Dienstag, 22. Dezember 2020

Janet Lewis: Verhängnis

 - ein historischer Kriminalroman, der zur Zeit des Sonnenkönigs spielt.

Leserunde auf whatchaReadin

Janet Lewis, 1899 in Chicago geboren und eine Mitschülerin Ernest Hemingways, lehrte Literatur in Berkeley und Stanford, nachdem sie 1920 ein halbes Jahr in Paris verbracht hat. Sie veröffentlichte zwischen 1941 und 1959 drei historische Romane, die auf wahren Kriminalfällen beruhen:

"Die Frau, die liebte"; "Der Mann, der seinem Gewissen folgte" sowie "Verhängnis".

Im Gegensatz zu den ersten beiden Romanen ist dieser etwas ausufernder, historischer, enthält dadurch eine Vielzahl von Figuren und mehrere Handlungsstränge.

"Der Buchbinder Jean Larcher saß mit seiner Frau und seinem Sohn beim Abendessen. Es war Ostersonntag, der in diesem Jahr des Herrn, dem Jahr 1694, und dem einundfünfzigsten Jahr der Herrschaft Louis´ XIV., auf den elften April fiel." (9)

Jean Larcher ist dem Sonnenkönig loyal ergeben, ein Geizhals, der sein Geld ebenso verborgen hält wie seine Gefühle gegenüber seiner Frau und seinem Sohn Nicolas, der reisen möchte und dessen politischen Ansichten denen des Vaters entgegenstehen. Marianne Larcher überredet ihren Mann, Nicolas ziehen zu lassen, sollte sich ein Geselle für die Buchbinderei finden.

Dieser taucht in der Gestalt von Paul Damas auf, der aus Auxerre stammt und von der Frau seines Meisters verführt wurde. Sie hat die Affäre anschließend ihrem Mann gebeichtet und ihn als Schuldigen dargestellt, so dass er Hals über Kopf fliehen muss. Es zieht ihn nach Paris, wo er zunächst den Laternenmann antrifft, der jeden Abend beim Denkmal für Louis XIV. die vier Laternen anzündet. Leider spielt er nur eine untergeordnete Rolle.
Das prachtvolle Kunstwerk steht im Gegensatz zum Lied eines Balladensängers, dem Paul in einer Gaststätte zuhört:

Die Maintenon, die fromme Hure,
Schickt unseren Louis in den Krieg.
Sie hält ihn an der kurzen Leine 
und lässt uns in Armut darben. (47)

Der König wird für seinen verschwenderischen und ausschweifenden Lebensstil kritisiert, im Jahr 1694 lebt er in einer morganatischen Ehe mit seiner ehemaligen Geliebten Madame Maintenon zusammen; eine Ehe zwischen einem Adeligen und einer Frau, die gesellschaftlich von niederem Stand ist.

Zu Beginn des Romans schildert Lewis ausführlich den im Schlafzimmer stattfindenden Morgenempfang des Königs, das sogenannte Lever.
Während dieses Rituals findet er in einer Serviette ein Pamphlet: 
onsieur Scarron Apparu à Madame de Maintenon et le Reproches qu´il lui fait sur ses amours avec Lous le Grand. (77)

In dem Pamphlet wird Madame de Maintenon verunglimpft, ein Umstand, den der König streng bestraft sehen möchte. Deshalb setzt er seinen Polizeichef La Reynie darauf an, die Buchdrucker und -händler, die die Schrift verbreiten, ausfindig zu machen.
Paul Damas, der eine Anstellung bei Jean Larcher erhält, gerät durch Zufall an einen Packen dieser Pamphlete und bewahrt sie sorgfältig auf. Während Nicolas nach Rouen zieht, bahnt sich eine Affäre zwischen Marianne Larcher und Paul an, letzterem scheint es darum zu gehen, die Frau seines Meisters zu erobern, sie in der Hand zu haben. Sie fühlt sich von ihrem Mann emotional vernachlässigt, Jean wartet nicht einmal auf sie, nachdem sie beide Nicolas verabschiedet haben. Sie lässt sich auf Paul ein und das "Verhängnis" nimmt seinen Lauf.

Lewis gelingt es gut, das frühneuzeitliche Paris auferstehen zu lassen. Man hört die Geräusche in den Gassen, kann den Geruch wahrnehmen und sich das Treiben vorstellen. Auch das Elend, der Hunger und die verzweifelte Lage derer, die kein Brot haben, wird angedeutet. Die Zeitgeschichte also gut eingefangen, teilweise aber auch zu langatmig beschrieben. Eine Unzahl von Figuren tauchen auf, deren Namen man sich notieren müsste, um alle zu überblicken. Die Liebesgeschichte selbst ist zu Beginn recht trivial, entwickelt dann jedoch zunehmend eine Dynamik, obwohl man die Verhaltensweisen der Protagonistin, die sich von ihrem Liebhaber instrumentalisieren lässt und ihm nichts entgegensetzt, nicht immer nachvollziehen kann und will. Die Figuren bleiben seltsam hölzern und oberflächlich.
Im Mittelteil hat der Roman deutliche Längen, die es zu überbrücken gilt, während das letzte Drittel an Fahrt aufnimmt und spannender wird, da die einzelnen Figuren wieder stärker in den Fokus rücken. 

Vergleicht man "Verhängnis" mit den ersten ersten beiden Romanen, so sind diese deutlich kurzweiliger, was damit zusammenhängen mag, dass die persönliche Geschichte im Mittelpunkt steht und weniger die politische. Der Spagat zwischen beiden misslingt, man leidet weder mit den Figuren noch fesselt die Historie. Schade!

Vielen Dank dem dtv-Verlag für das Lese-Exemplar.

Sonntag, 25. Oktober 2020

Charles Lewinsky: Der Halbbart

 - Alltagsgeschichte(n)

Leserunde auf whatchaReadin

Sebi, eigentlich Eusebius, ist der Protagonist des Romans, der im Jahr 1313-1315 in der Schwyz spielt. Aus der Sicht des 12jährigen Jungen erleben wir den Alltag im Mittelalter, in einer Zeit, in der die neue Eidgenossenschaft sich im Marchenstreit mit dem Kloster Einsiedeln befindet. Die historischen Zusammenhänge kann man teilweise aus dem Kontext erschließen, allerdings muss man, will man Näheres wissen, selbst recherchieren. 
Für Sebi spielt das alles zunächst keine Rolle, viel spannender ist, dass ein Fremder im kleinen Dorf auftaucht.

"Wie der Halbbart zu uns gekommen ist, weiß keiner zu sagen, von einem Tag auf den anderen war er einfach da." (9)

Keiner weiß es genau zu sagen, aber es ranken sich viele Geschichten darum, wie er sich am Rande des Dorfes niedergelassen hat. 

"Also, der Halbbart. Man nennt ihn so, weil ihm der Bart nur auf der einen Seite des Gesichts wächst, auf der anderen hat er Brandnarben und schwarze Krusten, das Auge ist dort ganz zugewachsen." (13)

Woher diese Verbrennung kommen, will der Sebi gerne wissen, aber er muss Geduld haben, bis der Halbbart seine Geschichte vollständig erzählen will und kann. Sebi freundet sich mit dem Fremden an, der medizinisch versiert ist und ihm "Schachzabel" beibringt. Die meisten Helvetismen versteht man, ohne das Glossar (www.diogenes.ch/halbbart) zu Rate zu ziehen, da sie sich aus dem Kontext ergeben und für zusätzlichen Lesegenuss sorgen.
Zu Beginn der Geschichte wird der Streit mit dem Kloster Einsiedeln bereits angedeutet, da sich Sebis Bruder Geni beim Roden verletzt - eine Arbeit, zu der sie vom Kloster aus gezwungen werden.

"wir sind keine Eigenleute, aber der Wald gehört ihnen, auch wenn wir ihn nutzen dürfen, und wenn sie rufen, müssen wir kommen." (19) 

Genis Bein bricht und die Heilkünste der im Dorf ansässigen Iten-Zwillinge führen fast dazu, dass er stirbt. Der Halbbart schlägt Sebi vor, dass Bein abzusägen - ein Vorschlag, den der mittlere, hitzköpfige Bruder Poli sowie Sebis Mutter ablehnen. Doch letztlich willigen sie ein, dass der Eichenberger, der als reicher Mann "Metzgete machen [kann], wann immer [er] Lust auf eine Blutwurst [hat]" (46) und folglich mit dem Messer umzugehen gelernt hat, das Bein abschneidet.
Lewinsky schont die Leser*innen nicht und schildert detailreich, was eine Amputation im Mittelalter bedeutet hat. Gut, dass die Kapitel recht kurz sind und oft zu Beginn das Ende des Abschnittes vorweg genommen wird, was geschieht. Erst danach erzählt der Sebi, was er gehört oder selbst miterlebt hat. So ist man schon mal vorgewarnt.

Sebi bezeichnet sich selbst als Finöggel - ein zartes Persönchen, daher möchte er am liebsten ins Kloster, um lesen und schreiben zu lernen.
Ein Wunsch, der für ihn in Erfüllung gehen wird, wobei sich herausstellt, dass das Leben im Kloster nicht das ist, was er erwartet hat, so dass sein weiterer Weg einige unerwartete Wendungen einschlägt.
Neben der sympathischen Figur Halbbart, der sich im Dorf niederlässt und sich mit dem Genibefreundet und dessen Name noch eine interessante Rolle spielen wird, ist es das Teufels-Anneli, das besonders fasziniert. Kommt das Teufels-Anneli ins Dorf, ist Sebi nicht zu halten. Im Winter, wenn es keine Arbeit draußen gibt, wandert sie über die Dörfer und erzählt Geschichten vom Teufel - gegen ein gutes Essen. Sebi findet, "sie hat den wunderbarsten Beruf auf der ganzen Welt." (116)

Und um kleinere und größere (Alltags-)Geschichten geht es in diesem Roman, der uns das Leben der "einfachen Menschen" im Mittelalter atmosphärisch vor Augen führt, gerade weil aus der Sicht des jungen Sebi erzählt wird, der mit seiner Interpretation der Ereignisse oft ins Schwarze trifft. Sicherlich beeinflussen der Halbbart und der Geni, die meistens vernünftig und besonnen agieren, ihn positiv.
Obwohl man es eigentlich weiß, erstaunt es doch, welcher Aberglaube vorgeherrscht hat, der tief in den Menschen verankert zu sein scheint. Dem Sebi macht am meisten zu schaffen, dass ein ungetauftes verstorbenes Baby nicht in den Himmel kommen kann, sondern im Limbus verweilen muss - eine Art Zwischenwelt, weder Himmel noch Hölle. Und doch findet er eine Lösung, so wie er oft clevere Ideen hat und die Leser*innen mit seinen Lebensweisheiten und -einsichten überrascht.
Er bewertet das, was er von anderen gehört hat und das was an Geschichten erzählt wird, wird irgendwann  Geschichte werden - wie es auf dem Buchrücken so treffend heißt. 

Ein empfehlenswerter Roman für alle diejenigen, die sich für Alltagsgeschichte(n) interessieren. Die geschichtlichen Fakten muss man, wenn es einen interessiert, nachlesen. Da hätte ich mir ein Nachwort mit eben jenen gewünscht, das ist aber auch der einzige Kritikpunkt am Roman ;)

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!


Montag, 12. Oktober 2020

Michael Christie: Das Flüstern der Bäume


 "Eine Familie ist wie ein Wald. Ein Verbund einzelner Lebewesen, die sich gegenseitig vor Wind und Dürre schützen - " (Buchrücken)

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Geschichte der Familie Greenwood - beginnend mit Jacinda Greenwood, die im Jahr 2038 auf einer kanadischen Insel vor der Pazifikküste von British Columbia arbeitet, auf der noch einer der letzten Primärwälder der Erde erhalten sind.
Im ersten dystopischen Teil entwirft der Autor ein düsteres Bild unserer Zukunft, Jacinda blickt zurück auf das "Große Welken, den Pilz- und Insektenbefall, der die Wälder der Erde [...] überrollt und Hektar um Hektar getilgt hat." (15)
Ohne Wälder regieren Staubwüsten, der die Lungen der Menschen, vor allem der Kinder angreift, so dass die Erde ein unwirtlicher Ort geworden ist. Ausnahme ist die Baumkathedrale von Greenwood, in der Jacinda täglich "Pilger" herumführt und ihnen die Geschichten des Bäume erzählt, wobei sie die Realität ausblenden soll - schließlich wollen sich die Pilger erholen. Dass die Insel den gleichen Namen trägt wie Jacinda, hält sie für einen Zufall. Ihre Mutter, eine bekannte Bratschistin aus Indien, starb bei einem Zugunglück, als sie acht Jahre alt war. Ihren Vater, ein Schreiner namens Liam Greenwood, der während seiner Arbeit gestorben ist, als Jacinda drei Jahre alt war, hat sie nie kennengelernt. Außer einer Farm in "Saskatchewan", einer kanadischen Provinz, und mit Gedichten besprochene Schallplatten sowie Werkzeuge zur Holzbearbeitung und Arbeitshandschuhen ist ihr nichts von ihm geblieben. Fragen nach ihrer Familie hat sie nie gestellt.
Doch dann besucht Silas, ihr Ex-Freund und Jurist, sie auf der Insel und eröffnet ihr: "Ich bin gekommen, weil diese ganze Insel dir gehören könnte, Jake. Rechtmäßig dir gehören, meine ich." (50)

Die Insel wurde von Harris Greenwood 1934 auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise gekauft, seine Tochter ist Willow Greenwood, die Mutter von Liam Greenwood, also Jakes Großmutter, die die Insel allerdings gemeinnützigen Umweltorganisationen gespendet hat. Letztlich ist sie so in den Besitz der Holtcorp geraten, die sie als Waldkathedrale vermarktet. Der Clou, den Silas für Jake bereit hält, ist jedoch, dass Willow gar nicht Harris leibliche Tochter gewesen ist, sondern eine Tochter des Gründers von Holtcorp, R.J.Holt, was wiederum ein altes Tagebuch beweisen soll, das ihrer Großmutter gehört haben soll und das Silas Jake aushändigt.

Damit endet der Handlungsstrang im Jahr 2038 und wir bewegen uns in der Geschichte zurück bis zum Jahr 2008, in dem Liam Greenwood sich an jener Baustelle befindet, an der er sterben wird und an der er sich wiederum im angesichts des Todes an seine Lebensgeschichte erinnert. An seine Hippiemutter Willow, die als Umweltaktivistin mit ihm in einem Bus gelebt hat, an seine große Liebe Meena und letztlich erinnert er sich auch daran, dass er eine Tochter hat.

1974 ist Liams Geburtsjahr, gleichzeitig ist es das Jahr, in dem Willow ihren Onkel Everett Greenwood, der eine 38jährige Haftstrafe verbüßt, aus dem Gefängnis abholt. Warum hat ihr Vater, Harris Greenwood, ihr als Kind 1/4 Dollar gegeben, damit sie ihrem Onkel im Gefängnis schreibt? Für welches Verbrechen sitzt man so lange ein?

Diese Fragen werden im Handlungsstrang von 1934 geklärt, in dem der Autor ungewöhnliche Wendungen für die Leser*innen bereit hält, die einigen aus der Leserunde nicht plausibel erschienen sind. Der Zufall wird etwas überstrapaziert, doch trotz seltsamer, unglaubwürdiger Ereignisse, bleibt die Handlung spannend.

Im Jahr 1908 erfahren wir, wie die Familie Greenwood, ausgehend von Harris und Everett, entstanden ist. Lässt man sich auf die "kreative Konstruktion" der Geschichte ein, die teilweise, wie eine Leserundenteilnehmerin meinte, an Irving erinnere, und liest weiter, lösen sich die meisten Fragen im "Vorwärtsgang" - 1934 - 1974 - 2008 - 2038 - auf, einige bleiben jedoch offen.
In den Mittelpunkt rückt zunehmend die Frage, was eine Familie ausmacht und ob es wichtig ist, seine Wurzeln zu kennen. Die Vergleiche mit den Bäumen begleiten jeden Zeitabschnitt, allen Protagonisten gemeinsam ist ihre tiefe Verbundenheit zum Wald.

Auch wenn der Roman für kontroverse Diskussionen sorgt, erzählt eine unterhaltsame, wenn auch eine extrem konstruierte, Familiengeschichte und appelliert zudem an unser ökologisches Bewusstsein - wer will sich schon eine Welt ohne Bäume vorstellen?


Vielen Dank dem Penguin Verlag für das optisch sehr ansprechende Lese-Exemplar.



Donnerstag, 17. September 2020

Joachim B. Schmidt: Kalmann

 - der Sheriff von Raufarhöfn.

Leserunde bei whatchaReadin

Kalmann ist Anfang 30 und wohnt in einem kleinen isländischen Dorf, das immer vom Fischfang gelebt hat, inzwischen aber ökonomisch am Boden liegt.

"Und darum gab es hier in Raufharhöfn noch eine ordentliche Industrie, bis dann das Fangquotensystem von den Politikern eingeführt und die Quote fast gänzlich aus Raufarhöfn abgezogen wurde. Nun lagen die Hallen brach, jedes dritte Haus stand leer. Es gab inzwischen nur noch einen Mann, der eine ordentliche Fangquote hatte, wenn auch keine große: Róbert McKenzie." (33)

Jener Róbert hat versucht, den Ort zu einer touristischen Attraktion zu machen, betreibt ein Hotel, hat einen Golfplatz anlegen lassen. Beim Bau des Artic Henge, dieses steinerne Kunst-Bauwerk gibt es tatsächlich, ist ihm das Geld ausgegangen - und jetzt ist er verschwunden, während Kalmann, aus dessen Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, eine Blutlache außerhalb des Ortes findet.

"Wenn man eine Person ist, die eine Leiche oder deren Überreste findet, und sei es auch nur eine Pfütze Blut, hat man etwas mit der Sache zu tun. Man gehört dann einfach in die Geschichte und damit in die Geschichtsbücher. Und das wollte ich verhindern, indem ich einfach nichts sagte." (35)

Kalmann ist geistig beeinträchtigt, einerseits wirkt er naiv, andererseits sind einige seiner Reflexionen scharfsinnig und tiefgründig. In der Diskussionsrunde stand die Frage im Raum, ob die Erzählperspektive authentisch ist, ob ein Mensch, der wie Kalmann unter einer geistigen Beeinträchtigung leidet, sich derart ausdrücken und solche Schlussfolgerungen ziehen kann, während er gleichzeitig grammatikalisch falsche Sätze produziert. Ich bin regelmäßig über diese Diskrepanz gestolpert, für mich hat es den Lesegenuss dieser ansonsten sehr unterhaltsamen Geschichte etwas getrübt.

Nichtsdestotrotz ist das, was geschieht, teilweise skurril und oft unfreiwillig komisch, was aus dem für Fremde seltsamen Verhalten Kalmanns resultiert. Wie schon gesagt, ist er aber auch in der Lage, genau dies zu reflektieren:

„Manchmal guckt man mich einfach nur an, die Leute starren geradezu, völlig behindert, und dann muss ich grinsen, auch wenn ich gar nicht grinsen will, aber ich grinse einfach, und es hat auch schon der ein oder andere gesagt:“Wieso grinst der so blöd.“ (87)

Das hat eine gewisse Komik, ist aber auch tragisch, weil er nicht aus der Situation heraus kann und sich letztlich so verhält, wie es von ihm erwartet wird.

Man erfährt einiges über diese nordische Insel, v.a. über Gammelhai - eine Spezialität, der sich Kalmann widmet. Von seinem Großvater, bei dem er aufgewachsen ist, da seine Mutter arbeiten musste, hat er das Jagen des Grönlandhais, ebenso wie die Herstellung von Gammelhai gelernt, dessen Geruch allein den Großvater aus dem Vergessen holen kann.

Der Großvater hat eine besondere Bedeutung für Kalmann, da er sich immer für ihn eingesetzt und ihm alles so erklärt hat, dass er es verstehen konnte. Doch jetzt ist Kalmann auf sich gestellt und muss sich den Fragen der Polizistin Birna stellen, die das Verschwinden Róberts untersucht. Kalmann behauptet, ein Eisbär sei Schuld daran. Ein Witz oder meint er es ernst? Auf dem Buchrücken ist zu lesen: "Unter einem Eisbär kann es sehr dunkel sein." Was hat es also mit diesem Eisbären auf sich? Und welche Rolle spielen die Litauer, die in Róberts Hotel arbeiten? Vor allem die hübsche Nadja hat es Kalmann angetan, der sich nach einer Frau sehnt. Sein bester Freund ist Noí, mit dem er nur via Internet kommuniziert. Jener scheint krank zu sein und darf das Haus nicht verlassen. Auch er beteiligt sich virtuell an der Suche nach Róbert, der im Dorf nicht beliebt gewesen ist.

"Es wäre die Gerechtigkeit der Natur. (,,,) Dabei wäre ein Eisbär das Letzte, wovor sich der Gauner hätte fürchten müssen." (71)

Es bleibt spannend und als Leser*innen werden wir auf verschiedene Fährten gelockt und folgen dem Sheriff Kalmann auf seinen Wegen durch das Dorf. Sein Outfit - Cowboyhut, Sheriffstern und eine waschechte Mauser - hat er von seinem Vater geerbt, einem amerikanischen Soldaten.

"Du bist der Sheriff. Und du hast vor niemandem Angst." (258)

Entpuppt sich der "Dorftrottel", wie der Autor seinen Protagonisten im Interview bezeichnet (353), tatsächlich als Held?

Ein unterhaltsamer Roman, in dem man einiges über Island lernt und hinterfragt, welches Verhalten eigentlich "normal" ist. Mein Lesegenuss hat aufgrund der inkonsequenten Erzählperspektive etwas gelitten. Sieht man darüber hinweg, ist es ein spannender, witziger Krimi.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Lese-Exemplar.

Donnerstag, 3. September 2020

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

ein Roman?


Leserunde Whatchareadin

Diese Frage haben wir uns in der Leserunde gestellt, nachdem wir die ersten Kapitel gelesen haben. Es scheint so, als sei die Verbindung zwischen diesen nur die kleine Stadt Hollyhock im ländlichen Virginia.

Zunächst erwartet die Leser*innen in jedem Kapitel eine eigene Geschichte, ein bedeutender Ausschnitt aus dem Leben einer Figur aus der Stadt Hollyhock.
In Retter steht Robert im Vordergrund, der mit seiner Frau ein Arrangement hat, „sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.“(9)

Während seine Frau mit ihrem Arbeitskollegen Liam schläft, leidet Robert an dieser Vereinbarung, hat keine Lust, mit einer anderen zu schlafen - bis er im Zug auf die mittellose Julie trifft, der er aus der Klemme hilft. Am Ende der Geschichte bleibt offen, ob die beiden zusammen bleiben werden und es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob dies im Verlauf der Handlung aufgelöst wird.

Im 2.Kapitel muss die Maklerin Susan erfahren, dass sich ihr derzeitiger Lebensgefährte einer anderen Frau öffnet. Ist sie nur Gast in ihrem Leben? Als sie einer Familie ein Haus zeigt, wird ihr bewusst, was ihr fehlt. Auch Robert taucht als Randfigur auf - nur lose Fäden zwischen den Geschichten?

In Verbündete eröffnet Aikos Mutter Nomi, eine Japanerin, dass sie ihren Mann bzw. Aikos Vater Saul verlassen will, um nach Japan zurückzukehren. Aiko wird von der Tochter zur Verbündeten der Mutter, während sie sich jahrelang eher als Verbündete des Vaters gefühlt hat. Während Aiko sich von der Mutter bewertet fühlt, aber als Verbündete akzeptiert, wünscht sie sich, so geliebt zu werden, wie ihre Mutter ihren Bruder Kenji (Protagonist der 4.Geschichte) liebt. Und ausgerechnet der Mann, der sie an Kenji erinnert, lässt sie fallen. Die Sehnsucht nach Nähe und Liebe bleibt unerfüllt - ein Motiv, das immer wieder kehrt.
Auch Kenji hat seine große Liebe Lucy verloren, da sie mit seinem besten Freund aus Kindertagen weggegangen ist - das ist seine subjektive Wahrheit. Glücklicherweise kommen auch noch Lucy und Basil selbst zu Wort und es kristallisiert sich heraus, dass die Wahrheit vielschichtig ist.

Kenji, ein Schriftsteller, der einen mäßig erfolgreichen Erzählband herausgegeben hat, über den Basil sagt, er sei
"eine nur unzulänglich veränderte Variation von Hollyhock, zwei oder drei vollkommen unwichtige Mitschülerinnen, Kenjis Eltern natürlich - auch sie verändert, aber doch in manchem ähnlich-, eine Frau, die offen bar eine idealisierte Version von Lucy war" (271)

Fast scheint es, als habe die Autorin ihren eigenen Roman beschrieben. Kenji kristallisiert sich als der eigentliche Protagonist, da er die meisten Bezüge zu den anderen Figuren hat, aus deren personaler Perspektive wir jeweils einen "Splitter" ihres Lebens ansehen dürfen.
Am Ende des Romans fügen sich einige dieser Splitter zusammen, einiges wird nur angedeutet, der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Was bleibt, sind kleine Ausschnitte aus dem Leben von Menschen, die auf der Suche nach dem Glück sind, dieses "entsetzlichen Glücks". Neben vielen traurigen Geschichten und tragischen Situationen scheinen immer wieder diese Momente auf, in denen alles vollkommen ist und die mich als Leser*in berührt haben.

In Lucys Geschichte entdeckt diese eine 90jährige Malerin, zu der es ein reales Vorbild gibt. Über deren Bilder sagt Lucy:
"Sie sind so schlicht und doch nie so schlicht, wie man am Anfang meint. Sie sind nicht gemalt, um jemanden zu beeindrucken, sondern einfach Ausdruck einer Wahrnehmung." (215)

Besser könnte man Mingels Roman nicht beschreiben!

Ich möchte mich herzlich beim Penguin-Verlag für das Leseexemplar bedanken und hoffe, dass der Roman noch viele Leser*innen findet, die ebenso begeistert sind, wie ich es bin.

Dienstag, 18. August 2020

Sandra Brökel: Das hungrige Krokodil

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Geschichte des tschechischen Kinder- und Jugendpsychiaters Pavel Vodák, der im Jahr 1970 aus der dem sozialistischen Staat fliehen will, nachdem der Prager Frühling im Jahr 1968 - und auch seine Hoffnungen - gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Die Geschichte beginnt am 25.6.1970, am Vorabend seiner Flucht, an dem Pavel, aus dessen personaler Perspektive die Handlung erzählt wird, über sein Leben reflektiert und in Endlosschleifen darüber nachdenkt, ob er die Gefahr einer Flucht wirklich auf sich nehmen will. 
Aber es bleibt ihm keine Wahl aus seiner geliebten Heimatstadt Prag zu fliehen:
"Er steht unter Beobachtung, darf nicht mehr ins westliche Ausland reisen. Keine Dozententätigkeit mehr, kein fachlicher Austausch auf Kongressen, keine Begegnungen mit frei denkenden Menschen. Pavel hat aufgehört, die Warnschüsse zu zählen. Äußerlich ließ er sie abprallen, innerlich reiht sich Wunde an Wunde. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur Stunden, bis er endgültig getroffen und niedergestreckt wird." (10)

Er will vor allem für seine 12jährige Tochter Pavlina fliehen, dass "ein politisches System die Potenziale einer nächsten Generation einschränkt, ist ihm unerträglich. Der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, für den er einst kämpfte und alles riskierte, wurde am 21.August 1968 unter Panzerketten begraben." (15)

Am Vorabend der Flucht erhält er deutsche Pässe für seine Frau, seine Tochter, seine Schwiegermutter und sich selbst. "Ausgerechnet deutsche Pässe. Deutsche! Jene Menschen, die einst tiefste traumatische Erlebnisse in Pavels Seele säten, wandeln sich heute zu Verbündeten." (17)

Als er im Bett liegt und auf den als Urlaubsreise getarnten Beginn der Flucht wartet, denkt Pavel an sein Leben zurück. Die Handlung springt zurück zum 15.März 1939, als die Nationalsozialisten widerrechtlich das verbliebene Staatsgebiet der Tschechoslowakei besetzt haben. Da ist Pavel 18 Jahre alt. Seine Mutter ist eine Deutsche, "weniger die Kategorie böhmische Hausfrau, eher die Dame von Welt" (32), sein Vater ein tschechischer Offizier.
Die Wehrmachtssoldaten nimmt er als "Krokodil" wahr, eine Metapher, die im Verlauf des Romans für "Vernichtungskraft" (55) steht, die überall lauert.

Während des Krieges wird ihm  das Medizinstudium verwehrt, hilflos erlebt er die Demütigung jüdischer Freunde und wie so viele andere, will er die Gräueltaten aus den Konzentrationslagern, von denen erzählt wird, nicht glauben. Bis er selbst unmittelbar nach Kriegsende als Medizinstudent nach Theresienstadt kommt.

"Ursprünglich wollte er Arzt werden, um Menschen zu heilen. Jetzt lernt er, wie sie sterben. Erwachsene bäumen sich auf und klammern sich fest. Kinder verabschieden sich still wie das Licht einer dünnen Kerze im Wind. Das ist, obwohl so leise und beiläufig, schwerer auszuhalten." (83)

Ein Bild, das wirklich zu Herzen geht. Pavel muss gleichzeitig erkennen, dass das Krokodil überall lauert: „Wer oder was ist das Krokodil?“ (85)

Die verschiedenen Ausschnitte aus Pavels Leben geben jeweils einen intensiven Einblick in die Zeitgeschichte und seine persönliche Entwicklung, die damit einhergeht. Der Schrecken der Nazidiktatur, die Erlebnisse in Theresienstadt, der Sozialismus, die neue Diktatur - wieder ein hungriges Krokodil - und die Hoffnung auf eine Öffnung, die gnadenlos zerschlagen wird. Die beiden Tage im August 1968 erhalten dadurch, dass zwei aufeinanderfolgende Kapitel zwei Tage hintereinander schildern, besonderes Gewicht. Das Präsens sorgt dafür, dass das Lesetempo hoch gehalten wird, man ist mittendrin.

Nach dem Rückblick auf Pavels Leben wird seine Flucht und seine Ankunft im vermeintlichen goldenen Westen geschildert. Es spricht für die Autorin, dass sie dies realistisch erzählt, mit all den Zweifeln, die Pavel überkommen. Wie schwierig es ist, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, wird eindrücklich aufgezeigt, aber auch dass es Jüngeren gelingen kann, wie das Beispiel seiner Tochter zeigt.
Insgesamt ein empathischer Roman, der historisch sehr interessant ist und auch für Jugendliche eine spannende - und lehrreiche - Lektüre bietet, ohne dass der viel zitierte pädagogische Zeigefinger erhoben wird.

Noch interessanter wird es, wenn man die Entstehungsgeschichte des Romans "Pavel und ich" liest. Darin erzählt Sandra Brökel amüsant und auch spannend, wie sie auf die Notizen des tschechischen Arztes gestoßen ist und warum gerade sie dessen Lebensgeschichte aufschreiben musste.

Vielen Dank dem Pendragon-Verlag für die Leseexemplare.

Donnerstag, 6. August 2020

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

- ein Erzählband.


In den Geschichten thematisiert Schlink das Abschiednehmen, wie der Titel bereits vermuten lässt, allerdings geht es nicht nur um den Abschied von einer geliebten Person, sondern die Plots der Erzählungen und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, sind vielfältig und sehr unterschiedlich.

"Abschied muss sein; das Wissen, dass einer gestorben ist, bleibt beunruhigend, bis der Abschied ihn seine Ruhe finden lässt - und einen selbst." (7)

"Es hilft, beim Sterben dabei zu sein." (7)

Der Ich-Erzähler, Informatiker, der ein staatliches Institut in der ehemaligen DDR geleitet hat, führt in der ersten Geschichte "Künstliche Intelligenz" zunächst seine Gedanken zum Thema Abschied nehmen von Verstorbenen aus - die allgemeinen Gedanken bieten insofern einen perfekten Einstieg in den Erzählband. Von Menschen, die man nicht so oft treffe und mit denen man nicht mehr so oft zu tun habe, falle der Abschied schwerer, dazu zählt auch sein Freund Andreas, der ebenso wie er selbst als Informatiker am gleichen Institut gearbeitet hat. Stutzig gemacht haben mich die Gedanken zu Andreas Tod -

"(...) auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es, nur eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei." (10)

Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlink deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß eines Verrats auf, für den sich Andreas Freund rechtfertigt, indem er jegliche Schuld von sich weist und keine Reue zeigt.
Der Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - die Leser*innen werden das anders wahrnehmen.

Auch in der zweiten Geschichte "Picknick mit Anna" steht ein männlicher Ich-Erzähler im Vordergrund, und wie in der ersten thematisiert sie nicht nur den Abschied von einem Menschen, sondern auch die Schuld, die damit einhergeht. Ein ältere Herr hat nachts von seinem Fenster aus beobachtet hat, wie Anna zusammengeschlagen wurde und an den Folgen verstorben ist. Warum hat er die Polizei oder den Notarztwagen nicht informiert, obwohl er Anna gut gekannt hat. Langsam entwirrt sich das komplizierte Beziehungsgeflecht, das ihn mit der jungen Frau verbunden hat.

"Geschwistermusik" gehört neben "Der Sommer auf der Insel" und "Daniel, my Brother" zu den Geschichten, die mir am besten gefallen haben.

Sie offenbart ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen einem Jungen, Philip, der sich in seine Klassenkameradin verliebt, die - so seine Interpretation - ihn benutzt, damit ihr behinderter Bruder einen Freund hat. Jahre später trifft er sie wieder und muss erkennen, dass er sich von seiner Sicht der Geschichte verabschieden muss.

Im Sommer auf der Insel verabschiedet sich ein 11-jähriger Junge, der allein mit seiner Mutter im Jahr 1957 Urlaub macht, von seiner Kindheit und entdeckt die weibliche Sexualität. Aber auch die Mutter muss Abschied nehmen von einem alternativen Leben, einer Liebe, die nicht gelebt werden kann, ebenso wie in der Geschichte "Altersflecken" ein 70-Jähriger über die verpassten Gelegenheiten seines Lebens sinniert, während in "Jahrestag" eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau im Mittelpunkt steht. Er nimmt Abschied von dem Gedanken, ihr alles geben zu können.

Die Geschichte "Das Amulett" zeigt, wie eine von ihrem Mann verlassene Frau, loslassen muss, wie es ihr gelingt ihre Wut, aber auch ihre Trauer hinter sich zu lassen - eine sehr beeindruckende psychologische Studie.

Die persönlichste Geschichte ist "Daniel, my Brother", die autobiografischen Bezüge drängen sich auf, da der Ich-Erzähler Schriftsteller ist und Jura studiert hat. Der Ich-Erzähler verabschiedet sich von seinem Bruder, der gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord begangen hat, da sie schwer krank ist und er offenbar am Ende seiner Kräfte. Allmählich kommen die Erinnerungen.
"Sie stahlen sich schon in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein." (178)
Der Ich-Erzähler rekapituliert das Verhältnis zu seinem Bruder, stellt die positiven, aber auch negativen Seiten heraus, stolpert über einige Erinnerungen, hadert.
Der Trauerprozess ist sensibel und empathisch nachvollziehbar geschildert, ein Stück Prosa, das man immer wieder zur Hand nehmen möchte.

Nur eine Geschichte hat mich enttäuscht, und wie mir ging es einigen aus der Leserunde ebenso damit:
"Geliebte Tochter" fängt gut an, doch die Wende wirkt konstruiert, zudem hat sich uns nicht erschlossen, welche "Botschaft" Schlink mit dieser Geschichte vermitteln will. Allerdings stellt sich die Frage, ob immer eine Botschaft nötig ist ;) Auf jeden Fall laden die Erzählungen zum Diskutieren ein!

Insgesamt wunderbare Prosa, die nachhallt und die immer wieder gelesen werden kann, da sie sich durch authentische Figuren, eine plausible Handlung mit unerwarteten Wendungen und nicht zuletzt durch eine unprätentiöse Sprache auszeichnet. 

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Leseexemplar.

Donnerstag, 30. Juli 2020

Sandra Brökel: Pavel und Ich

- die Entstehungsgeschichte des Romans "Das hungrige Krokodil"


Im Rahmen einer Leserunde auf whatchaReadin lesen wir "Das hungrige Krokodil", freundlicherweise hat uns der Pendragon Verlag auch die Geschichte hinter der Geschichte zukommen lassen, die Sandra Brökel im Anschluss verfasst hat.

Darin erzählt sie aus der Ich-Perspektive, wie sie auf die Idee gekommen ist, das Leben des tschechischen Kinderarztes und Psychiaters Dr. Pavel Vodák aufzuschreiben. Ihre Erinnerungen beginnen im Jahr 2019 während einer Lesung in Prag, der Stadt, aus der Pavel Vodák nach dem Prager Frühling fliehen musste.

"Erstmals lese ich ausschließlich vor Menschen, die wirklich erlebten, worin ich nur literarisch eintauchte." (22)

Ihr wird bewusst: "Durch das Schreiben und den Automatismus, der sich dabei entwickelte, bekam Pavel ein Eigenleben in mir, es gesellte sich eine literarische Figur zu dem realen Menschen. In den Diskussionen wird deutlich, dass kleinste Details in seinen Erinnerungen nicht eins zu eins der objektiven Realität entsprechen können." (23)

Doch die Frage stellt sich, warum ausgerechnet sie die Lebensgeschichte des tschechischen Psychiaters aufgeschrieben hat.
"Ich habe das Leben des Pavel Vodák nur für meine Freundin, seine Tochter, aufgeschrieben, damit sie mit sich und ihrem Leben ins Reine kommt." (30)

Was folgt, sind einige unglaubliche Zufälle, wie sie nur das Leben selbst schreiben kann. Sandra Brökel ist ein Adoptivkind und auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern hat sie sich intensiv mit der Problematik adoptierter Kinder auseinandergesetzt. Auf der Suche nach wissenschaftlicher Literatur stößt sie auf zwei Fachbücher von Pavel Vodák, allerdings in tschechischer Sprache, die sie immer schon fasziniert hat - wer kennt nicht den wunderbaren Pan Tau ;).

6 Jahre später realisiert sie, dass Paula, die mit ihr gemeinsam eine Ausbildung zum "Zertifizierten Kindertrauerbegleiter" (72) absolviert, die Tochter eben jenes Pavel Vodák ist. In Gesprächen mit Paula hat sie das Gefühl, sich Pavel verbunden zu fühlen. Ihre Freundin fasst so viel Vertrauen zu ihr, dass sie ihr die Lebenserinnerungen ihres Vaters anvertraut - die Grundlage für "Das hungrige Krokodil".

Sandra Brökel gibt den Leser*innen im Folgenden Einblicke in ihren Schaffensprozess, mehrfach reist sie nach Prag, um sich Pavel näher zu fühlen.

Nachdem ich diese sehr interessante Entstehungsgeschichte gelesen habe, die auch die politischen Hintergründe kurz und knapp erklärt, freue ich mich jetzt darauf, den Roman selbst zu lesen.

Vielen Dank an den Pendragon-Verlag für dieses Leseexemplar.

Montag, 27. Juli 2020

Marco Balzano: Ich bleibe hier


Leserunde auf WhatchaReadin

Wenn man den Reschenpass in Richtung Vinschgau überquert hat, erstreckt sich der Rechensee vor dem Betrachter und zwangsläufig fährt man an dem berühmten Glockenturm vorbei, der einst Teil des Dorfs Graun gewesen ist. Ein beliebtes Fotomotiv, vor dem die Touristen Schlange stehen. Auch Marco Bolzano war dort, wie er im Nachwort zu seinem Roman verrät:
"Hätte ich nicht sofort den Eindruck gehabt, hier eine private und persönliche Geschichte anzusiedeln, in der sich die historischen Abläufe spiegeln und die die Möglichkeit bot, ganz allgemein über Verantwortungslosigkeit, über Grenzen, über Machtmissbrauch und die Bedeutung des Wortes zu sprechen, dann hätte ich, trotz der Faszination, die dieser Ort auf mich ausübt, nicht genug Interesse aufgebracht... Auch ich wäre stehen geblieben und hätte mit offenem Mund den Kirchturm bestaunt, der auf dem Wasser zu schwimmen scheint." (S.284)

Balzano bettet die historischen Ereignisse Grauns von der Unterdrückung der Südtiroler durch Mussolini, der Option, die Hitler ihnen angeboten hat, "heim ins Reich" zu kommen sowie die Fertigstellung des Staudamms nach dem 2. Weltkrieg in die persönliche Geschichte der Lehrerin Trina ein, die aus der Ich-Perspektive erzählt und ihre Geschichte an ihre Tochter richtet, so dass das Erzählte wie ein langer Brief erscheint.

"Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist." (13)

So beginnt der erste Teil, der die Frage aufwirft, warum die Tochter nichts über die Mutter weiß, die als Lehrerin im Untergrund Kinder weiterhin in Deutsch unterrichtet, obwohl Mussolini die Sprache verboten und italienische Lehrer nach Südtirol entsendet hat.

"Um bloß nicht uns nehmen zu müssen, stellten sie lieber halbe Analphabeten aus Sizilien und dem ländlichen Venetien ein. Ob die Tiroler Kinder etwas lernten, kümmerte den Duce sowieso herzlich wenig." (36)

Der erste Teil (Die Jahre) erzählt von dieser Zeit, in der Trina ihr Examen gemeinsam mit ihren Freundinnen Barbara und Maja macht, im Wechsel der Jahreszeiten lebt, ihren Vater in der Schreinerei unterstützt und Erich kennenlernt - einen stillen jungen Mann, obwohl ihr Herz eigentlich für ihre Freundin Barbara schlägt. Nichtsdestotrotz heiratet sie Erich, der Widerstand gegen die Faschisten leistet, und nach dem Sohn Michael wird die Tochter Marica geboren. Trina glaubt, sie sei keine gute Mutter, sie hat Angst ihr Leben zu verpassen.

"Auf dich und deinen Bruder aufzupassen war mir bald zu viel. Ich litt, weil mir die Zeit fehlte. Während ich mit euch beschäftigt war, dachte ich, verpasste ich so viele schöne Dinge auf der Welt, die ich später, wenn ihr groß sein würdet, nicht nachholen könnte." (62)

Nachdem Hitler Österreich annektiert hat, eröffnet er den Südtirolern die Option, ins Reich zu kommen. Er wird als Befreier wahrgenommen, da er ihnen die Möglichkeit eröffnet, in ihrer Muttersprachen sprechen zu können.

"Auf Adolf Hitler zu hoffen war die einzige Rebellion." (71)
"Mama, ich will weg aus diesem Dorf. Hier kann ich nicht einmal mehr zur Schule gehen" (75), sagt Trinas Tochter.

Aus heutiger Perpektive völlig unverständlich, aus der damaligen Situation heraus, in der die italienischen Faschisten die deutschsprachigen Bewohner Grauns unterdrückt haben, teilweise nachvollziehbar. Wobei Erich durchaus weitsichtig erkennt, dass die diejenigen, die sich gegen die große Option entschieden haben, die "hier geblieben" sind, nach der Machtübernahme Hitlers in Südtirol mit Repressionen zu rechnen haben.

Von dieser Zeit handelt der 2.Teil, "Auf der Flucht", während der 3.Teil von der Fertigstellung des Staudamms und der Entstehung des Reschensees erzählt. Während der 2.Teil mitreißend und teilweise sehr emotional ist, fällt der letzte Teil im Vergleich zu den beiden vorherigen aus meiner Sicht etwas ab, da man weiß, dass der Kampf gegen den mächtigen Konzern nicht gewonnen werden kann und auch die Protagonistin selbst passiver wirkt, weniger in den Widerstand involviert ist, allerdings für diejenigen, die protestieren, die richtigen Worte findet.

Balzano hat dazu in einem Interview gesagt:

"Ein Schriftsteller muss immer versuchen, das Schweigen zum Reden zu bringen, das ist die größte Herausforderung. Ein Schweigen, dem es gelingt, das auszudrücken, was man nicht sagen kann, das, wofür die Wörter nicht genügen. In „Ich bleibe hier“ wollte ich eine Frau darstellen, die an das Wort als Mittel zum Widerstand glaubt. Auch als das Wasser das Dorf überflutet, auch als Trina alles verliert, auch als sie besiegt ist, bleiben ihr die Worte. Und solange wir die Möglichkeit haben, sie auszusprechen, haben wir nicht alles verloren."
(https://www.buchkultur.net/marco-balzano/)


Dass Balzano das "Schweigen zum Reden" bringen will, dies ist ihm mit diesem Roman gelungen. Die Situation der Südtiroler, die im Dilemma zwischen Bleiben oder Gehen standen, deren kulturelle Identität Spielball der politischen Kräfte geworden ist, hat er beeindruckend dargelegt.
Aber auch, wie machtlos die Bewohner Grauns gegenüber den ökonomischen Interessen des Konzerns Montecatini gewesen sind.

Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!

Montag, 6. Juli 2020

Kent Haruf: Kostbare Tage

Abschied nehmen

Leserunde auf whatchaReadin

Auch der neue Roman von Kent Haruf spielt in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, ist jedoch im Gegensatz zu seinen Vorgängern im neuen Jahrtausend angesiedelt, wahrscheinlich kurz nach 9/11. Auch die Figuren spielten in den anderen Romanen keine Rolle, so dass uns neue, andere Schicksale erwarten.

Im Mittelpunkt der Handlung steht Dad Lewis, der Besitzer der Eisenwarenhandlung in Holt.
Gleich zu Beginn der Handlung erfahren wir, dass Dad Lewis wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat:
"Leider habe ich keine allzu guten Nachrichten für sie, sagte der Arzt." (7)

Metaphorisch bietet Haruf mehr Informationen, indem die Tageszeit oder auch das Wetter symbolischen Charakter zeigen.
 "Als sie nach Hause kamen, ging die Sonne gerade unter, und die Luft kühlte allmählich ab." (8)

Dad Lewis bleibt ein Sommer, um sich vom Leben und seinen Lieben zu verabschieden. Dies ist der Erzählstrang, der am meisten Raum einnimmt. Seine Frau Mary begleitet seinen Sterbeprozess, bleibt an seiner Seite, unterstützt von ihrer Tochter Lorraine, die aus Denver angereist ist, um die letzten Wochen in der Nähe ihres Vaters zu sein.
Doch die Familie ist nicht vollständig, denn Lorraines jüngerer Bruder Frank hat keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern. Während Mary darunter leidet, scheint Dad Lewis mit diesem Thema abgeschlossen zu haben. Im Verlauf der Handlung erfahren wir aus Rückblicken, dass Franks Homosexualität zum Bruch mit dem Vater geführt hat, dem es nicht gelingt, dies zu akzeptieren. Werden sie sich vor Dad Lewis Tod versöhnen?
Dies ist nicht der einzige Konflikt, der Dad Lewis beschäftigt. Einst hat er einen Angestellten entlassen, der Einnahmen veruntreut hat, und ihn gezwungen, Holt zu verlassen. Daraufhin hat sich Clayton umgebracht, eine Frau und zwei Kinder hinterlassen. Auch daran denkt Dad Lewis zurück - er will in Frieden gehen.

Ein weiterer Handlungsstrang rankt sich um Willa und Alene Johnson - Mutter und Tochter, die mit den Lewis befreundet sind.

Während Dad Lewis am Ende seines Lebens steht, hat Alene das Gefühl, jenes bereits erreicht zu haben. Offenkundig hat sie eine unglückliche Liebe hinter sich und will keine traurige alte Frau werden.
"Ich werde sterben, ohne jemals gelebt zu haben. Es ist so lächerlich. So absurd. Alles ist so sinnlos." (65)

Die beiden freunden sich mit Alice an, die bei ihrer Großmutter Berta May, Nachbarin der Lewis, lebt, nachdem ihre Mutter an Krebs gestorben ist. Alice wird eine Art Ersatzkind und in einer der schönsten Szenen des Romans baden vier Frauengenerationen gemeinsam nackt.
Alice, Lorraine, Alene und Willa - in der Beschreibung ihres Körpers und dem Vergnügen, dass sie beim Baden in einem kalten Wassertrog an einem heißen Tag empfinden, offenbart Haruf seine sensible Art zu erzählen. Er begegnet seinen Figuren mit Empathie, beschreibt ohne zu werten, überlässt es den Leser*innen sich eine Meinung zu bilden.

Neben diesen Figuren, die in Holt verhaftet sind, steht der neue Reverend Lyle, der aus Denver nach Holt "strafversetzt" wurde. Sein pubertierender Sohn John Wesley fühlt sich in der Kleinstadt nicht wohl, daran ändert auch seine Freundin nichts, die ihm vorwirft:

„Du wirst noch alles kaputtmachen, merkst du das nicht? Du siehst ja nicht mal, was du vor der Nase hast. (...) Du träumst rückwärts.“(80)
Auch die Frau des Reverend möchte zurück nach Denver, vor allem nach einer denkwürdigen Predigt Lyles, in der - das war der Tenor der Leserunde - Haruf seinen amerikanischen Traum zu Papier bringt. Es könnte ein Amerika geben, das statt in den Krieg gegen die Terroristen zu ziehen, großzügig ist, dass seine Stärke dafür einsetzt, "etwas zu erschaffen. Wir werden eure Straßen und Highways reparieren, eure Schulen ausbauen, eure Brunnen und Staudämme modernisieren, eure alten Denkmäler und eure Kulturgüter retten, eure Tempel und Moscheen renovieren. Genauer gesagt: Wir werden euch lieben." (186)

Eine Botschaft, die konträr zum derzeitigen Kurs der amerikanischen Außenpolitik steht und die sowohl bei den Figuren im Roman als auch in der Gegenwart für Unverständnis sorgt. Eine mutige Botschaft, die Haruf hinterlässt und die sich auch auf der Ebene der Figuren widerspiegelt.
Sein Protagonist Dad Lewis möchte Frieden schließen, sich aussöhnen und Liebe geben, auch wenn ihm das im Leben nicht immer gelungen ist.

"Vergib mir, flüsterte er. Ich habe eine Menge Dinge versäumt. Ich hätte es besser machen können." (291)

Es sind "kostbare Tage", die wir als Leser*innen miterleben dürfen. Die letzten Tage Dad Lewis, der Abschied nimmt. Aber auch kostbare Momente erleben wir, z.B. wenn Dad seiner Tochter sagt, er liebe sie oder das gemeinsame Mahl bei Willa und Alene, die Lyle in seinem Traum unterstützen und das gemeinsame generationenübergreifende Baden. Das ist es, was am Ende bleibt und kostbar ist.

Ein wunderbarer Roman!

Mittwoch, 8. April 2020

Graham Swift: Da sind wir

- "Here we are"

Leserunde auf whatchaReadin

Den englischen Titel habe ich deswegen zitiert, da wir uns in der Leserunde einig sind, dass die deutsche Übersetzung die englische Redewendung nur unzureichend widerspiegelt.
"Da wären wir" trifft es vielleicht besser, es sind Worte, die der "flinke Jack", so heißt einer der Protagonisten, der durch eine Varieté-Show in Brighton in den 50er Jahre führt, sagen würde, wenn er auf die Bühne kommt.


Zu Beginn des Romans steht eben jener Jack am Rand der Bühne, kurz vor seinem Auftritt, es scheint fast, als habe er Lampenfieber und brauche einen "Schubs" auf die Bühne. In der Show treten neben ihm Pablo und Eve, ein Zauberer und seine Assistentin auf, die das Publikum mit "Illusionen" begeistern. Die beiden sind bzw. waren ein Paar, einige Andeutungen weisen darauf hin, dass sie sich getrennt haben und Eve statt dessen mit Jack eine Affäre hat.

Der erste Rückblick führt die Leser*innen in Ronnies, das ist der bürgerliche Name des Zauberers, Kindheit. Im 2.Weltkrieg wurde er von seiner Muter, die in London als Putzfrau arbeitet und dessen Vater auf See ist, aufs Land geschickt. Ronnie hat Glück. Ein kinderloses Ehepaar nimmt ihn auf, Eric und Penny. Von Eric, dem großen Lorenzo, lernt er die Zauberei und hält an ihr fest, auch gegen den Willen seiner Mutter. In der Militärzeit lernt er Jack kennen, der ihm rät, eine Assistentin einzustellen. So trifft er auf Evie White, die zu Eve wird und "da wären wir".

Ein überraschender Zeitsprung führt uns zur 75-jährigen Evie White, die sich an die Ereignisse in Brighton zurückerinnert.

Die wechselnden personalen Perspektiven ermöglichen einen Einblick in alle der Hauptfiguren, wobei vieles nur angedeutet und wenig direkt ausgesprochen wird. Man ist als Leser*in gefordert, die Leerstellen zu füllen und gerade das macht den Reiz dieses kleinen, aber feinen Romans aus.
Zudem entführt er uns auch in die Welt der Zauberei, was ist ein Trick, was Magie und Illusion?
Zu erwähnen ist auch der Papagei, der das Cover ziert. Einst ein Geschenk des Vaters, hat die Mutter ihn verkauft - auch er heißt Pablo und Ronnie muss oft an ihn denken. Fühlt Ronnie sich "wegegeben" von der Mutter, will er frei sein? Fragen, die sich teilweise im Lauf des Romans beantworten lassen, doch einiges bleibt offen...

Aufgrund der Rückblicke und wechselnden Perspektive erhaschen wir immer nur Ausschnitte dieser Dreiecks-Geschichte und müssen uns letztlich selbst ein Bild machen. Dennoch verzaubert dieser Roman - auch aufgrund der wunderbaren Sprache Swifts.

Vielen Dank für das Lese-Exemplar!

Montag, 30. März 2020

Peter Zantingh: Nach Mattias

"Was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind."

Leserunde auf whatchaReadin

"Eine Woche nach Mattias wurde sein Fahrrad geliefert." (7)
Bereits im ersten Satz des Romans wird der Titel aufgegriffen und der Bezugspunkt genannt. Was geschieht in der Zeit, nachdem Mattias gestorben ist.
Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven:
Im ersten Kapitel steht Mattias Freundin Amber im Mittelpunkt, die aus der Ich-Perspektive erzählt, wie sie sich fühlt.
"Trauer ist wie ein Schatten. Der richtet sich nach dem Stand der Sonne, fällt morgens anders als abends."(7)
Während sie im Park ist und an glückliche Zeiten zurückdenkt, wird Amber Zeugin, wie ein Pitbull fast einen kleinen Hund tot beißt. Quentin, ein Freund Mattias, kommt ihr und der Besitzerin des Hundes zu Hilfe. Aus seiner Perspektive wird im 2.Kapitel ein Blick auf Mattias geworfen. Genau wie Amber stellt er seinen Freund als jemanden dar, der sich für Neues begeistern konnte, viele verschiedene Ideen hatte.

"Er konnte sich immer noch für die gerade gehörten Newcomerbands begeistern, die er auf eine Popbühne bringen würde, und genauso sehr auch für die Schüler, denen er während des Rests der Woche Nachhilfeunterricht gab, weil sie zu ihm aufschauten und seinen Erzählungen lauschten und weil er auf die Weise wenigstens noch etwas damit anfing, dass er vier Jahre Geschichte studiert hatte." (13)
Seine neueste Idee, von der Amber und Quentin sprechen, ist es, gemeinsam mit Quentin ein Café aufzumachen - wie genau dies aussehen soll, wird im Lauf des Romans aus anderer Perspektive erzählt.
Amber beschäftigt es, dass sie darüber am letzten Tag gestritten haben, man erfährt jedoch nicht, wie Mattias gestorben ist. Auch das erschließt sich allmählich, wenn man - wie es auf dem Buchrücken heißt - alle "Puzzleteile" zusammengefügt hat.
Neben Freundin und Freund kommen auch die Großeltern zu Wort, doch bei ihnen steht weniger Mattias als Enkel im Vordergrund, sondern ihre Ehe selbst, die lange Zeit, die sie schon zusammen sind, während die Mutter Kristianne das Bild eines anderes Mattias zeichnet - einen empathischen, jungen Mann in den Vordergrund rückt, der auf Harmonie bedacht gewesen ist. Dieses Bild vermittelt auch Issam, ein Roadie, der Mattias nur über das Internet gekannt hat.
Was mir besonders gut gefallen hat, sind die zusätzlichen Verbindungen zwischen den Kapiteln - neben dem "Bindeglied" Mattias.
So trainiert Quentin, der seiner Trauer mit Laufen begegnet, einen Blinden, Chris, der selbst zu Wort kommt und erzählt, was Quentin ihm über Mattias anvertraut hat. Und Tirra ist eine Frau, die Kristianne im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Arbeit für Flüchtlinge kennengelernt hat - so werden auch die Geschichten der Personen weiter geschrieben, die von der Zeit "nach Mattias" berichten. Wobei man sich auch der Antwort nähert, wie er gestorben ist.
Bei einer Figur - Nathan, die aus ihrem Leben erzählt, weiß man zunächst nicht, was sie mit Mattias zu tun hat, das erschließt sich erst ganz am Ende.
Insgesamt entsteht allmählich ein Bild dieses jungen Mannes, der tot ist, und gleichzeitig erfahren wir, wie das Leben "nach Mattias" weitergeht, wie Trauer "aussieht" für die Personen, denen er etwas bedeutet hat und auch für andere, deren Leben er nur am Rande berührt hat.

Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!


Dienstag, 3. März 2020

Daniela Krien: Muldental

- ein Erzählband

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich letztes Frühjahr "Die Liebe im Ernstfall" in einer Leserunde auf whatchaReadin gelesen habe und die lose verknüpften Geschichten von fünf Frauen micht begeisterten, freute ich mich besonders auf den neuen Erzählband von Daniela Krien.

Wie sie selbst im Vorwort schreibt, sind die 11 Erzählungen aus einem kleinen "Notizheft voller Geschichten", aus "Skizzen von Lebensdramen" (9) entstanden, wie

"Überschuldeter Handwerker begeht Selbstmord" (9).

Daraus entstand die Erzählung "Sommertag", in der ein Schreiner nach der Wende einen Aufschwung erlebt, Kredite angeboten bekommt und mit der finanziellen Freiheit nicht umzugehen weiß. Seine Frau gibt das Geld mit vollen Händen aus, gönnt sich das, was sie sich immer schon gewünscht hat, bis die Rechnungen und Mahnungen überhand nehmen und der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Otto Gerling ist ein "Wendeverlierer oder ein Kapitalismusopfer" (198), wie es in der Erzählung "Der Zigarettensammler" heißt. Menschen, die am politischen und gesellschaftlichen Umbruch scheitern und "trudelnd" (Klappentext) zurückbleiben.

Die erste Erzählung spielt im "Muldental", einem ehemaligen Landkreis (1994-2008) in der Nähe von Leipzig, der in "Ort der Vielfalt" umbenannt wurde, also geographisch im Osten der Republik verortet ist. Marie lebt dort mit ihrem Mann Heinz, einem Künstler, den sie zu DDR-Zeiten auf Druck der Stasi bespitzelt hat und der sie heute dafür büßen lässt. Mit wenigen Worten gelingt es Daniela Krien das Innenleben der Figuren darzustellen, bedrohliche Situationen zu schildern und bei den Leser*innen Empathie zu wecken - auch für die Täter. So empfindet man tatsächlich in der Erzählung "Heimkehr" - die Namensgleichheit mit Kafkas Parabel ist meines Erachtens kein Zufall - tatsächlich Mitleid mit einem verurteilten Mörder, der eine lieblose Kindheit erfahren hat, von den Eltern missachtet, von den Mitschüler*innen ausgegrenzt, gehänselt, weil er ein "Daumenlutscher" ist. Dass diese Lebensumstände zu aggressivem Verhalten führen, scheint genauso plausibel, wie das destruktive Verhalten der jungen Anna in der Erzählung "Mimikry", die permanent mit Vorurteilen gegenüber den "Ossis" konfrontiert wird und von der nun im Westen Anpassung gefordert wird.

Die Erzählung "Freiheit", basierend auf der Notiz "Junge Frau entscheidet sich für Spätabtreibung" (9) führt besonders gut vor Augen, dass - wie Krien im Vorwort schreibt - "das Individuum seine Entscheidung" (10) frei trifft, aber auch die Verantwortung für jene tragen muss. Diese Geschichte geht wirklich unter die Haut, genauso wie "Aussicht", in der eine pubertierende Tochter sich mit allen Konsequenzen gegen ihre Mutter stellt - danach braucht man als Leser*in erstmal eine Pause.

Daniela Krien schreibt über Menschen, "deren Schicksal ihre Kräfte übersteigt" (10), und es ist wichtig, dass sie diesen Gehör verschafft. Einige Geschichten beziehen sich explizit auf die Wende oder den Osten bzw. die ehemalige DDR, wie "Sarabande in B-Moll", in der eine schizophrene junge Frau kurz vor dem Mauerbau in den Westen reist, weil sie glaubt, dort besser behandelt werden zu können. Andere könnten überall spielen, sind sozusagen unabhängig vom politischen Geschehen.

Mit der Geschichte "Muldental II", die die 1.Erzählung weiterführt und mit "Plan B" verknüpft, schließt dieser Erzählband, der sehr nachdenklich stimmt und dessen eindringliche Geschichten die Leser*innen zwingen, ihre Komfortzone zu verlassen und sie zunächst rat- und sprachlos zurücklassen.
(Glücklicherweise konnte man sich in der Leserunde darüber austauschen!)

Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Erzählband oder einen Roman von Daniela Krien, die eine großartige, zeitgenössische Erzählerin ist und die mit wenigen Worten so viel sagen kann.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.

Sonntag, 23. Februar 2020

Anna Burns: Milchmann

The Man Booker Prize 2018

Leserunde auf whatchaReadin

Das Cover des Romans zeigt einen Sonnenuntergang in verschiedenen Farbschattierungen, orange, pink, rosa, violett - Farben, die der Himmel in der Welt der Ich-Erzählerin nicht haben darf.

"Nach Generationen und Generationen, Vätern und Vorvätern, Müttern und Vormüttern, Jahrhunderten und Jahrtausenden, in denen der Himmel offiziell eine und inoffiziell drei Farben gehabt hatte, durfte doch jetzt nicht einfach so ein bunter Himmel erlaubt sein." (96)

Die Diskussion über einen bunten Sonnenuntergang entbrennt während eines Französisch-Kurses und hat Stellvertreterfunktion in einer Gesellschaft, die nur "Die" oder "Wir" kennt - Schwarz oder Weiß.

Der Roman spielt in den 70er Jahren in Belfast während des IRA-Konfliktes. Das erlebende Ich wächst in einer von Terror und Gewalt beherrschten Gesellschaft auf, in der es wichtig ist, eindeutig Position zu beziehen, die Verweigerer - die IRA-Kämpfer zu unterstützen, die gleichzeitig die katholische Hochburg beherrschen, und gegen alles zu sein, was aus dem Land von der anderen Seite der See kommt. Strikte unausgesprochene Regeln und Gesetze bestimmen z.B. welche Namen oder Fernsehsendungen erlaubt sind, und wenn man dagegen verstößt, macht man sich des Denunziantentums verdächtig.
In dieser aufgeladenen Atmosphäre wird die 18jährige Ich-Erzählerin vom "Milchmann" bedroht. Dessen Namen rührt daher, dass in den Milchkästen die Bomben der IRA versteckt waren und er wird als Einziger beim Namen genannt.
Ansonsten sind im Roman die Figuren nur in ihren Beziehungen zueinander bezeichnet - Schwester eins, Schwager eins, Vielleicht-Freund, Ma, Älteste Freundin oder aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften wie Atomjunge oder Tablettenmädchen. Das liest sich zu Beginn etwas ungewöhnlich, doch letztlich ergibt es einen Sinn. Es verleiht der Geschichte Universalität, das Geschehen könnte theoretisch überall dort stattfinden, wo die Gesellschaft von Terror und Abgrenzung bestimmt wird, wo Gerüchte schnell entstehen und Urteile blitzschnell getroffen werden.  Andererseits verdeutlicht es, wie schwierig es ist, in einer solchen Gesellschaft individuell zu handeln, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und Gesetzen.
Der Ich-Erzählerin wird eine Affäre mit dem Mittvierziger paramilitärischen "Milchmann" angedichtet, obwohl er ihr nachstellt, sie anspricht, sie bittet, in sein Auto zu steigen, ihr andeutungsweise zu verstehen gibt, dass ihr Vielleicht-Freund an einer Autobombe sterben könnte. Jener hat sich verdächtig gemacht, da er den Kompressor eines Bentleys, eines klassischen englischen Wagens, gewonnen und angenommen hat. Die gilt bereits als Verrat.
Gleich im ersten Satz erfahren wir vom erzählenden Ich, dass der Milchmann erschossen wird - immer wieder reflektiert das "erwachsene" Ich die damalige Situation und bewertet ihr Verhalten.
"Damals, als ich achtzehn war, lauteten die Grundregeln in der permanent alarmbereiten Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war: Wenn keine körperliche Gewalt ausgeübt und man nicht direkt verbal beleidigt worden war und keiner in der Nähe blöd guckte, dann war auch nichts passiert." (13)

Die Ich-Erzählerin startet einen Versuch, ihrer Mutter - ihr Vater, der an Depressionen gelitten hat, ist bereits verstorben, von den falschen Gerüchten zu erzählen, doch diese glaubt ihr nicht. So wählt die Ich-Erzählerin den Rückzug, das Schweigen, um die Situation "auszusitzen" und zieht damit die Aufmerksamkeit umso stärker auf sich. Die Tatsache, dass sie in der aufgeladenen politischen Situation im Gehen liest, vorzugsweise Romane aus dem 18./19.Jahrhundert, verleiht ihr den Status einer Übergeschnappten.
Der Autorin gelingt es hervorragend die Bedrohung durch den Milchmann, der niemals handgreiflich wird oder die Ich-Erzählerin auch nur anrührt, zu beschreiben. Die Spannung steigert sich und wird aufgrund der zahlreichen Reflexionen, Einschübe und Zeitsprünge der Erzählerin kaum aufgelöst.
Es entsteht das Psychogramm einer verängstigten jungen Frau, deren Angst sich auch körperlich auswirkt, die abstumpft, sich einkapselt und nicht in der Lage ist, dem Milchmann etwas entgegen zu setzen. Doch es gibt auch positive Figuren, wie den echten Milchmann oder die Französischlehrerin, die sich bemüht, ihren Schülerinnen und Schülern einen neuen Blickwinkel aufzuzeigen. Und einige Figuren entwickeln sich in eine unerwartete Richtung.
Obwohl zu diesem Zeitpunkt Frauen im Gegensatz zu Männern nichts gegolten haben, ihnen keine Macht zugesprochen wurde, zeigen einige Situationen im Roman, dass ein solidarisches, gemeinschaftliches Handeln der Frauen zum Erfolg führt, wie das Aufheben der Ausgangssperre. Andererseits zeigt das Schicksal der Ich-Erzählerin, wie gefährlich es sein kann, sich zur Außenseiterin zu machen, individuell zu handeln.

Ein Roman, der mich wirklich begeistert hat, aufgrund seiner Thematik
- wobei die aktuelle Me Too-Debatte sicherlich zum Erfolg beigetragen hat, ebenso wie der Brexit, der die Grenze in Irland wieder in den Fokus gerückt hat -
seiner außergewöhnlichen Sprache und seines teilweise skurrilen Humors.
Der Gedankenfluss der Ich-Erzählerin ist im wahrsten Sinne des Wortes mitreißend und bleibt es bis zum Schluss.

Vielen Dank dem Klett-Cotta-Verlag für das Rezensionsexemplar!

Donnerstag, 16. Januar 2020

Ulf Schiewe: Der Attentäter

- packender historischer Thriller

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Geschichte des Attentats auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand, das als Auslöser des 1.Weltkrieges gilt, äußerst packend und spannend. Betrachtet wird die Woche vor dem Attentat bis zum Tag, an dem der 1.Weltkrieg entfacht worden ist: 22.6.-28.6.1914. Schauplatz ist überwiegend Sarajevo, das Franz Ferdinand anlässlich eines Militärmanövers besuchen will und das, wie ganz Bosnien-Herzegowina, seit 1878 von Österreich-Ungarn annektiert ist.
Die meisten Figuren des Romans sind historische, erfunden hat Schiewe:
"Major Markovic [österreichisch-ungarischer Geheimdienstoffizier], Hauptmann Simon [ebenfalls Geheimdienst] und die Bordellbesitzerin Svjetlana[...]. Ich brauche sie und ihre Handlungen, um dem Geschehen noch mehr Spannung und Würze einzuhauchen. In Wirklichkeit hat wohl niemand, weder die Polizei noch der Geheimdienst, geahnt, was an jenem schicksalhaften 28.Juni passieren würde - außer den Verschwörern und Drahtziehern des Attentats." (Anmerkungen des Autors, 497)

In mehreren Handlungssträngen, gewürzt mit authentischen Zeitungsberichten aus den Archiven, nähert man sich dem Unglückstag. Dabei erleben wir aus der Perspektive aller Beteiligten mit, wie sie die letzte Woche vor dem Attentat erlebt haben.
Zunächst die Attentäter selbst: Gavrilo Princip, 19 Jahre alt, sowie seine Freunde Trifko und Nedeljko, ebenfalls 19 Jahre alt, die als bosnische Serben den Thronfolger als Vertreter der Besatzungsmacht hassen und die alle an Tuberkulose erkrankt sind und für ihr Vaterland zu sterben bereit sind.
"Ja, das ist unser Todesurteil, denkt Gavrilo. Nicht die Schüsse, die sie in Sarajevo abfeuern werden, auch nicht die Zyanidkapseln, die Danilo für sie in seinem Rucksack aufbewahrt. Nein, es ist die Krankheit, dieser schleichende Tod, der sie befallen hat, das Blut, das sie sich aus der Lunge husten. Ohne die Schwindsucht säßen sie nicht auf diesem elenden Kahn. Vielleicht wäre dann alles anders." (163)
Das Zitat wirft die Frage auf, ob die gesellschaftlichen Umstände, die es nur den Reichen ermöglicht, die Tuberkulose zu besiegen, indem sie in Sanatorien reisen können, dazu führen, dass die Jugendlichen aus ärmlichen Verhältnissen, keine Chance mehr sehen und so den radikalen Entschluss fassen, für ihr Vaterland zu sterben.
Die Innensicht ermöglich so neue Einsichten.

Pavle, Mitglied der Schwarzen Hand, eines nationalistisch-serbischen Geheimbundes, fungiert als Schleuser, die Jungen über die Grenze bringt. Danilo Ilic ist ihr Ausbilder, Begleiter und "Aufpasser".
Im Hintergrund agieren "Dimitrijevic, Mitbegründer und Anführer der Schwarzen Hand, und Tankosic, zweiunddreißig Jahre alt, Major der serbischen Armee und ehemaliger Tschetnik im Kampf gegen die Osmanen" (13), der überzeugt ist, dass die Jungen trotz ihrer Jugend den Auftrag meistern werden:
"Ilic meint, Gavrilo ist lungenkrank und weiß, dass er nicht lange zu leben hat. - Ach, und deshalb ist es ihm egal, dass er dabei draufgeht? - Er will nicht abtreten, bevor er etwas Großes für Serbien getan hat." (17)
Auf österreichischer Seite spielt Potiorek eine entscheidende Rolle, der Landeschef von Bosnien-Herzegowina schlägt alle Warnungen zu einem möglichen Attentat in den Wind und schätzt die Zustimmung zur Monarchie in Sarajewo falsch ein.
"Sarajevo ist sicher. Die Bevölkerung freut sich auf den Besuch. Es ist eine Ehre für diese Stadt." (35)
"Feldzeugmeister Potiorek hat die Armee aus der Stadt verbannt. Wir sollen nicht als Besatzungsmacht auftreten, sagt er. Er will fröhliche Menschen auf den Straßen, die Eure Hoheit mit Begeisterung zujubeln, und keine Soldaten." (49)

Hinzu kommt das Franz Ferdinand ausgerechnet an einem nationalen Gedenktag der Serben in Sarajevo seinen Auftritt hat. Markovic sieht die Gefahr, die davon ausgeht.
"Ein Gutteil der Bevölkerung sieht in der Annexion durchaus einen Vorteil, besonders wirtschaftlicher Art. Nicht wenige, vor allem die bosnischen Serben, betrachten die Österreicher allerdings als Besatzer und Unterdrücker." (37)

Besonders interessant sind die Szenen, die den Thronfolger mit seiner Frau Sophie und den drei Kindern zeigen. Unbekannt dürfte den meisten sein, dass die beiden eine morganatische Ehe führten. Da Sophie von niederem adligen Stand ist, wird sie behandelt wie eine legitimierte Mätresse, die Nachkommen sind von der Thronfolge ausgeschlossen. Aber die beiden lieben sich und Franz Ferdinand hat jahrelang um diese Ehe gekämpft. Im Privaten erscheint er als liebevoller Ehemann und Vater, in der Öffentlichkeit und seinen Untergebenen gegenüber wirkt er jedoch oft cholerisch.
Sie hingegen ist durchweg sympathisch, will ihre Kinder zur Selbstständigkeit erziehen und freut sich auf den Auftritt in Sarajevo, da sie nur bei militärischen Manövern an der Seite ihres Mannes stehen darf. Bei offiziellen Anlässen in Wien ist ihr dies nicht erlaubt.

Im Verlauf der Handlung streben die einzelnen Handlungsstränge aufeinander zu. Die Attentäter nähern sich Sarajevo, das Schleusen über die Grenze ist unglaublich spannend beschrieben, während der Geheimdienst ihnen langsam auf die Spur kommt - zwar fiktiv, trotzdem spannend.
Der Thronfolger reist via Schiff Richtung Sarajevo, Sophie mit der Bahn zu ihrem luxuriösen Domizil, während die Attentäter in ihrem Unterschlupf immer wieder von Zweifeln geplagt werden. Die Innensicht aller Beteiligten ermöglicht den Leser*innen selbst die Attentäter als Menschen wahrzunehmen, ihre Motive nachzuvollziehen, auch wenn man letztlich kein Verständnis für ihre Tat aufbringen kann.

Ein sehr dichter Roman, vor allem die Schilderung des letzten Tages - den muss man zusammenhängend lesen. Die fiktiven Zeitangaben über den Kapiteln verstärken die Dichte der Ereignisse, nebenbei verleihen sie dem Geschehen wie auch die Zeitungsbericht zusätzlich Authentizität.
Besser als alle Geschichtsbücher und viel spannender, war der Tenor in der Leserunde, in der der Autor selbst unsere Fragen beantwortet hat.

Klare Lese-Empfehlung!

Montag, 6. Januar 2020

George Eliot: Middlemarch

"Eine Studie über das Leben in der Provinz"

Leserunde auf whatchaReadin

In der wunderschönen Neuausgabe erwartet die Leser*innen zu Beginn ein Vorwort, das sowohl eine inhaltliche Übersicht mit Vorwegnahme des Schlusses (!) sowie "Interpretationshilfen" liefert. Das ist eher ungewöhlich, erwartet man die Deutung doch eher im Nachwort, das zusätzlich existiert und Erläuterungen zur Entstehung, Struktur und Intention des Romans bietet.

Hilfreich beim Vorwort ist die Strukturierung der Handlung und das Vorstellen der wichtigsten Frauenfiguren, die "verschiedene Facetten von Weiblichkeit" (5) zeigen.

Im Mittelpunkt der Handlung, die 1828 beginnt und im ländlichen Middlemarch, einer Kleinstadt in England, spielt, steht die 17-jährige Waise Dorothea Brooke, die mit ihrer Schwester Celia auf dem Gutshof ihres Onkels lebt. Sie ist tief religiös und neigt dazu, sich selbst zu kasteien, wobei sie gleichzeitig bestrebt ist Gutes zu tun, indem sie z.B. Pläne zeichnet, um die Häuser der Pächter zu verbessern. Sie strebt nach Wissen, das ihr als Frau verweigert wird, so dass sie den unattraktiven, leidenschaftslosen geistlichen Mr. Casaubon als Ehemann erwählt.

Ihr Onkel, der ein Aufschneider ist und dessen Bemerkungen „wie [...] abgebrochene[...] Flügel eines Insekts unter all den anderen Bruchstücke, [die] in seinem Geist herumlag(en)“ (37), erscheinen, lässt Dorothea die freie Wahl, sofern sie standesgemäß (!) heiratet.
Doch sie weiß, was sie will. Sie möchte Mr Casaubon dienen, seine Arbeit unterstützen, um an seinem Wissen zu partizipieren.

„In einer wahrhaft bezaubernden Ehe war der Gatte eine Art Vater und konnte einem Hebräisch beibringen, falls man es wünschte.“ (26)

Den Leser*innen ist von Anfang klar, dass diese Ehe nicht glücklich werden kann. Der kommentierende, auktoriale Erzähler gibt uns zahlreiche Hinweise darauf, stellt aber auch Mr. Casaubons Sichtweise war. Das ist eine der Besonderheiten des Romans, da der auktoriale Erzähler die Figuren von mehreren Seiten beleuchtet, so dass eine Mehrdeutigkeit bzw. Vagheit entsteht. In einer komplexen Welt sind die Motive und Handlungen nicht immer monokausal, das zeigt Eliot auf und sie lässt uns Interpretationsspielraum. Eine Folge davon waren viele Diskussionen während der Leserunde ;)

Dorothea, die im "Vorspiel" mit der Heiligen Therese verglichen wird, sieht die warnenden Anzeichen nicht, dass ihr Zukünftiger ihr nicht das wird geben können, was sie erwartet.

„Dorotheas Glaube fügte all das hinzu, was Mr. Casaubons Worte ungesagt zu lassen schienen. Welcher Gläubige bemerkt schon eine störende Auslassung oder eine ungeschickte Formulierung.“ (77)

So versuchen einige Figuren sie von ihrem Vorhaben abzubringen, wie Mrs. Cadwallader, "eine Dame von unermesslicher Geburt, gewissermaßen aus dem Geschlecht unbekannter Adeliger" (80), die die Preise herunterhandelt und gleichzeitig ist sie die "Diplomatin von Tipton und Freshitt, und alles, was ohne sie geschah, war eine kränkende Regelwidrigkeit" (91). Als sie von der Verlobung zwischen Doro und Mr. Casaubon erfährt, ist sie entsetzt und macht Mr. Brooke Vorwürfe, doch die Sache ist beschlossen, worauf sie Sir James Chettam, einem Adligen, der ernsthaft an Doro interessiert ist, warnt und ihm rät, sich der jüngeren Schwester zuzuwenden.

Sir James zeigt Größe und schluckt seinen Stolz herunter, er wird Celia heiraten, die "mit dem beschränkten Wirkungsfeld zufrieden [ist], das ihr das Leben auf Freshitt Hall bietet, [so] verkörpert sie eine ruhige von Lebensweisheit geprägte weibliche Stabilität." (7)

Ihr Leben ist gleichzeitig als Gegenentwurf zu Dorotheas Ansprüchen zu lesen, Celia erscheint pragmatisch, verändert sich im Verlauf des Romans nicht. Allerdings unterwirft sie sich keinesfalls ihrem Gatten bedingungslos, sie kann ihren Willen durchsetzen, indem sie die Waffen der Frauen - die Tränen - gezielt einsetzt.

Eine Strategie, die Rosamond Vincy, Tochter eines erfolgreichen Fabrikanten, perfekt beherrscht. Sie hat es auf den ehrgeizigen, jungen Arzt Tertius Lydgate abgesehen, der neu in Middlemarch ist.

"Sie will eine gute Heiratspartie machen, wünscht sich Wohlstand und soziale Anerkennung, die mit diesem im viktorianischen Großbürgertum einhergeht." (9)

Das Schicksal Lydgates nimmt neben der Dorotheas den größten Raum im Roman ein.
"Für George Eliot, die sich intensiv mit der medizinischen Forschung auseinandersetzte, war dies offenbar der ursprüngliche thematische Kern des Romans um Lydgate und Middlemarch." (1127, Nachwort)
Er muss sich mit seinen neuen medizinischen Methoden in der Gesellschaft Middlemarchs behaupten und gerät in einen Loyalitätskonflikt, der weitreichende Folgen für ihn hat. Zudem lebt er über seine Verhältnisse und ist zu schwach, um Rosamond Widerstand entgegenzusetzen, die sich aus meiner Sicht als die unsympathischste Frauenfigur entpuppt.

Mary Garth, Tochter eines Grundstücksverwalters, die Einzige, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen muss, ist eine weitere Frauenfigur im Roman, deren Bodenständigkeit sich wohltuend von Rosamonds Snobismus abhebt. Ausgerechnet Rosamonds Bruder Fred, der sein Examen nicht bestanden hat und auf ein reiches Erbe hofft, sich von Marys Vater Geld geliehen hat, das er nicht zurückzahlen kann, will Mary zur Frau nehmen. Die beiden kennen sich von Kind an und lieben sich, jedoch will Mary ihn erst dann heiraten, wenn er seine Lebensweise ändert. Es stellt sich die Frage, ob ihm das gelingen kann, ist er doch von seiner Mutter verzogen worden und scheint den Ernst des Lebens (noch) nicht begriffen zu haben.

Eine weitere wichtige Figur in diesem Personentableau ist Will Ladislaw, ein junger, attraktiver Mann und der Neffe Mr. Casaubons. Auf Dorotheas Hochzeitsreise nach Rom, die Mr. Casaubon hauptsächlich für seine Studien nutzt, er arbeitet an einem Schlüssel zu allen Mythologien, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Will und Doro, wobei sich der junge Mann hoffnungslos in Dorothea verliebt, die jedoch in aller Unschuld ihrem Gatten treu ergeben ist. Man kann vermuten, dass im Lauf der Handlung diese Beziehung, auf die Mr. Casaubon sehr eifersüchtig ist, noch eine entscheidende Rolle spielen wird.

Die sehr komplexe Handlung ist gekennzeichnet durch Parallelen und Gegensätze, diese verbinden die Figuren und deren Schicksale miteinander, die Verflechtungen sind vielfältig.
Das Ziel des auktorialen Erzählers ist es, "bestimmte Schicksale zu entwirren und zu sehen, wie sie gewoben und ineinander verwoben sind, dass ich alles Licht, über das ich verfüge, auf dieses spezielle Gewebe konzentrieren muss und nicht über jene verlockende Fülle von Bedeutsamkeiten verstreuen darf, die man das Universum nennt." (15.Kapitel)

Eliot entwirft ein authentisches Bild der englischen Klassengesellschaft auf dem Land, historischer Hintergrund bietet dabei die Parlamentsreform von 1832. In den Kommentaren des auktorialen Erzählers spiegeln sich das Denken und die Einstellungen der Autorin zum Landadel und zum Bürgertums wider. Im besonderen Fokus steht das zeitgenössische Frauenbild, das Frauen zugesteht, ergebene Ehefrauen zu sein, die ihren Männern dienen und schmückendes Beiwerk abgeben sollen.
Nur Männern ist es vergönnt - ihren Verstand zu gebrauchen, Frauen handeln nach Gefühl und sind nicht in der Lage zu denken, so lautet die gängige Meinung.

"Es ist anstrengend, mit solchen Frauen zu reden. Sie wollen immer Gründe haben und wissen doch zu wenig, als dass sie den eigentlichen Wert einer Frage verstünden, und im Allgemeinen greifen sie auf ihr Moralgefühl zurück, um die Dinge nach ihrem eigenen Gutdünken zu regeln." (134)
 - da hat sich doch einiges im Vergleich zu 1829 geändert.
Bezeichnenderweise hat die Autorin Mary Ann Evans unter dem männlichen Pseudonym George Eliot ihren Roman veröffentlicht - allerdings stand sie nie an der Front der Frauenbewegung. Alle Frauenfiguren im Roman, auch Dorothea sehen in der Ehe die Bestimmung der Frau.

Für manche mag die Sprache des Romans gedrechselt klingen, eine Kritik, die auch die Zeitgenossen ausgesprochen haben. Das Nachwort greift diese Kritik auf, doch der Übersetzer gibt zu bedenken, dass "der Stil zugleich auch Ausdruck der Philosophie der Autorin [sei]; ihre komplexen und komplizierten Satzstrukturen, ihre Bemühungen um ein Geflecht von kausalen Beziehungen der Nebensätze, um Aufdeckung von Parallelen und Kontrasten stimmt mit ihrer Gesellschaftstheorie [Gesellschaft als Organismus, in dem alles miteinander in Verbindung steht] überein (weshalb in der vorliegenden Übersetzung Wert darauf gelegt wurde, die komplexen Satzstrukturen ins Deutsche hinüberzuretten.)" (1131)

Um diesen umfangreichen Roman zu lesen, braucht es daher Muße, Ruhe und den Willen, sich auf diese vergangene Welt und die vielfältigen Figuren in ihrem Beziehungsgeflecht einzulassen, einzutauchen in ihre Geschichten, die Eliot in ihrer - aus meiner Sicht - wunderbaren Sprache erzählt.

Klare Lese-Empfehlung!