Sonntag, 18. September 2022

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

- ein lyrischer Roman.
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann

Leserunde auf whatchaReadin

"Die Welt ist eine Dichtung meiner Sinne." (Nachwort)

Diese Aussage steht auf einer Gedenktafel am Haus, in dem Manner gewohnt hat und unter dieser Prämisse sollte man diesen Roman auch lesen.
In der Leserunde waren wir teilweise etwas ratlos ob der Interpretation und es stellten sich Fragen: Wer erzählt, ob ein reales Geschehen geschildert wird, ob die Figur der neunjährigen Leena, die von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist, authentisch sein kann.
Mir hat das Statement des Verlegers, das er uns freundlicherweise hat zukommen lassen, geholfen, den Roman besser zu verstehen. 
Im Mittelpunkt steht meines Erachtens die poetische Darstellung der inneren Welt Leenas, die Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen, die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt. Ist ihre Trauer eine Kategorie, die wir als Erwachsene anlegen, fragt Antje Rávik Strubel im Nachwort oder nimmt Leena die Welt nur anders wahr?

"Es war eine sonderbar kraftlose und trotzdem grenzenlose Trauer, sie war überall in ihr und Leena spürte, dass nichts, wirklich nichts sie davon befreien konnte. Es war eine endlos lange, ewige Trauer, eine Trauer, die nicht zu erklären und dennoch selbstverständlich war." (17)

Oberflächlich könnte man sagen, ihre Trauer erwachse daraus, dass ihre Mutter im Kindbett gestorben, der Vater, ein Trinker, nicht anwesend ist. Sie wächst bei ihrer Großmutter auf, die selbst von Trauer erfüllt ist, da ihr Sohn im Meer ertrunken ist und ihr Mann, der diesen aus dem Haus gejagt hat, sich erhangen hat. Zudem fühlt sich Leena in der Schule unwohl, denn ihre Lehrerin zeigt ihr gegenüber keinerlei Empathie.

Doch ihre Trauer berührt existentielle Fragen. Während sie am Fenster sitzt, dem Regen zusieht, der an der kalten Scheibe herunterläuft, fragt Leena sich, warum sie so traurig sei.
"Worüber sie weinte, das wusste sie nicht, und genau deshalb erschien ihr alles so traurig. Haus, Himmel, Baum, Wolken ...alles war wie für diese Trauer bestimmt. Natürlich auch sie. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war - , daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (18)

Die Frage, ob sie etwas an ihrem Schicksal ändern kann oder ob alles vorherbestimmt ist, wird im Schlüsselgespräch (das man mindestens zweimal lesen muss) zwischen ihr und dem blinden Organisten Filemon thematisiert sowie in dem Gespräch zwischen ihr und der Nonne Elisabeth, eine der wenigen positiven Figuren im Roman, die ihr einen Moment des Haltes geben können.
In der Kirche, in der sie sich begegnen, erfährt Leena auch den wohltuenden Zauber der Musik, das ein Motiv neben dem des Wassers und ihrer (vermeintlichen) Todessehnsucht ist.

"Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben? Und plötzlich wusste sie es. Und sie wusste es, als wäre sie irgendwann im Wasser gestorben." (22)

Will sie wirklich sterben oder spiegelt sich in Leenas Gedanken die Einsamkeit der Autorin wider, die ebenfalls ohne Eltern aufgewachsen ist, in einer Stadt, die von 1939 von der Sowjetunion eingenommen wurde und die sie verlassen musste.
Im Roman "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" führt sie uns in ihrer Protagonistin Leena ein Sehen vor,
"das nicht unterscheidet zwischen den Sphären des Wirklichen und der Fantasie, den Sphären des Erlebten und des Erinnerten, des Erfahrenen und Erträumten, der Sphäre des Diesseitigen und Jenseitigen." (Nachwort, 142)

Diesem "Sehen" zu folgen, erschwert das Verständnis des lyrischen Romans, der jedoch, wenn man sich darauf einlässt und fokussiert, durch seine poetische Sprache zu verzaubern vermag.

Donnerstag, 1. September 2022

Stefanie vor Schulte: Schlangen im Garten

 - ein fantastischer Roman über das Trauern.

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich Anfang des Jahres das Märchen "Junge mit schwarzem Hahn"von Stefanie vor Schulte gelesen hatte, das mir sehr gut gefallen hat, freute ich mich auf ihren neuen Roman, der ungewöhnlich startet.
"Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe." (5)

Seine Frau ist Johanne Mohn, wahrscheinlich an einer Krebserkrankung gestorben, Näheres erfahren wir zunächst nicht. Sie hinterlässt ihren Mann Adam, der seine Arbeit kündigt, sowie drei Kinder. Steve, der Älteste unterbricht sein Studium, zieht wieder nach Hause und kümmert sich um seine jüngeren Geschwister Micha (11) und Linne (12), da der Vater in seiner Trauer gefangen ist.
"Was tust du bloß hier, denkt er oft. Wo doch Trauer ein Zimmer ist, das du gut kennst. Es hat ein Fenster, Tisch, Bett und Stuhl. Es ist gefüllt mit Leben, mit Langeweile, mit anderem. Aber eines Morgens ist es anders, und du setzt die Beine aus dem Bett auf den Boden und senkst deine Füße in stumpfes Schwarz, das durch deine Fußsohlen in dir emporwächst, und wenn du aufstehst, dauert jede Bewegung eine Ewigkeit, und willst du aus dem Fenster schauen, gibt es dort nichts mehr zu sehen, weil die Scheiben blind sind und Pech an ihnen herabrinnt." (25 f.)

In sprachgewaltigen Bildern findet vor Schulte Worte für die Gefühle der Mohns, die jeden Abend Seiten der Tagebücher der Mutter essen, ohne sie zu lesen, weil Adam ihr versprochen hat, dass niemand sie lesen werde. Als wollten sie sich ihre Erinnerungen einverleiben, um sie nicht zu vergessen. Nur Linne stiehlt Papierfetzen, um sie heimlich zu lesen.
Auch die Gegenstände vermissen die Mutter:
"Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen."(6)

Hat man nach dem Lesen des 1.Kapitels zunächst den Eindruck erneut in einer fantastischen Welt zu sein, entspricht in den folgenden Kapiteln das Setting unserer realen Welt: Die Kinder gehen zur Schule, es gibt ein Schwimmbad, eine Straßenbahn, nervige Nachbarn. Und doch schlängelt sich das Fantastische in die Handlung.
Linne, die eine unbändige Wut in sich trägt und sich auf dem Schulhof prügelt, ihre Art mit der Trauer umzugehen, wird zum Direktor bestellt.
Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist - eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger - eine "Schlange im Garten". Über die Bedeutung des Schlangen-Motivs haben wir in der Leserunde ausführlich diskutiert.

Steve sieht in allem Gesichter, genau wie die Mutter, sie lähmen ihn, so dass er in Situationen verharrt und nicht weitergehen kann.
Micha empfindet sich selbst als Wasser, "auch tagsüber kann er die Brandung in sich hören. Dann siehst er sich selbst, als sei er nur eine zarte äußere Micha-Linie, die sein wahres Ich umrahmt, ein Wellenspiel, das Glitzern, darüber der Himmel." (8)

Zu Beginn trauert jeder für sich allein, sind sie ohne die Mutter keine Einheit mehr. Ihre Nachbarn denunzieren sie aufgrund ihrer unmäßigen Trauer beim Traueramt, da sie nicht mehr in zum normalen Leben fähig sind.
Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58), den "wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an. (76)
Das fiktive Trauerarbeit offenbart vor Schultes Kritik an der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Kultur, der Trauer nur wenig Raum zu geben, möglichst schnell wieder zum alltäglichen Leben, zur Leistungsfähigkeit zurückzufinden.
Auch die weiteren Figuren, die aus dieser Gesellschaft herausgefallen sind und mit der Familie in Kontakt treten, verdeutlichen diese Kritik. Da ist die obdachlose Dame mit Hund, der eigentlich ein Ball ist, die Figur des Herrn Brassert auf dem Friedhof, den die Kinder jeden Nachmittag besuchen und der seine eigene Art gefunden hat, mit seiner Trauer umzugeben. Jede der Mohns freundet sich mit einer weiteren Figur an und alle bilden sie im Verlauf des Romans eine skurrile Gemeinschaft, wobei das Fantastische allmählich die Überhand gewinnt.
Am Ende hätte ich mir einen deutlicheren Rückbezug zur Realität gewünscht, doch insgesamt haben mich die originelle Art und Weise, wie vor Schulte vom Trauern erzählt, ihre ungewöhnlichen Bilder und die Motive, die sie verwendet, überzeugt.

Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Lese-Exemplar!