Samstag, 29. Juli 2023

Sarah Moss: Sommerwasser

- multiperspektivischer Episodenroman über einen Regentag

Leserunde auf whatchaReadin

Sarah Moss Roman spielt im an einem schottischen See (Loch) in einer Ferienhaussiedlung, in dem die unterschiedlichsten Charaktere aufeinandertreffen. Die Handlung erstreckt sich über einen Tag, an dem es ununterbrochen regnet und den Feriengästen kaum Raum für Aktivitäten gibt.

In 12 Kapiteln erfahren wir aus unterschiedlichen personalen Perspektiven, wie die einzelnen Figuren einen Teil dieses Tages erleben. Als Leser:innen offenbaren sich uns jeweils die Gedanken der Personen, so dass sich deren Charakter und Verhaltensweisen vor uns ausbreiten. Obwohl Moss ganz unterschiedliche Figuren zu Wort kommen lässt, wirkt jede Perspektive authentisch und glaubwürdig.
Die 40jährige Justine, die sich früh morgens aus dem Haus schleicht, um durch den Regen zu rennen und dabei über das Laufen und ihr Leben reflektiert, oder David, der Arzt im Ruhestand, der schon seit Jahren mit seiner Frau Mary im Sommer in die Hütte fährt und sieht, wie Justine am Haus vorbeiläuft.

Es gibt keine Interaktion zwischen den einzelnen Partien, nur Beobachtungen, Mutmaßungen und
(Vor-)Urteile. Vor allem gegenüber den Ukrainern, die nachts laute Musik hören und somit Unmut bei den anderen erzeugen.

„Andere Menschen bleiben im Urlaub im Bett, erst recht, wenn sie die halbe Nacht wach gehalten wurden von diesen egoistischen Arschlöchern mit ihrer lauten Musik, die gewusst haben müssen, dass sie den kleinen Kindern und deren Eltern und den alten Leuten und überhaupt allen den Schlaf und damit den nächsten Tag ruinierten.“ (8)

Offener Rassismus tritt bei der kleinen Lola zutage, wenn sie das ukrainische Mädchen Violetta auf eine Schaukel lockt, die über dem „Loch“ hängt und es dann mit Steinen bewirft. Diese bedrohliche Situation wird nicht aufgelöst und schwebt über den weiteren Kapiteln. Was ist mit Violetta geschehen?
Aber auch die Kanufahrt eines jungen Mannes, der seinen Eltern und der jüngeren Schwester entfliehen will, wird lebensbedrohlich, weil er seine Kräfte überschätzt. So kämpfen die einzelnen Figuren mit den widrigen Umständen, mit sich selbst und ihren Gedanken, gefangen in diesem Regentag, der am Ende eine völlig unerwartete Wendung nimmt.

Aus jeder der Hütten kommen jeweils zwei Figuren zu Wort, teilweise auch die Kinder, wie z.B. Lola, so dass man als Leser:in immer auch eine weitere Perspektive der Handlung erlebt. Nur die Hütte der Ukrainer bleibt stumm, die sieht man nur aus der Sicht der anderen. Gedanken, die teilweise durchaus rassistisch anmuten.

Neben ihrer Gesellschaftskritik übt Moss auch Kritik am Brexit:
„Er blinkt, nimmt die erste Spitzkehre bergauf, ein schönes, glattes EU-gefördertes Wunderwerk der Technik, über das außerhalb der Saison vielleicht zwei Dutzend Autos pro Tag fahren. Wie können die Engländer so dumm sein, denkt er erneut, wie können sie den gelben Ring aus Sternen auf jeder neuen Straße, jedem neuen Krankenhaus, den erneuerten Schienen und neu gemachten Stadtzentren der letzten dreißig Jahren nicht sehen?“ (37)

Eine Besonderheit bilden die 12 kurzen Zwischenkapitel, die den jeweiligen Kapiteln, die aus der Sicht einer Figur erzählt werden, zugeordnet und thematisch mit diesem verbunden sind – auch wenn sich der Zusammenhang nicht immer direkt erschließt. 

„Der Klang von Blut und Luft“ beschreibt zunächst die Stimmung vor dem Sonnenaufgang in der Natur beim Regen.
Der Satz "so beständig wie der Klang von Blut und Luft im eigenen Körper. Man würde früh genug bemerken, wenn es aufhörte." (S.5) bezieht sich auf Justine, das erschließt sich jedoch erst, wenn man das folgende Kapitel ganz gelesen hat.
Gleichzeitig taucht dieser Satz wieder am Ende des Romans auf, so dass sich eine Art Rahmen ergibt.

Insgesamt ist der Roman sowohl von der Komposition, der Erzähltechnik und der Figurenzeichnung überzeugend.

Klare Leseempfehlung für alle, die kein „Wohlfühl“-Sommerbuch lesen wollen, sondern eines, das einen authentischen Einblick in die Gedanken, und auch Abgründe, unterschiedlicher Menschen bietet.

Dienstag, 4. Juli 2023

Volker Weidermann: Mann vom Meer

 - noch eine Biografie über Thomas Mann?

Leserunde auf whatchaReadin

In seinem Sachbuch erzählt der Journalist Volker Weidermann das Leben Thomas Manns, jedoch mit dem Fokus auf dessen Liebe zum Meer. Dabei muss er zwangsläufig vieles auslassen, auch seine Kinder tauchen nur am Rande auf, bis auf seine Lieblingstochter Elisabeth, die seine Liebe zum Meer "geerbt" und sie zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat.

In der Einleitung schildert Weidermann die erste Begegnung Elisabeths mit dem Meer - an der Hand des berühmten Vaters.

"Ein bisschen Angst hatte sie schon. Sie wusste ja, dass es ein großer Moment war. Vor allem für ihn, für Herrpapale, wie sie ihren Vater nennt. Sie wusste ja so gut, wie sehr er das Meer liebte. (...) Sie zittert aber vor allem vor  Freude, Erregung und ein wenig auch aus Angst, dass sie sich nicht begeistert genug zeigen könnte." (7)

Doch ihre Sorge ist unbegründet, das Meer übt auf sie eine große Faszination aus. Das greift Weidermann im Nachwort wieder auf, indem er seinen Besuch auf dem Forschungsschiff "Elisabeth Mann Borgese" schildert.

"Das Meer ist der stille Held all seiner Bücher." (12) - unter dieser Prämisse erläutert Weidermann sowohl Thomas Mann Beziehung zum Meer und legt eindrucksvoll dar, welche Rolle dieses in seinen bekanntesten Werken spielt - "Buddenbrooks", "Der Zauberberg", "Tonio Kröger" und auch "Der Tod in Venedig", um nur einige zu nennen.

Dabei zitiert der Autor, teilweise etwas zu ausführlich, aus den genannten Werken und interpretiert sie hinsichtlich der Bedeutung des Meeres. Er zeigt auf, inwiefern die Protagonisten Manns eigenes Verhältnis zum Meer widerspiegeln und belegt auch, dass Mann sein eigenes Leben "schamlos" ausgeschlachtet hat, persönliche Ereignisse verarbeitet, unerfüllte Wünsche zu Papier gebracht hat.

Thomas Mann Kenner werden das wissen, aber durch den Fokus auf das Meer ergeben sich neue Einsichten und Erkenntnisse. So liefern vor allem die ersten Kapitel Informationen über Julia Mann, Thomas Manns Mutter, die ihre Kindheit am Strand von Paraty - 250 km südlich von Rio de Janeiro -verbracht hat, "ein Kindheitsparadies" (19). Nach dem Tod ihrer Mutter verlässt ihr Vater dieses Paradies, um in seine Heimat Lübeck zurückzukehren, wo Julia mit ihren Geschwistern bei einer Pflegemutter untergebracht wird, während der Vater auf seine Plantage zurückkehrt.

Unter dem Leitspruch "Verleugne dich selbst" (33) wird sie ihren Weg in Lübeck gehen, den Konsul Mann heiraten - der Rest ist bekannt.

Thomas Mann selbst erblickt mit sieben Jahren zum ersten Mal das Meer, "sein Meer, die Lübecker Bucht, wo die Familie ab 1882 jedes Jahr vier Wochen Sommerferien verbrachte." (51) Eine Erfahrung, die ihn sein Leben lang begleitet und die sich vor allem in seiner Romanfigur Hanno Buddenbrook widerspiegelt.

Volker Weidermann klammert auch Thomas Manns Liebe zum eigenen Geschlecht nicht aus und stellt dar, wie Mann zur der Überzeugung gelangt, man brauche "eine Rüstung aus Bürgerlichkeit und Wohlanständigkeit, um in dieser Welt den inneren Kern aus Abenteurertum, Frivolität, unangemessener sexueller Neigung und Verworfenheit zu bewahren." (121)

Auch der Umschwung seiner politischen Einstellung wird dargelegt und in Bezug zum Meer gesetzt. In seiner Rede "Von deutscher Republik" habe er sich auch vom Meer verabschiedet, bzw. vom "Sog des Meeres. Von all dem, wofür das Meer für ihn immer auch stand: Verantwortungslosigkeit, Sympathie mit dem Tod, Sog ins Verderben, verbotene Liebe, Unpolitik, Antidemokratie, Rausch, Romantik, seliges Vergessen, Glück ohne Pflicht, Schönheit, Ferien für immer." (14)

Fazit: Ein Sachbuch, das für alle, die Thomas Mann und sein Werk kennen, neue Aspekte beleuchtet, und zudem "papierene Fährten" legt, wie jemand aus der Leserunde so treffend bemerkt. Dank der Bibliografie am Ende kann man gleich weiterlesen oder die Werke Thomas Mann mit neuem Blickwinkel genießen :).