Sonntag, 30. Oktober 2016

Patrick Süskind: Die Geschichte von Herrn Sommer

- ein klassische Novelle.

Illustration von Sempé, Seite 2
Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 130 Seiten mit Bildern von Sempé
Verlag: Diogenes
Erschienen: 1991
ISBN-13: 978-3257018959

Diese kurze Novelle habe ich auf Miras Blog entdeckt und ihre Rezension hat mich so neugierig gemacht, dass ich das Werk selbst lesen wollte. Von Patrick Süskind kenne ich "Das Parfüm" und bin begeistert von seiner präzisen Sprache und seiner Beobachtungsgabe, die sich auch in der Novelle zeigen.

Inhalt
In einer Novelle gibt es nur einen Handlungsstrang, in dem Fall erzählt der Ich-Erzähler von seiner Kindheit, genau genommen von der Zeit,

"als ich noch auf Bäume kletterte - lang, lang ist´s her, viele Jahre und Jahrzehnte, ich maß nur wenig über einen Meter, hatte Schuhgröße achtundzwanzig und war so leicht, daß ich fliegen konnte - nein, das ist nicht gelogen, ich konnte wirklich fliegen damals- oder wenigstens fast, oder sagen wir besser: es hätte seinerzeit tatsächlich in meiner Macht gelegen zu fliegen, wenn ich es nur wirklich ganz fest gewollt (...)" (S.1)

Assoziativ reiht der Erzähler seine wichtigsten Erlebnisse aneinander wie seinen schlimmer Sturz aus viereinhalb Meter Höhe, den er exakt nach den Fallgesetzen berechnet, der jedoch auch Folgen hinterlassen hat:

"Auch glaube ich, daß eine gewisse Konfusion und Unkonzentriertheit, an der ich neuerdings leide, eine Spätfolge jenes Sturzes von der Weißtanne ist. So fällt es mir beispielsweise immer schwerer, beim Thema zu bleiben (...)" (S.12)

Die meiste Zeit seiner Kindheit verbringt er auf Bäumen, von dort kann er alles überblicken und sieht so den seltsamen Herrn Sommer, dessen Frau Puppenmacherin ist und der selbst überall bekannt ist, da er permanent rastlos zu Fuß unterwegs ist. Auf seinen Spaziergängen kreuzen sich die Wege des Ich-Erzählers und die von Herrn Sommer - immer an einschneidenden Erlebnissen.
So trifft er Herr Sommer nach einer furchtbaren Klavierstunde, in der er sich den Zorn seiner Klavierlehrerin zugezogen hat - eine wunderbar detailliert geschilderte Szene - und beschlossen hat, sich aufgrund der Ungerechtigkeit der Welt von einem hohen Baum zu stürzen.
Bevor er den Sprung in die Tiefe wagt, sieht er Herrn Sommer, der versucht, sich unter dem Baum hinzulegen, jedoch keine Ruhe findet - genau das ist es jedoch, was er sucht. So sagt er zum Vater des Ich-Erzählers, als dieser ihn im Auto nach einem Hagelsturm mitnehmen möchte:

"Ja so laßt mich doch endlich in Frieden!" (S.39)

Den findet er am Ende der Novelle, wenn der Ich-Erzähler an der Schwelle zum Erwachsenenleben steht.

Bewertung
Die Sprachsensibilität der Novelle spiegelt sich nicht nur in den geschaffenen Sätzen und Bildern, sondern Süskind thematisiert sie sogar, indem der Vater des Ich-Erzählers sich über "Stereotype" auslässt und dabei selbst einen benutzt:

"und ein Stereotyp - merkt euch das ein für allemal! - ist eine Redewendung, die schon so oft durch die Münder von Krethi und Plethi (!) gegangen ist, daß sie überhaupt nichts mehr bedeutet." (S.38)

Neben der Sprachfertigkeit ist es aber die skurrile Geschichte von Herrn Sommer und die seltsamen Erlebnisse des Ich-Erzählers, die faszinieren. Neben mathematischen Berechnungen der Fallgeschwindigkeit, gibt der Erzähler zu unzuverlässig zu sein, immer wieder den Faden zu verlieren. So setzt er ein paar Mal an, bis er vermeintlich die Geschichte von Herrn Sommer erzählt. Oder ist es die eigene? Gibt es Herrn Sommer überhaupt? Sein Ende ist jedenfalls sehr befremdlich und hat mich zu der Annahme verleitet, dass Herr Sommer sozusagen symbolisch die Kindheit des Ich-Erzählers begleitet und mit seinem Ende wird aus dem Kind ein Erwachsener. Dieses ruhelose, rastlose Herumwandern könnte bildlich für die Suche nach der eignen Identität stehen, der Wunsch Ruhe zu finden, dafür anzukommen in der Welt der Erwachsenen (?) Eine Novelle, die so schön sie zu lesen und anzuschauen ist, viel Stoff zum Nachdenken liefert und Fragen offen lässt. Die Antworten dürfen wir selbst suchen - ein Glücksfall!


Samstag, 29. Oktober 2016

Kristin Hannah: Die Nachtigall

- eine beeindruckende Geschichte vom Widerstand zweier Schwestern im besetzten Frankreich.

Hörbuch
18 Stunden
Gesprochen von Luise Helm
Erschienen im Aufbau-Verlag

Inhalt
Der Roman spielt zunächst in den USA, eine alte Dame, die Ich-Erzählerin, von Krankheit gezeichnet, hat ihr Haus verkauft. Sie steigt mühsam auf den Dachboden und sucht ihren alten Überseekoffer mit Erinnerungsstücken, wobei ihr Sohn Julien sie findet.

Im Rückblick wird im Folgenden die Geschichte zweier Schwestern - Vianne Moriac und Isabelle Rossignol - jeweils aus deren personalen Perspektive erzählt. Die Mutter der Mädchen ist gestorben, als Vianne 14 Jahre alt gewesen ist. Der Vater, ein Veteran des 1.Weltkrieges, sieht sich außer Stande die Mädchen groß zu ziehen und schickt sie in das Elternhaus seiner verstorbenen Frau "Le Jardin" in einer kleinen Stadt in Frankreich, in dem Madame "Unheil", wie Isabelle sie nennt, die Kinder versorgt, ohne ihnen eine Mutter zu ersetzen.
Vianne ist so in ihrem Kummer gefangen, dass sie sich nicht um ihre kleine Schwester kümmern kann. Sie verliebt sich Antoine, den schönsten Jungen des Ortes, und wird bereits mit 16 Jahren schwanger. Als sie das Kind verliert, ist so in ihrer Trauer gefangen, dass sie Isabelle sträflich vernachlässigt und diese in ein Internat abschiebt. Es ist eines von vielen, aus denen Isabelle flüchtet. Die eigentliche Handlung setzt unmittelbar vor der Invasion der Deutschen in Frankreich im Jahre 1940 ein. Während Isabelle erneut aus einem Internat herausfliegt und zu ihrem Vater nach Paris fährt, wird Antoine einberufen und muss Vianne und ihre gemeinsame 10jährige Tochter Sophie zurücklassen. Isabelle wird von ihrem Vater zu ihrer Schwester geschickt, gerät auf der Fahrt dorthin in einen Angriff der Deutschen und wird verletzt. Dabei lernt sie einen Widerstandskämpfer kennen, in den sie sich verliebt und der sie zu ihrer Schwester bringt, sie dort aber zurücklässt. Es fällt Isabelle schwer, sich im besetzten Frankreich einzufügen. Nach einer Rede Charles de Gaulles steht ihr Plan, sich der Résistance anzuschließen, fest. Zeitgleich wird ein deutscher Hauptmann in "Le Jardin" einquartiert, der sich nur allzu menschlich zeigt und nicht dem Bild des Feindes entspricht. Kollaborieren, sich widersetzen, offen Widerstand zeigen? Diese Fragen treiben die beiden Schwestern um. Isabelle findet schließlich ihren Weg zur Résistance und unter Einsatz ihres Leben bringt sie britische und amerikanische Piloten über eine Route durch die Pyrenäen in Sicherheit - die Route der Nachtigall.

Rossignol bedeutet übersetzt Nachtigall. Dieser Teil der Geschichte basiert auf der wahren Lebensgeschichte der Belgierin Andrée de Jongh, der es gelungen ist, 118 Piloten das Leben zu retten.
Währenddessen versucht Vianne zu überleben, sehr realistisch schildert die Autorin den täglichen Kampf um Lebensmittel, die permanente Angst in den Fokus der Besatzer zu geraten und die unbarmherzige Kälte des Winters. Dann werden die ersten Juden deportiert, auch Viannes beste Freundin Rachel steht auf der Liste und Hauptmann Beck versucht ihr zu helfen - vergeblich. Doch es gelingt Vianne Ari, den kleinen Sohn Rachels zu retten, indem sie ihn als den Sohn einer verstorbenen Cousine ausgibt und ihm gemeinsam mit Beck falsche Papiere besorgt.
Auch Vianne beweist Mut und geht ein hohes Risiko ein, um weitere jüdische Kinder zu retten und erträgt Unmenschliches, um das Leben Aris und Sophie zu bewahren.

Immer wieder springt die Handlung ins Jahr 1995: Die Ich-Erzählerin erhält eine Einladung zu einem Passeur-Treffen. Passeur werden diejenigen genannt, die anderen zur Flucht aus dem besetzten Frankreich verholfen haben. Spontan entschließt sie sich, sich ihrer Vergangenheit zu stellen und die Einladung anzunehmen. Es bleibt verborgen, ob sich hinter der älteren Dame Vianne oder Isabelle verbirgt - das wird erst ganz am Ende auf dem Passeur-Treffen in Paris aufgelöst.
So viel sei verraten, dass beide Schwestern den Krieg überleben, wenn auch nicht unversehrt....

Bewertung
Der Roman ist 2015 in den USA unter dem Titel "The Nightingale" erschienen und hat sich sehr gut verkauft. In einer Rezension des Kirkus Reviews ist die Rede davon, dass die Tendenz der Autorin, die Geschichte sentimental zu gestalten ihre Ernsthaftigkeit untergrabe, der Roman jedoch respektabel und fesselnd sei.
Das trifft ziemlich genau meinen Eindruck. Mit 18 Stunden ist das Hörbuch recht umfangreich, die Geschichte zieht die Hörenden jedoch sofort in ihren Bann und lässt einen nicht mehr los. Beide Schwestern bieten auf ihre unterschiedliche Art und Weise Identifikationsfiguren.
Isabelle mit ihrem Mut, ihrer Leichtsinnigkeit und ihrem kindlichen Wunsch geliebt zu werden: Von ihrem Vater, der sie abweist, nicht in der Lage ist, aus dem eigenen Gefängnis, in das der 1.Weltkrieg ihn gezwungen hat, herauszukommen. Von dem jungen Widerstandskämpfer, der sie abweist, um sie zu schützen. Und schließlich von ihrer Schwester. Diese junge Frau ist, obwohl sie die Tragweite ihres Handelns nicht abschätzen kann, ein leuchtendes Vorbild - selbstlos rettet sie die Piloten vor dem sicheren Tod und beweist im weiteren Verlauf der Handlung großen Mut und Durchhaltewillen.

Vianne ist zarter, verletzlicher und bemüht sich zunächst, der Gefahr aus dem Weg zu gehen. Sich bedeckt zu halten, nicht aufzufallen und keinen offenen Widerstand zu zeigen. Ihr geht es darum, ihre Tochter zu beschützen und Kontakt zu ihrem Mann aufnehmen zu können, die sie beide über alles liebt. Doch als ihre Freundin deportiert wird, verändert sich ihr Verhalten - und auch sie leistet auf ihre Art und Weise Widerstand und beweist großen Mut - viel mehr will ich hier nicht verraten.

Der Vorwurf der Sentimentalität ist durchaus gerechtfertigt - vor allem das Ende ist definitiv zu "kitschig". Andererseits berührt die Geschichte auch dadurch, dass sie die emotionale Ebene anspricht und die ein oder andere Szene wirklich ans "Herz" geht. Etwas weniger davon, hätte mir persönlich besser gefallen - nichtsdestotrotz ist der Roman lesenswert oder hörenswert, wozu auch die angenehme Stimme Luise Helms, die auch die Jojo Moyes Roman liest, maßgeblich beiträgt.







Donnerstag, 27. Oktober 2016

Monika Peetz: Die Dienstagsfrauen

- Lesen mir Mira.

Buchdaten

Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
Verlag: KiWi-Taschenbuch
Erschienen am: 24. November 2011
ISBN-13: 978-3462043757

Ich habe schon ganz lange nicht mehr einen Roman abgebrochen, aber ausgerechnet beim Lesen mit Mirella ist es jetzt geschehen. Gemeinsam haben wir beschlossen unsere kostbare Zeit mit guter Literatur zu verbringen - frei nach dem Motto: Das Leben ist zu kurz, um schlechte Bücher zu lesen.

Worum geht es?

5 Frauen haben sich vor 15 Jahren in einem Französischkurs kennengelernt. Die inzwischen erfolgreiche Strafanwältin Caroline, glücklich (?) verheiratet mit Kindern, die vierfache Mutter Eva, die ihre Karriere als Ärztin der Familie  geopfert hat, die quirlige und lebenslustige Kiki, die Designerin, die immer noch auf den großen Durchbruch wartet, die versnobte Estelle, die reich geheiratet hat, und schließlich die sensible Judith, frisch verwitwet - die einzige übrigens, der man Sympathie entgegenbringen kann.

Jeden Dienstag treffen sie sich im Le Jardin und das seit 15 Jahren. Nach dem Tod Arnes, Judiths Mann, findet diese ein Tagebuch, in dem er seine Erlebnisse auf dem Jakobsweg schildert - allerdings ist er aufgrund seiner fortschreitenden Krebserkrankung auf einem Nebenweg gepilgert, der nach Lourdes führt.
Spätestens bei den Vorbereitungen und der ersten Etappe nehmen die klischeehaften Darstellungen Überhand. Wenn Evas Aufbruch geschildert wird - sie hat für 12 Tage vorkocht, überall Klebezettel verteilt, einen mehrseitigen "Fahrplan" geschrieben, frage ich mich unwillkürlich, ob die Autorin so übertreiben muss. Sicherlich gibt es Frauen, die sich für ihre Familie aufopfern, ihre Karriere aufgeben, aber die oberflächliche Darstellung dieser Situation ist unerträglich.
Wenn dann noch Estelle ihren persönlichen "Einkäufer" bittet, ihr ein Wanderoutfit zusammenzustellen und er ihr einen speziellen Roll (!)koffer kreiert - hatte ich schon keine Lust mehr weiterzulesen...bis Seite 150 habe ich trotz allem durchgehalten, Mirella war noch tapferer. Sie hat die Beziehung unter den Frauen in ihrem Blogbeitrag sehr gut dargestellt, dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Schade - ich hatte mir mehr von dem Roman versprochen...beim nächsten Lesen mit Mirella wird es besser werden, da bin ich sicher!

Montag, 24. Oktober 2016

Christoph von Fircks: Grenzverletzungen

Buchdaten
Taschenbuch: 79 Seiten
Verlag: NovaCuriaMedien GmbH
Erschienen 2016
ISBN-13: 978-3-981832105

Ich möchte mich beim Autor Christoph von Fircks für das Leseexemplar bedanken, zu dem ich deshalb gekommen bin, weil Romane und Erzählungen Gegen das Vergessen auf meinem Blog eine wichtige Rolle spielen.

Wie der Autor auf der Rückseite bemerkt, basiert "die Erzählung (...) auf realem Geschehen in den frühen 1960-ger Jahren in der DDR". Er verarbeitet darin seine Studienzeit, die er an der Bergakademie in Freiberg/Sachsen absolviert hat, entstanden ist sie in der Wendezeit 1989.

Inhalt
In einem Cafe sitzen sich zwei ehemalige Studenten der Bergakademie Freiberg gegenüber. Der beruflich erfolgreiche Bernhard ist Referent auf der Tagung, auf der sie sich wieder treffen. Zwei Stunden verbleiben ihnen, um über die Vergangenheit zu reden, aber es ist nicht ihre eigene, die im Vordergrund steht, sondern Protagonist ist der ehemalige Mitstudent Gotthold.
Dabei wendet sich der Ich-Erzähler an Bernhard, der selbst nicht zu Wort kommt, so dass die Erzählung wie ein langer Monolog erscheint, in dem der Ich-Erzähler jedoch vermeintlich auf die Einwände des Gegenüber reagiert.
Während der Ich-Erzähler mit Bernhard keine Freundschaft pflegte, wird jener Gotthold ein treuer Weggefährte, der ihm im Bereich der höheren Mathematik hilft und ein wichtiger Gesprächspartner ist. Entstanden ist diese tiefe Freundschaft während eines Ernteeinsatzes, nach einem Abend, als sich Gotthold alkoholisiert dem Ich-Erzähler gegenüber öffnet:
"Nicht erwarten könne er es, fertig zu werden, endlich Mensch sein zu dürfen. Er bitte täglich um Ideen, kämpfe um die Wissenserweiterung, um aus den Ideen Wirkungen zu bringen. (...) Gotthold war versessen darauf, anderen Menschen Gutes zu tun." (S.18f.)

Gleichzeitig ist er ein kritischer Geist, der im "Gesellschaftsunterricht" einige Thesen der geltenden Lehrmeinung wissenschaftlich fundiert hinterfragt und damit in den Fokus der staatlichen Überwachung gerät - vermutlich. Zumindest wird ihm ein Forschungsprojekt nicht genehmigt, er solle erst sein Grundlagenstudium fertigstellen. Über jenes Projekt hat Bernhard seine Doktorarbeit geschrieben, das wirft ihm der Ich-Erzähler vor.
Mit der Einführung der Wehrpflicht offenbart sich Gottholds pazifistische Einstellung, er fordert die anderen auf, sich gegen die Wehrpflicht zu positionieren und einen Protestaufruf zu unterschreiben.
Als er sich melden soll, "verletzt er die Grenze" und es gelingt ihm in den Westen zu fliehen, in dem er allerdings kein Glück findet, so dass er tatsächlich zurückkehrt und mit entsprechenden Repressalien konfrontiert wird. Der Ich-Erzähler reflektiert dabei immer wieder seine eigene Rolle und fragt sich, inwiefern er hätte anders handeln können.

Bewertung
Die kurze Erzählung schildert sehr eindrücklich die Atmosphäre des Studiums an der Bergakademie. Dem Autor gelingt es, den Druck, der auf jene ausgeübt wurde, die sich der Konformität des Systems widersetzen, deutlich zu machen. Ist der Anfang etwas mühsam zu lesen, nimmt die Geschichte im Verlauf der Erzählung an Fahrt auf und man ist gespannt, was aus Gotthold geworden ist. Gleichzeitig nimmt die Verachtung für den systemkonformen Bernhard zu.
Die Wertung der Figuren aus der Sicht des Ich-Erzählers kommt mir manchmal zu offensichtlich daher, zu moralisch, obwohl sie natürlich berechtigt ist. Den Lesenden bleibt jedoch keine Freiheit, selbst eine Wertung vorzunehmen.
So hat mich die Geschichte selbst überzeugt. Probleme hatte ich mit der Sprache, die von teilweise langen Sätzen und vom Nominalstil geprägt ist. Dazu kommen auch Fehler in der Kommasetzung, die den Lesefluss beeinträchtigen.

Nichtsdestotrotz ein wichtiges Dokument gegen das Vergessen.


Sonntag, 23. Oktober 2016

Besuch auf der Frankfurter Buchmesse

- mit meiner lieben Bloggerfreundin Mira.

So viele neue Eindrücke, die die Buchmesse hinterlassen hat. So viele Bücher, die noch gelesen werden wollen, so viele Menschen, die lesen und sich immer noch für Literatur begeistern können.
Spannend war auf jeden Fall Mirella, mit der ich jetzt schon zwei Bücher gemeinsam gelesen habe, endlich auch persönlich zu treffen. Wenn auch die "Unterhaltungen" auf Whatchareadin oder den einzelnen Blogs einen komplikationslosen Austausch über Literatur ermöglichen, so schön ist es doch, die reale Person hinter dem Avatar kennen zu lernen. Und wenn es noch eine Begegnung ist, bei der - wie Mira es so schön ausgedrückt hat - die Chemie stimmt - um so wunderbarer.
Damit ihr auch lesen könnt, was Mirella geschrieben hat, geht es hier zu ihrem Beitrag.


Zunächst haben wir uns durch die Flut der Ausstellung treiben lassen und uns die Verlage angesehen, unter anderem den Haymon-Verlag und den kleinen, aber feinen Louisoder-Verlag.

Um 11:00 Uhr hatten wir das Vergnügen einem Gespräch mit Eugen Ruge über seinen neuen Roman "Follower" beiwohnen zu dürfen, eine Dystopie in einer künstlichen Welt, in der alles political correct abläuft und es nichts Negatives mehr geben darf - zumindest nicht auf sprachlicher Ebene. Die Idee des Romans, so erzählt Eugen Ruge, ist entstanden, als er nach der endlosen Installation einer Software träumte, er sitze in einem Flugsimulator und lande in einem virutellen Chicago, das er erst wieder verlassen dürfe, wenn er das Passwort, nämlich den Geruch von Birkenrinde benennen könne. Als er erwacht ist, hing vor seinem Fenster ein Birkenzweig - ein realer, über den er sich sehr gefreut habe. Zudem sei der Roman mit dem Vorgänger "In Zeiten des abnehmenden Lichts" verwoben.
Mira und mich hat er überzeugt, den Roman auf jeden Fall gemeinsam lesen zu wollen.

Danach haben wir uns treiben lassen und die großen Verlage aufgesucht, unter anderem den Diogenes-Verlag, für die ich in der letzten Zeit, den ein oder anderen Roman rezensieren durfte und der mir gleich zwei Highlights dieses Jahres beschert hat:
Benedict Wells, Das Ende der Einsamkeit und
J. Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens.

Im Anschluss hatten wir das Vergnügen  Bodo Kirchhoffs, ein überaus charismatischen Schriftsteller, im Gespräch mit einer ebenso überzeugenden Moderatorin zu erleben. Gemeinsam stellten sie die Novelle vor, die dieses Jahr den Deutschen Buchpreis gewonnen hat: Widerfahrnis.
Zu dem am 31.Oktober auf Whatchareadin eine Leserunde starten wird, auf die ich mich jetzt umso mehr freue.

Sehr interessant sind die Ausführungen des Autors zu der Begründung, warum er eine Novelle geschrieben habe. Ihm sei klar geworden, dass seine Geschichte überwiegend eine horizontale Ebene habe, chronologisch erzählt sei und ein besonderes Ereignis den Protagonisten widerfährt - also die klassischen Merkmale einer traditionellen Novelle.
Er erklärt auch, was es mit dem Begriff Widerfahrnis, das aus dem theologischen Bereich stammt, auf sich hat: Ein Erlebnis, das einem Menschen ohne dessen Zutun widerfährt und ihn nachhaltig beeinflusst.
Ein kurzweiliges Gespräch, das Bodo Kirchhoff mit der Lesung der ersten Seite der Novelle krönt.


Ein weiterer Höhepunkt war die Lesung von Paul Maar, der ein schräges Märchen aus seinem neuesten Kinderbuch zum Besten gegeben hat: Schiefe Märchen und schräge Geschichten. Schön auch die Atmosphäre im Lesezelt im Außenbereich der Messe. Im Anschluss diskutierten Mirella und ich darüber, warum überwiegend die Erwachsenen über den feinen Humor der Geschichten gelacht haben. Verstehen Kinder sie noch nicht? Ist es eine andere Lebenswirklichkeit, die auch Jugendliche nicht mehr anspricht? Wir haben uns jedenfalls amüsiert!

Die Gastgeber - Flandern und die Niederlande - haben mich eher enttäuscht, es kann aber daran liegen, dass ich schon sehr müde war und die vielen Eindrücke nicht mehr verarbeiten konnte. Beim gemeinsamen Essen ist der Tag für uns beide ausgeklungen und ich freue mich schon auf ein nächstes Treffen - vielleicht auf der Leipziger Buchmesse!




Donnerstag, 20. Oktober 2016

Steve Katz: New York Tingel Tangel

-  experimentell, schräg, unkonventionell.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe:101 Seiten
Verlag: Louisoder
Erschienen am: 24. August 2016
Erstausgabe: 1962
ISBN-13: 978-3944153346
Originaltitel: The Lestriad

Vielen Dank an den Louisoder Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Der Roman erzählt sehr eigenwillig von einem jungen Paar - Michael und Moira, die sich im Kino den Film "Das 7.Siegel" von Ingmar Bergmann ansehen, in dem der Ritter Antonius Block auf den Tod trifft, der ihm sein Lebensende offenbart. Dem Ritter gelingt jedoch ein Aufschub, solange der Tod ihn nicht beim Schachspielen geschlagen hat, darf er weiterleben.
Zunächst schildert Michael aus seiner Sicht das Filmerlebnis.

"Er war so sehr ein Kind seines Jahrhunderts, das fühlte er, schlaff, überfordert, unfähig zum Handeln. Weil Heldentum ein Statement des Lebens war jenseits aller Definition, eine große Woge der gesamten Menschheit in einem einzigen Mann, völlig unmöglich in seiner eigenen Epoche, das fühlte Michael, und für ihn Ursache großer Traurigkeit, weil er sich in seinem Jahrhundert so verschwendet vorkam, eingeengt, beobachtet." (S.6)

Nach einem gemeinsamen Essen trifft Michael mit Moira in einer Kneipe auf seinen Freund, den Dichter Frickle und Mink, den Stotterer, der Frickel fördert und bewundert.
In der Nähe sitzt Lester - verkleidet als Ritter Antonius Block (?).

Der Mittelteil widmet sich den Visionen oder Halluzinationen Lesters, dessen Lanze und Streitkolben abhanden gekommen sind.
Lester liegt auf einem Bett, über dem an der Decke ein großer Spiegel prangt - genau wie über Michaels Bett, in dem er mit Moira am Ende des Abends landet und nach dem Sex einschläft.
Die Visionen und Assoziationen des "Ritters" könnten Michaels Träume, Ängste und Wünsche sein, Lester als sein Alter ego (?) - das bleibt offen.

Zunächst sieht Lester eine Party, auf der Lincoln, Michaels älterer Bruder, ihren Vater und Michael selbst tötet, weil er ihn verachtet:

"Er verachtete Michael, weil er in seinem Bruder all das erkannte, was er selbst einst gewesen war, all das, was er an sich selbst gern töten wollte." (S.32)

Auch Dichter Frickle taucht auf der Party auf und steigt mit Moira, die es angeblich mit jedem treibe, ins Bett. Neben jenem taucht eine fette Gestalt auf, die zuvor auch in Lesters Schlafzimmer erschienen ist. Lincoln liest gerade eine Kurzgeschichte "Die flüchtige Begegnung", die als Geschichte im Roman erzählt wird:
Zwei alte Studienbekannte treffen sich, während der einst schillernde ein langweiliges, konventionelles Leben führt, ist der einst vermeintlich langweilige ein Abenteurer geworden.

Es sind die Fragen und Ängste eines Heranwachsenden, was aus dem eigenen Leben werden wird, die hier zur Sprache kommen.

Lester selbst erscheint auf der Party und es folgen viele assoziative Szenen: Der von Wahnvorstellungen heimgesuchte Onkel Michaels taucht auf, plötzlich ist Lester im Sportwagen, des Rennfahrers Raffaele di Molfetta, einem Freund Michaels, der auch auf der Party war...das ist schon sehr skurril.

Im letzten Teil des Romans ist es Moiras Sicht auf den Film, das Essen und das Treffen, das sich ganz erheblich von der Perspektive Michaels unterscheidet und eine andere Sichtweise anbietet.

"Er (Michael) war ein Mann. Die Stadt war voll von diesen gezähmten Tieren, die im Rudel so mutig waren. Deren alberne Lust. (...) Sie wollte mehr Widerstand. Sie wollten einen Mann, so einen wie Antonius Block, in dessen Augen sie nicht eindringen konnte." (S.82)

Bewertung
Es ist ein sehr seltsam anmutender Roman, der den Lesenden einiges abverlangt, unter anderem die Bereitschaft, sich auf dieses experimentelle, zwischen Fantasie und Realität pendelnde Erzählen einzulassen.
Ein Roman, der die Identitätssuche eines jungen Mannes auf sehr eigenwillige Weise beleuchtet - keine leichte Kost, sondern experimentelles Schreiben, das die tradierten Konventionen des Erzählens sprengt.

Es ist das Erstlingswerk des Autors Steve Katz, der zu den "100 wichtigsten Avantgarde- Autoren der Vereinigten Staaten" (Umschlag) zählt.

Ein Roman, der skurril und gewöhnungsbedürftig ist, den ich teilweise auch zweimal lesen musste, um ihn ansatzweise zu verstehen - ein Experiment - auch für die Lesenden!

Dienstag, 18. Oktober 2016

J.Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des mittleren Westens

- ein ungewöhnlich komponierter Roman über eine erfolgreiche junge Köchin.

Buchdaten
Taschenbuchausgabe, 428 Seiten
Verlag: Diogenes Verlag
Erschienen am: 24. August 2016
ISBN-13: 978-3257862973

Ganz herzlichen Dank an den Diogenes Verlag, der mir diesen außergewöhnlichen Roman als Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Dieser Roman ist wie ein sehr gut komponiertes Essen, alle Teile fügen sich zu einem perfekten Dinner und zusammen entfalten sie ihre unverwechselbare "aromatische" Wirkung.

Er beginnt mit Lutefisk, einer norwegischen Spezialität - Stockfisch - mit deren Zubereitung Lars Thorvald groß geworden ist, bevor er viel zu früh auf den Stufen seiner Wohnung einen Herzinfarkt erleidet.
Er ist der Vater Eva Thorwalds, der eigentlichen Protagonistin des Romans, obwohl sie fast nie im Vordergrund steht und sich die Lesenden ihr Bild Schritt für Schritt "erarbeiten" müssen.

Lars gelingt es seiner Tochter bereits im zarten Alter von drei Monaten die Liebe zu gutem Essen nahe zu bringen. Er selbst ist ein begabter Koch, der großen Wert auf qualitative Lebensmittel legt und - er wird von Evas Mutter Cynthia Hargreaves verlassen. Da ist Eva 4 Monate alt. Cynthia ist der Überzeugung, keine gute Mutter werden zu können und verfolgt stattdessen ihren Traum Sommelière zu werden.

Zwei Monate später, nachdem Evas kinderloser Onkel Jarl und mit seiner Frau Fiona bei Lars eingezogen ist, stirbt Lars an einem Herzinfarkt am ersten Weihnachtsfeiertag, während Fionas Schwester mit ihren Kindern Randy und Braque Besuch ist, die im Leben Evas noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Im zweiten Teil - Chocolate Habanero - ist Eva fast 11 Jahre alt. Inzwischen lebt sie bei Jarl und Fiona, von denen sie glaubt, sie seien ihre Eltern. Mit Randy, der wegen Drogendelikte vorbestraft ist, hat sie zum Leidwesen ihrer Eltern häufig Kontakt, ist er doch neben ihrer Cousine ihr einziger Vertraute. In der Schule wird Eva, die sehr groß und intelligent für ihr Alter ist, ausgegrenzt und drangsaliert.
Ihre Leidenschaft gehört jedoch ihren Chilipflanzen, die sie in ihrem Kleiderschrank züchtet und in einem Nobelrestaurant verkauft, wobei sie dort auch in die Küche "hineinschnuppern" darf.
Dieses Kapitel ist das einzige, das aus der personalen Perspektive Evas erzählt wird, der bewusst ist, dass sie anders als ihre "Eltern" ist, jedoch weiß, dass diese von Herzen lieben und trotz ihrer finanziellen Probleme ihr Bestes für Eva geben.

Paprikamarmelade
Im Mittelpunkt steht Evas Cousine Braque, die gerade am College studiert und minutiös ihren Tagesablauf plant, so dass das Kapitel in Uhrzeiten unterteilt ist. Plötzlich wirft ein Ereignis sie aus der Bahn, zeitgleich taucht Eva auf, die wegen eines Streits von zuhause ausgerissen ist und Zuflucht bei ihr sucht. Evas Fähigkeit auch die schärfsten Gerichte essen zu können, sorgt für einige Turbulenzen in dieser Episode.

Im Teil Zander ist Eva inzwischen ein recht attraktiver Teenager und zieht die Aufmerksamkeit des Jugendlichen Will Prager auf sich, aus dessen Perspektive dieses Kapitel erzählt wird. Will, der von ihrer Vorliebe für gutes Essen erfährt, lädt sie in ein Nobelrestaurant ein, in dem sie aufgrund ihres außergewöhnlichen Geschmackssinns auffällt. Daraus ergibt sich ein Job, der Evas Leben maßgeblich beeinflusst, unter anderem lernt sie die Köchin Maureen O´Brian kennen, von deren Erfahrung sie profitiert. Es wird auch deutlich wie sehr Eva ihre vermeintlichen Eltern liebt, bzw. ihre Mutter geliebt hat, die inzwischen gestorben ist.

Ein paar Jahre später erfahren die Lesenden aus der Sicht Octavias, die Eva für das Scheitern ihres Lebens verantwortlich macht, wie sich die Protagonistin weiter entwickelt hat.
Mit einem besonderen Maisgericht, Golden Bantam, erobert sich Eva die Herzen eines exklusiven Dinnerclubs und auch in dieser Episode lernt sie Menschen kennen, die ihrem Leben eine neue Richtung geben. Denn von Octavia stammt die Idee, Dinners an exklusiven Orten auszurichten, doch während Eva die Idee konsequent weiter verfolgen wird, entscheidet Octavia sich aufgrund ihrer Abneigung für Eva dagegen.

Jordy Snelling geht auf die Jagd nach Wild, auch er berührt Evas Leben kurz, die sich mit seinem Bruder Adam angefreundet hat.

In Riegel ist es Pat Prager, Wills Stiefmutter, die Eva an ihre Kindheit und Wurzeln erinnert. Gleichzeitig wird in diesem Kapitel der Unterschied zwischen traditionellem Kochen und Backen, ohne auf Gluten, Lactose, genveränderte Lebensmittel und deren Herkunft zu achten, der Philosophie gegenübergestellt, dass man seine Zutaten sozusagen kennen muss und immer so frisch wie möglich zubereitet - und es gibt eine Vielzahl Rezepte für süße Versuchungen.

Im großen Finale - Das Dinner - laufen die Fäden - sowohl die Gerichte als auch die Figuren - zusammen und die Puzzleteilchen fallen an den richtigen Platz.
Erzählt wird dieser letzte Teil von Evas leiblicher Mutter, die einen Weg sucht, mit ihrer Tochter zu sprechen.

Bewertung
Dieser Roman überzeugt auf ganzer Linie - er ist klug komponiert - wie Evas einzigartiges Essen, in dem jede Komponente perfekt aufeinander abgestimmt und immer frisch zubereitet ist.

Die einzelnen Figuren sind, obwohl sie jeweils nur in einem Kapitel im Vordergrund stehen, überzeugend gezeichnet und ihre Handlungsweisen immer nachvollziehbar.
Eva hingegen bleibt außer als Jugendliche im Hintergrund - so wie ein gute Köchin nicht in Erscheinung tritt, sondern durch ihre Gerichte überzeugt. Man muss sich die Person der jungen Frau selbst zusammensetzen, die auch in der negativen Darstellung aus Octavias Perspektive als selbstbewusste, liebenswerte und außergewöhnliche Frau erscheint, die nicht gerne im Vordergrund steht. Obwohl Eva ihre leiblichen Eltern so früh verloren hat, hat ihre neue Familie ihr so viel Liebe geschenkt, dass sie offensichtlich zu einem guten Menschen herangereift ist. So kümmert sie sich zeitlebens um ihren kranken Vater und beschäftigt als erfolgreiche Köchin fast ihre gesamten Verwandten und Freunde.
Im Roman wird auch deutlich, dass einzelne Begegnungen das Leben entscheidend beeinflussen können und seine Richtung für immer verändern.

Insgesamt eine interessante Komposition, die Lust auf mehr von diesem Autor und auf jeden Fall auf ein gutes Essen macht - dafür sorgen die zahlreich eingestreuten Rezepte und die Beschreibungen der zubereiteten Speisen.

Der Wertung der New York Times, es handle sich um "ein imposantes Meisterstück", kann ich nichts mehr hinzufügen.

Donnerstag, 13. Oktober 2016

Rose Tremain: Und damit fing es an

- eine bewegender Roman über eine besondere Freundschaft.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 333 Seiten
Verlag: Insel-Verlag
Erschienen am: 8. August 2016
ISBN-13: 978-3-458-17684-8


Herzlichen Dank an den Suhrkamp/Insel-Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt
Der 1.Teil des Romans spielt in der Schweiz, im kleinen Ort Matzlingen im Jahre 1947. Im Mittelpunkt stehen die beiden Jungen Gustav und Anton, die sich in der Vorschule an Antons erstem Tag in der Stadt kennen lernen. Spontan freunden sich die beiden an, die jeweils aus einem ganz unterschiedlichen sozialen Umfeld kommen. Gustavs Vater ist bereits tot, weil er - wie seine Mutter Emilie betont - vor dem Krieg den Juden geholfen habe.

"Er war ein Held", sagte Emilie jedes Jahr wieder zu ihrem Sohn. "Zuerst habe ich es nicht begriffen, aber das war er. Er war ein guter Mann in einer verkommenen Welt." (S.12)

Emilie lehrt Gustav sich zu beherrschen, das sei wichtig im Leben, während der Junge eigentlich von seiner Mutter wahrgenommen und geliebt werden will.

Sie leben zusammen in einer kleinen Wohnung, ihren Lebensunterhalt verdient Emilie in einer Käse-Kooperative, zusätzlich muss sie am Wochenende noch eine Kirche putzen.
Anton Zwiebel dagegen stammt aus einem wohlhabenden, kultivierten Elternhaus. Die Familie ist aus Bern hergezogen, der Vater Bankier und den Nazis - so wird es angedeutet - entkommen.
Die Zwiebels sind Juden, so dass Emilie, die diese für den Tod ihres Mannes verantwortlich zu machen scheint, ihnen gegenüber eine Abneigung empfindet.
Trotzdem wird Gustav Teil dieser kultivierten Familie und wird es sein Leben lang bleiben. Besonders mit Antons Mutter Adriana verbindet ihn ein vertrautes Verhältnis, hat er sie als Junge bewundert, wird er als Erwachsener zu einem sehr guten Freund.
Während Emilie ihre Arbeit verliert und aufgrund einer schweren Lungenentzündung fast stirbt und ins Krankenhaus muss, so dass Gustav gezwungen ist, alleine zurecht zu kommen, treibt den musikalischen Anton die Sorge um, vor Publikum auftreten zu müssen. Er möchte an einem Klavierwettbewerb teilnehmen, doch es fällt ihm schwer, sein musikalisches Talent auf der großen Bühne zu beweisen.
1952, da sind die beiden Jungen 10 Jahre alt, reist Familie Zwiebel gemeinsam mit Gustav nach Davos. Dort entdecken die beiden ein verlassenes, schon halb verfallenes Sanatorium und spielen dort gemeinsam, sie würden die Tuberkolose-Kranken versorgen, gleichzeitig entscheiden sie, wer überlebt und wessen "Leiche" verbrannt werden muss.

"Später in ihrem Leben fragten sie sich, ob das Spiel, das sie damals in Davos erfunden hatten, eigentlich >in angemessenem Rahmen< geblieben war. Sie wussten, dass es befremdlich gewesen war. Aber in der Befremdlichkeit lagen auch seine Faszination und seine Schönheit." (S.108)

Während dieses Spiels muss Gustav Anton einmal reanimieren:

"Langsam und widerstrebend näherte Gustav seinen Mund dem von Anton und berührte flüchtig seine Lippen. Er merkte, dass Anton den Arm hob, ihm um den Hals legte und ihn so weit zu sich herunterzog, dass die beiden Münder jetzt hart aufeinanderlagen, und Gustav fühlte, dass Antons Gesicht brannte." (S.114)

Im 2.Teil wird die Geschichte Emilies und Erichs Perle erzählt, wie sie sich kennen lernen, heiraten und schließlich Gustav auf die Welt kommt - auch wenn der das zweite Kind des Paares ist.
Die "Heldentat" Erich Perles besteht darin, dass er Juden geholfen hat, in die Schweiz einzureisen, nachdem dies offiziell nicht mehr möglich gewesen ist.

"Am 18.August ergeht eine Anweisung des Schweizer Justizministeriums in Bern, dass alle deutschen, österreichischen und französischen Juden, die nach diese Datum versuchen würden die sichere Schweiz zu gelangen, zurückzuschicken seien." (S.148)

Auch Perles Vorgesetzte Roger Erdmann steht vor einem Dilemma, wird jedoch schwer krank, sodass Erich selbst entscheiden muss, was er mit jenen Juden macht, die nach diesem Datum einreisen. Er trifft menschlich und moralisch die richtige Entscheidung, wird jedoch verraten und geht unter anderem daran zugrunde.
Sein sozialer Abstieg und sein Tod stürzen Emilie zeitlebens in eine Existenz, die zur Liebe nicht mehr fähig scheint und so lebt sie, wie schon ihre Mutter zuvor, in permanenter Unzufriedenheit. Eine Einstellung, der Gustav verzweifelt und hilflos gegenübersteht.

Im 3.Teil, der von 1992-2002 spielt, begleiten wir die erwachsenen Männer Gustav und Anton auf ihrem weiteren Weg. Gustav ist Inhaber eines Hotels, während Anton zunächst in Matzlingen in der Musikschule unterrichtet. Doch ihre Wege trennen sich, Gustav macht sich auf die Spur seines Vaters und begegnet dabei Lotti Erdmann, die im Leben von Erich Perle eine wichtige Rolle gespielt hat. Anton dagegen versucht dem engen Rahmen seiner Existenz zu entkommen und scheitert.
Das Ende ist ein versöhnliches und vielleicht ein wenig zu rührend...

Bewertung
Ein Roman über eine besondere Freundschaft, der sehr sensibel die Beziehung der beiden Jungen nachzeichnet. Ihre Unwissenheit und ihre Scham sich ihre Gefühle einzugestehen, ihre Ängste, sich dem anderen zu offenbaren, werden behutsam thematisiert, ohne die Protagonisten bloßzustellen.
Demgegenüber stehen sehr freizügige Szenen im 2.Teil der Geschichte, wenn es um die sexuellen Leidenschaften Erich Perles geht.

Die Einblicke in das Leben nach dem Krieg und unmittelbar vor Kriegsausbruch, machen den Roman auch zu einem zeithistorischen Dokument, der die unrühmliche Rolle der Schweiz im Umgang mit jüdischen Emigranten nicht tabuisiert.

Gleichzeitig zeigt dieser 2.Teil auf, warum Emilie zu so einer "kaltherzigen" Mutter werden konnte und versucht, ihre Handlungen psychologisch nachvollziehbar zu machen.

Ein vielseitiger Roman, der sowohl aufgrund seiner Komposition, seiner Sprache und - am wichtigsten - seiner Geschichte, die er erzählt, überzeugt.

Donnerstag, 6. Oktober 2016

Harper Lee: Wer die Nachtigall stört...

- ein amerikanischer Klassiker gegen Diskriminierung.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 460 Seiten
Verlag: Rowohlt Verlag
Erschienen am: Juli, 2015
Originalausgabe: To Kill a Mockingbird (1960)
ISBN-13:978-349038083


Vorne weg
Der Roman ist eigentlich der zweite, den Harper Lee geschrieben hat, ihr Erstlingswerk: Geh hin, stelle einen Wächter wurde erst posthum veröffentlicht. Er spielt chronologisch gesehen nach "Wer die Nachtigall stört..." und zeigt die Erwachsene Scout. Während im vorliegenden Roman der Fokus auf der Diskriminierung der Schwarzen liegt, überlagert der Vater-Tochter-Konflikt im Erstlingswerk dieses wichtige Thema. Kein Wunder also, dass Harper Lee nur ihren zweiten Roman, in dem auch der Vater, Atticus Finch idealisiert ist, veröffentlichen wollte. Für den Roman erhielt sie 1961 den Pulitzer Preis und verarbeitete ihre eigene Familiengeschichte. Danach ist es ihr nicht gelungen an ihren Erfolg anzuknüpfen, sie hat keinen weiteren Roman beendet.

Inhalt
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die zu Beginn des Romans sechsjährige Jean Louise Finch, von allen Scout genannt. Ihre Mutter ist gestorben, als sie gerade zwei war, seitdem sorgen ihr Vater, der Rechtsanwalt Atticus Finch, die schwarze Haushälterin Calpurnia sowie ihr vier Jahre ältere Bruder Jem für sie. Im Sommer, bevor sie zur Schule geht, taucht in der Nachbarschaft der gleichaltrige Charles Baker Harris, Dill genannt auf. Gemeinsam versuchen sie den geheimnisvollen Arthur Radley aus dem Haus zu locken. Seit Jahren hat ihn niemand gesehen. Da er in seiner Jugend straffällig geworden ist, hat sein Vater ihn zuhause eingesperrt, nach dessen Tod übernimmt Arthurs älterer Bruder die Rolle des Aufpassers. Wie besessen sind die Kinder von dem "Gespenst" Boo Radley, wie er genannt wird, doch es gelingt ihnen nicht, ihn zu Gesicht zu bekommen.
Ihr Vater versucht ihre Versuche zu unterbinden, es sei so, als ob man eine Nachtigall störe...
Boo wird am Ende der Geschichte seine Rolle spielen - so viel sei hier verraten.

Scout fühlt sich in der Schule nicht wohl und gerät mit einigen Mitschülern aneinander. Es scheint jedoch immer wieder durch, dass ihr Vater auf einer humane, auf der Gleichheit aller Menschen basierenden Erziehung besteht. Dazu muss man sagen, dass Mitte der 30er Jahre im Süden der USA, im Staat Alabama, trotz der Befreiung der Sklaven strikte Rassentrennung  herrscht. Als Atticus in Scouts zweitem Schuljahr den Fall des Schwarzen Tom Robinson übernimmt, müssen seine Kinder Verleumdungen und Schmähungen über sich ergehen lassen.
Tom Robinson soll die Tochter Bob Ewells vergewaltigt haben, obwohl er selbst darauf besteht, von ihr verführt worden zu sein. Ein Affront gegen die weiße Gesellschaft, obwohl die Ewells zu den Randexistenzen und der sozialen Unterschicht der kleinen Stadt Maycomb gehören.
Atticus vertritt Tom vor Gericht und ein Teil des Romans spielt im Gerichtssaal, wobei die Kinder, Scout, Jem und Dill von der Galerie aus, gemeinsam mit den Schwarzen der Verhandlung heimlich beiwohnen.
In seiner Verteidigungsrede deckt Atticus schonungslos die Wahrheit auf, dass die Geschworenen von der Annahme ausgehen, alle Neger seien böse und würden lügen und sich dadurch in ihrem Urteil beeinflussen ließen - er spiegelt ihnen ihre Vorurteile und macht sich damit Feinde unter den Weißen, während die Schwarzen ihm Hochachtung entgegenbringen.
Die Behandlung, die Tom Robinson dabei vom Staatsanwalt erfährt, können seine Kinder kaum ertragen. So äußert Jem:

"Aber wenn es nur eine Art von Menschen gibt, warum können sie dann nicht miteinander auskommen? Wenn wir alle gleich sind, warum haben sie dann nichts anderes im Kopf, als sich gegenseitig zu verabscheuen? Scout, so allmählich wird mir was klar. So allmählich wird mir klar, weshalb Boo Radley die ganze Zeit im Haus bleibt...Er tut´s, weil er drinbleiben will." (S.362)

Selbst Scout fällt auf, wie scheinheilig die Lehrerin argumentiert, als sie Hitler als Diktator darstellt, der die Juden verfolge und damit Unrecht tue, während sie das Verhalten der Schwarzen nach der Verhandlung als anmaßend empfindet und darauf besteht, die Weißen gehörten der überlegeneren Rasse an.

"Jem, wie ist es möglich, dass jemand Hitler hasst und gleichzeitig so gemein über die eigenen Landsleute spricht." (S.393)

Am Ende geraten die Kinder selbst in die Rachegedanken Bob Ewells, womit er offenbart, wer der eigentlich Täter ist.

Bewertung
Während mich der ursprünglich erste Roman nicht wirklich überzeugt hat, zeichnet diese Geschichte ein detailgetreues Bild einer kleinen Stadt im Süden der USA in den 30er Jahren. Die Figuren sind anschaulich skizziert, die Erzählperspektive bleibt kindlich, aber ansprechend.
Gleichzeitig wird durch diese Erzählweise das Ausmaß der Diskriminierung offensichtlich. Die Vorurteile, die auch Scout zunächst beherrschen, werden schonungslos aufgedeckt und ans Licht gezerrt - vor allem in der Gerichtsverhandlung. Die Einstellung der Weißen wird anhand vieler Personen verdeutlicht, nicht zuletzt durch die Schmähungen, die Scout entgegenschlagen.

Etwas schade ist, dass Atticus Finch zu idealisiert gezeichnet ist, im Gegensatz zum Erstlingswerk, in dem er teilweise noch rassistische Äußerungen macht! Die Zweitfassung transportiert dagegen umso eindeutiger die Position der Autorin gegen die Rassendiskriminierung.

Der Roman gilt zu Recht als Klassiker, der heute immer noch aktuell ist - leider!