wird, das Puzzle vollständig zusammenzusetzen. Hinzu kommt, dass vorwiegend Banales erzählt wird, Nebensächlichkeiten, die in jeder Familie vorkommen können. Das einzig Besondere scheint zu sein, dass Rosa in einer halbjüdischen Familie aufgewachsen, einer Familie, deren jüdischer Teil von der Shoa geprägt ist. Es gelingt der Autorin jedoch nicht, die Bedeutung der Shoa auch für die kommenden Generationen greifbar zu machen.
Trotz der teilweise recht ansprechenden Sprache hat mich der Roman v.a. im Mittelteil gelangweilt, im letzten Teil steigert er sich dadurch wieder, dass die Schwestern sich erneut begegnen und einige Fragen geklärt werden.
Insgesamt hat mich der Roman jedoch nicht überzeugt, so dass ich ihn auch nicht weiter empfehlen kann.



Samstag, 2. März 2024

Daniel Mason: Oben in den Wäldern

Leserunde auf whatchaReadin

Dieser ungewöhnliche Roman von Daniel Mason hat mich zu Beginn völlig bezaubert, da ein Ort, ein Haus, eine Landschaft im Mittelpunkt stehen.
Mit rasantem Tempo beginnt die Story, zwei Liebende fliehen wegen ihrer ungebührlichen Liebe aus einer Kolonie in die Berge  und finden einen Ort, an dem sie bleiben möchten. Die Handlung beginnt Mitte des 18.Jahrhunderts, spielt in den Wäldern von Massachutsetts.
Dann folgt ein Brief, den eine Frau aus eben jener Kolonie geschrieben hat, die die Liebenden verlassen haben. Sie wird gemeinsam mit ihrem Säugling von Indianern verschleppt. (Der Begriff wird im Roman verwendet, da er die entsprechende Epoche charakterisiert. Darauf wird in einer editorischen Notiz hingewiesen, S.429).
Diese Frau gelangt zu eben jenem ersten Haus und trifft eine inzwischen alte Frau vor, die sich um sie und ihr Baby kümmert. 
Um noch mehr Blutvergießen zu verhindern, töten sie drei weiße Soldaten, die vorhaben, ein Dorf der Ureinwohner anzugreifen. Dabei stirbt die alte Frau (die Liebende) und die andere verlässt den Ort mit ihrem Kind, nachdem sie ihre Geschichte, also den Todesengel-Brief, in einer Bibel niedergeschrieben hat, die am Ende des Romans noch einmal eine Rolle spielen wird.


Der Verwesungsprozess der drei Soldatenleichen wird sehr plastisch beschrieben - aus dem "Herzen" des einen Soldaten wächst ein Apfelbaum. Dieser Apfelbaum hat wiederum einen ehemaligen Soldaten bewogen genau dort eine Apfelplantage zu gründen. Charles Osgood macht das Haus in den Bergen und auch den Garten zu einer Art Paradies, auf das immer wieder Bezug genommen wird. In einem Brief, den er seinen beiden Mädchen schreibt, erfahren wir, wie es ihn an jenen Ort verschlagen hat und wie das neue Haus entstanden ist. Im folgenden Kapitel wird aus der Sicht seiner Tochter Alice, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Mary die Plantage übernommen hat, erzählt, wie sie in dem Haus aufgewachsen sind, wie ihr Leben verläuft und auch, wie es zu Ende geht.
Dieser Wechsel aus traditionell erzählten Passagen aus jeweils einer personalen Perspektive, aus Briefen, aus Balladen, die jeweils kleine Puzzleteile liefern, um die ganze Geschichte zusammensetzen zu können und auch Sprichwörtern, die kommentiert werden sowie Bildern ist sehr ungewöhnlich und originell. 
Neben den unterschiedlichen Genres hat auch jeder Abschnitt einen der jeweiligen Epoche angepassten Stil - insofern ist die Aussage auf dem Buchrücken, es sei ein "sprachmächtiger spannender Roman" zutreffend.

Das nächste Kapitel besteht aus Briefen von William Henry Teale (Maler) an Erasmus Nash (Autor). Obwohl beide sehr authentisch geschildert werden, sind sie (leider) fiktiv.
Teale hat das Haus der Osgoods von einem ihrer Nachfahren gekauft, verändert und vergrößert, das ursprüngliche wird sogar verschoben, aber nichts abgerissen:

"Hier draußen reißt sowieso niemals jemand etwas ab - man fügt immer nur hinzu, agglutiniert, Haus an Haus, Schuppen an Schuppen, wie ein monströses deutsches Substantiv." (S.167)

In dieser Aussage beschreibt Mason den Aufbau seines Romans. Schicht für Schicht entsteht das Haus und wir lesen die Geschichten, die zu den Veränderungen geführt haben. Es wird immer wieder etwas hinzugefügt. Gleichzeitig knüpft er immer wieder an vorangegangene Kapitel an und offene Fragen klären sich. Dadurch wird deutlich, dass alles miteinander verwoben ist. Sogar die Toten bleiben, Geister, die dem Haus und der Natur verbunden bleiben. Sie verleihen dem Roman das Märchenhafte. Aber wer weiß schon, was nach dem Tod geschieht?

Nicht nur das Haus unterliegt dem Wandel der Zeit, sondern auch die Natur verändert sich. In Zwischenkapiteln wird dargestellt, wie auch Kleinstlebewesen vieles verändern können.

Die Handlung erstreckt sich bis in die Gegenwart und sogar in die Zukunft hinein. Was wird bleiben, von dem Haus, der Umgebung, den Menschen, die es bewohnt haben?

Ein faszinierender Roman, der mehrere Genres und Stile gekonnt zu einem organischen Ganzen vereint und darüber hinaus sehr unterhaltsam ist.

Für mich ein Lesevergnügen!

Freitag, 9. Februar 2024

Markus Gasser: Lil

Die Rache ist mein!
Leserunde auf whatchaReadin

Am Anfang des Romans war ich sehr verwirrt, sowohl Klappentext als auch Buchrücken und nicht zuletzt das Cover suggerieren, dass es sich bei Lillian Cutting um eine historische Persönlichkeit handelt. Nach erfolglosem Googeln habe ich die
Ankündigung genauer gelesen und mir ist bewusst geworden, dass sie eher exemplarisch für eine erfolgreiche Frau in einer männerdominierten Welt steht, die von ihrem Sohn schamlos auf Seite geräumt wird.

Die Handlung beginnt mit der Nachfahrin Lils – Sarah, die eine Hirntumor-Operation und eine Strahlentherapie hinter sich hat und der es so miserabel geht, dass sie mit Selbstmordgedanken spielt. Doch dann meldet sich ihr Chefredakteur freudig bei ihr, dass ein Brief von Lil Cutting gefunden wurde, der sozusagen den Ausschlag dafür gibt, dass Sarah wieder zum Leben erwacht und beginnt die Geschichte ihrer Urahnin niederzuschreiben.

„Aber dieser eine Brief Lil Cuttings an Colby Sandberg, ein schief beschriebenes Blatt voller Angst und Zorn, war das letzte, erschütternde Dokument, das mir zu dieser Geschichte gefehlt hatte. Jetzt bin ich sie uns schuldig.“ (S.10)

Und so beginnt Sarah im ständigen Dialog mit ihrer Hündin Miss Brontë die unglaubliche Geschichte Lils niederzuschreiben.
Die Gespräche mit der Hündin markieren die Gegenwart, die Nachfragen Miss Brontës erhellen die Geschichte und bringen gleichzeitig einen ironischen Ton in die Handlung – ich finde diese Idee wundervoll.

Wer war Lillian Cutting?
„Allgemein bekannt ist, dass die Millionenerbin Lillian Cutting um 1880 mit ihren exzentrischen Investitionen ganz New York in besorgtes Erstaunen versetzte. Sie vermehrte ihr Vermögen nach einer Logik, die den Experten verrückt und selbst dem Börsenprofi John D. Rockefeller wie Schwarze Magie vorkam.“ (S.12)
So erfolgreich darf eine Frau nicht sein, denn sie beleidigt „jeden Sinn für Proportion, Anstand, Geschmack“, sie maßt sich ein Leben an, „das ihr als Frau nicht zustand.“ (S.12)

Im Mittelpunkt dieses Romans voller Esprit steht für mich das Bestreben, die Geschichte einer Frau zu erzählen, die es gewagt hat, erfolgreicher als die Männer zu sein, die ihren eigenen Weg geht und sich nicht um Konventionen schert - und das muss, nach Meinung der damaligen Gesellschaft bestraft werden, weil sie sich nicht anpassen will.

Ihrem Sohn, der nach dem Tod des Vaters an das ganze Erbe herankommen möchte, gelingt es, sie mit üblen Tricks in der Nervenheilanstalt „Hops Island“ unterzubringen, in der sie unter Morphium gesetzt wird und dem behandelnden Doktor Matthew Fairwell ausgeliefert ist, ein besonders perfider Vertreter eines „Psychiaters“, dessen unmenschliche Untersuchungsmethoden leider in dieser Zeit üblich sind. Da helfen Miss Brontës Einlassungen und der saloppe Ton, den Sarah anschlägt, sonst könnte man das kaum ertragen.

Die Anwältin Colby Sandberg, die als gleichberechtigte Partnerin mit ihrem Mann zusammenarbeitet und ebenfalls von der feinen Gesellschaft New Yorks mit Verachtung gestraft wird, wird auf den Fall Lillian Cutting aufmerksam und besucht sie im Sanatorium. Sofort ahnt sie, dass Lil gegen ihren Willen festgesetzt wird. Was folgt ist eine märchenhafte anmutende Geschichte, in der Lil letztlich ihrem Namen "Lil the Kill" alle Ehre macht – doch wie es dazu kommt, möchte ich nicht vorwegnehmen, denn die Lektüre macht unglaublich viel Spaß. Vieles, was man über die Nervenheilanstalt liest, mag man allerdings nicht glauben und doch ist es wissenschaftlich belegt, ebenso das Verhalten der sogenannten höheren Gesellschaft gegenüber einer erfolgreichen Frau.
Warum Sarah unbedingt die Geschichte ihrer Urahnin erzählen möchte, erschließt sich am Ende des Romans und auch das ist unglaublich, aber nach verlässlicher Aussage des Autors, der die Leserunde mit seinen Kommentaren bereichert hat, tatsächlich so geschehen.
Für mich ein Roman, der unterhält, aber auch erschüttert - so soll es sein.
Klare Leseempfehlung!

Sonntag, 21. Januar 2024

Iris Wolff: Lichtungen


"Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen.“ (S.76)

Der Protagonist Lev ist zu Beginn der Handlung ca. Mitte-Ende 30 und arbeitet in einem privatisierten Sägewerk in Rumänien. Geboren im kommunistischen Vielvölkerstaat während der Diktatur Ceaușescus, stellt er sich als Kind die Frage "was er sei. (...) Bei einer siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach." (S.232)
Für Iris Wolff, die selbst mit ihrer Familie 1986 Siebenbürgen Richtung Deutschland verlassen hat, ist die Frage der Zugehörigkeit ein zentrales Thema des Romans.
Die Unsicherheit, welche Identität er hat, bestimmt Levs Leben und weckt in ihm den Wunsch nach Konstanz und Sicherheit. Auch ein tragische Unfall in seiner Kindheit sowie der frühe Verlust seines Vaters führen zu diesem Wunsch und prägen entscheidend sein Leben.

"Lev hatte kaum Erinnerungen an seinen Vater, der bei einem Bergrutsch verunglückte, als er fünf Jahre alt gewesen war." (S.240)

Diese wenigen Erinnerungen sind wie "Lichtungen", immer wieder taucht dieses Motiv des Titels in den einzelnen Kapiteln auf, die die prägenden Situationen aus Levs Leben, an die er sich erinnert, erzählen.

"Jeder Augenblick (...) enthielt alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn." (S.34)

Als Leserinnen und Leser steigen wir mit einem Neubeginn ein.

„Dieselgeruch, Lautsprecherdurchsagen, vom Wind zerhackt; er war so stark, dass sie sich schräg gegen ihn lehnen konnten, mit aufgeblähten Shirts, flatternden Hosen, Brausen in den Ohren, im Kopf, im Körper. Noch Minuten später, im Inneren der Fähre, war dieses Brausen zu spüren, ein Nachbeben, Nachklang, und Lev dachte unwillkürlich daran, wie Sägeblätter in eigenwillig-summendem Takt nachschwangen, wie der Boden mit einem Mal ruhig wurde, und das Sägemehl, das über der Maschine schwebte, herabfiel – leicht verzögert, verwundert, von der Schwerkraft überrascht.“ (S.9)

Wir erfahren, dass Kato, Levs Freundin seit Kindertagen, die Rumänien nach der Öffnung der Grenzen verlassen hat und als Straßenkünstlerin ihr Geld verdient, ihn zurück nach Rumänien begleiten wird.

„Wir reisen gemeinsam zurück?“ (…) „Ja“, sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment.“ (S.11)

Auch wir reisen zurück, denn Iris Wolff erzählt Levs Leben bis zu jenem Moment rückwärts in neun Kapiteln. Dabei ist jedem Kapitel ein passendes Zitat vorangestellt, das im Zusammenhang mit der Handlung steht und diese sozusagen beleuchtet.

Aufgrund der Erzählweise liegt der Fokus in Bezug auf Kato und Lev, wie es zu dem Moment kommt, da sie mit ihm zurückkehren möchte. Warum ist sie ohne ihn in den Westen? Wie ist es dazu gekommen, dass sie ihm geschrieben hat, er solle kommen. Warum hat er sie nicht vorher besucht?
Sukzessive tauchen wir in Levs Vergangenheit ein, aus seiner personalen Perspektive wird seine Geschichte erzählt, die mit Katos eng verknüpft ist. 
Schritt für Schritt entblättert sich sein Leben vor uns, bis wir in seiner seiner frühen Kindheit angelangen. Obwohl man weiß, dass es zwischen Lev und Kato eine Art "Happy End" gibt, liest man doch mit Spannung, entdeckt die verschiedenen Figuren in Levs Leben, welche Bedeutung sie für ihn haben und welchen Einfluss sie auf ihn ausüben. Manches bleibt vage und wird nicht erklärt.

„In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf."

Insgesamt ein wunderbarer Roman, der von einer besonderen Freundschaft erzählt, von der Frage nach der eigenen Identität und danach, was uns im Leben prägt - und das in einer außergewöhnlichen metaphorischen Sprache.  Iris Wolff verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe, lässt mit ihren Worten sofort Bilder im Kopf entstehen, die es mir leicht machen in diese Geschichte einzutauchen.
Auch das liebevoll gestaltete Cover sorgt dafür, dass man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte. 

Leserunde auf whatchaReadin

Sonntag, 7. Januar 2024

Bernhard Schlink: Das späte Leben

 Leserunde auf whatchaReadin

Spät wird Martin, Juraprofessor, Vater - erst mit 70 Jahren. Seine Frau Ulla ist Mitte 40.

"Die zwölf Jahre seit der Hochzeit waren gute Jahre. Sie kauften ein kleines Haus mit Garten am Rand der Stadt. Ulla schloss das Studium ab, verlegte sich ganz aufs Malen, fand ein Atelier und eine Galerie, in der sie ausstellte und immer wieder aushalf, und bekam vor sechs Jahren David. Er lehrte bis siebzig an der Universität und schrieb danach weiter, wandte aber immer mehr Zeit an David und an den Garten und ans Kochen. Er nahm das Leben mit Ulla, dem Sohn und den verbliebenen Tätigkeiten als Geschenk, dem man nicht ins Maul schaut." (S.24)

Doch jetzt ist diese Zeit vorüber, denn Martin leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs - unheilbar. Ihm bleibt ohne Therapie noch maximal noch ein halbes Jahr
Ein Kritikpunkt in der Leserunde war die mangelhafte Recherche und infolgedessen die fehlende Expertise im medizinischen Bereich. Von der Tatsache, dass alle Entscheidungen vom Hausarzt gefällt werden, Therapiemöglichkeiten nur unzureichend diskutiert werden bis hin zur fragwürdigen Medikation bei Krebs - all das interessiert Schlink offenkundig nicht, zerstört jedoch die Glaubwürdigkeit der Geschichte.
Ihm geht es ausschließlich darum, wie ein alter Mensch reagiert, im Angesicht dessen, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Was soll er seinem Sohn mit auf den Weg geben, was möchte er hinterlassen? Kann er seinen Lebensweg überhaupt noch beeinflussen? Oder muss er das Leben loslassen?
Schade, dass er das Klischee des alten Mannes mit jüngerer Frau bedient hat. Kann man nicht auch das Bedürfnis haben, seinen Enkeln etwas hinterlassen zu wollen?

Die Reaktion seiner jüngeren Frau auf seine Diagnose mutet seltsam kühl und unempathisch an, sofort gerät sie ins Tun:
"Was willst du jetzt machen?" (S.26)
Sie wird als pragmatisch, nüchterne Frau beschrieben, die ohne Vater aufgewachsen ist. Er habe die Familie verlassen, als sie noch sehr klein gewesen sei, berichtet Ulla Martin und betont gleichzeitig, dass sie keinen Vaterersatz gesucht hat. Trotzdem begibt sich Martin auf die Suche nach Ullas Vater? Ist es der Wunsch Gutes zu tun, noch ein letztes Mal Einfluss zunehmen oder ist es übergriffig, dies ohne ihr Wissen zu tun?

Ulla bringt Martin auf die Idee, David einen Brief zu schreiben, der wortwörtlich von Gott (und der Welt) handelt. Es geht um sein Verhältnis zur Religion, um die Gerechtigkeit der Liebe, um einen gerechten Gott.
Zunächst ist dieser Brief sehr unpersönlich, es scheint fast so, dass Schlink seine persönliche Meinung zu diesen Themen im Roman hinterlassen möchte.
Allerdings wird Martin bewusst, dass er mit dem Brief David auch eine Gewissheit mitgeben will:
"Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten für David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war. Er sollte sich jetzt als kleiner und später als großer Mensch nicht anstrengen müssen, um sich angenommen und aufgehoben zu wissen. Die Gewissheit, geliebt zu sein, sollte bei den Anstrengungen des Lebens beflügeln, nicht Belohnung für sie sein." (93f.)
Auch in seinem Handeln wird dieses Bestreben offensichtlich. Martin nutzt die Zeit mit seinem Sohn intensiv, er unternimmt eine Wanderung, legt gemeinsam mit ihm einen Komposthaufen an, kümmert sich um ihn, allerdings bereitet er David kaum auf seinen bevorstehenden Tod vor, auch Davids Mutter tut dies nicht.
Zugute halten muss man dem Protagonisten, dass er am Ende die gemeinsame Zeit am Meer ausklingen lässt, intensive Tage mit seiner Familie verbringt, das Leben laufen lässt. Und auch die Leser:innen werden auf den letzten Seiten etwas versöhnt. Das Ende Martins erspart uns der Autor glücklicherweise.

Während man Martins Verhalten, aus dessen personaler Perspektive die Handlung geschildert wird, teilweise nachvollziehen kann, ist Ullas Handlungsweise oft nicht verständlich. Ob es ihre Reaktionen auf Martins Brief, den sie wie selbstverständlich liest, noch seine Vorschläge in Bezug auf David noch ihre Verhaltensweisen außerhalb ihrer Familie sind, die Figur wirkt nicht authentisch und nicht in sich schlüssig.

Insgesamt fällt meine Bewertung für einen von mir sehr geschätzten Autor eher bescheiden aus. Der Roman liest sich gut - aber ist das ein Qualitätsmerkmal? Es sind sehr viele Wendungen, die ebenfalls in dieser Dichte unglaubwürdig sind.
Schlink hätte sich auf das Thema des herannahenden Todes  und den Fragen konzentrieren sollen, was bleibt von mir, was möchte ich hinterlassen, kann ich das Leben meiner Lieben noch lenken oder muss ich es loslassen. Wenn es in den Szenen und in Martins Gedanken darum geht, zeigt der Roman seine Stärke.