Sonntag, 19. März 2023

Percival Everett: Die Bäume


Leserunde bei whatchaReadin


Der Roman basiert auf einem historischen Fall: Im Jahr 1955 wurde der 14-jährige Emmett Louis Till, ein US-Amerikaner afroamerikanischer Abstammung, in Money, Mississippi vom Lebensmittelhändler Roy Bryant und dessen Halbbrunder J.W.Milam grausam ermordert, weil er angeblich Bryants Frau Carolyn „Bye, Babe“ gesagt und sie um die Taille gefasst haben soll.
Der Tod des Jungen löste eine nationale Debatte über Rassismus in den USA aus, trotzdem wurden die beiden Mörder von einer aus weißen Männern bestehenden Jury freigesprochen. (Quelle Wikipedia).


Everett lässt seine Handlung ebenfalls in Money spielen, Anfang des 21.Jahrhunderts, die einer der Protagonisten folgendermaßen beschreibt:
"Wir sind hier nicht in der Großstadt. Wir sind hier noch nicht mal im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir sind ja kaum im zwanzigsten, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Ein Stadt, in der Rassismus auf der Tagesordnung steht und die Rednecks (im Sinne von konservativen Reaktionären) fast uneingeschränkt das Sagen haben.

Carolyn Bryant, die Emmett Till beschuldigt hat, lebt tatsächlich noch als Granny C bei ihrem Sohn Wheat Bryant und seiner Frau Charlene.
"Wheat war zurzeit arbeitslos, war ständig und immer zurzeit arbeitslos. Charlene wie oft und gern darauf hin, dass das Wort zurzeit ein Davor und ein Danach voraussetzte". (S.11)
Gleich zu Beginn offenbart Carolyn, deren Identität im Verlauf des Romans offenbart wird, ihren Meineid: "Ich hab dem kleinen Kerl unrecht getan. Wie es geschrieben steht: Alles rächt sich früher oder später." (S.17) - und das wird es tatsächlich, darum geht es in diesem Roman, um Rache für die Opfer der Lynchjustiz.

Unter mysteriösen Umständen werden nacheinander sowohl Junior Junior Milam, der Sohn J.W.Milams, als auch Wheat Bryant getötet. Neben ihren verstümmelten Leichen, denen die Hoden abgeschnitten wurden, liegt jeweils eine schwarze Leiche, die eben jene Hoden in den Händen hält. In beiden Fällen ist es derselbe Tote, der nach dem ersten Mord an Milam auf ungeklärte Weise aus der Gerichtsmedizin verschwindet.
Der örtliche Sheriff Red Jetty ist nebst seinen wenig intelligenten Deputy Sheriffs Delroy Digby und Braden Brady mit den Morden überfordert, so dass sie Unterstützung vom MIB (=Mississippi Investigation Bureau) erhalten.
Red Jetty Kommentar:
"Großstadtbullen kommen hierher zum Arsch der Welt, um den Hinterwäldlern zu helfen. Keine Sorge. Ich bin nett zu den Scheißern." (S.37)

Ed Morgan und Jim Davis, beide afroamerikanischer Herkunft, nehmen sich des Falls an und freunden sich mit Kellnerin Gertrude an, die zu Mama Z. führt. Welche Rolle spielt diese über 100 Jahre alte Dame, ebenfalls afroamerikanischer Herkunft, die in einem Archiv die Namen aller Opfer von Lynchmorden in den USA gesammelt hat?
Das Morden oder besser gesagt, die Racheakte gehen weiter – und zwar nicht nur in Money, sondern in den gesamten Vereinigten Staaten, wobei die Opfer ausschließlich weiße Rassisten sind, denen allesamt die Hoden abgeschnitten werden und jeweils von einem Toten – afroamerikanischer, asiatischer oder indigener Herkunft in der Hand gehalten wird. Wer steckt hinter all diesen Rachemorden? Geht es nur noch um den Fall Emmett Till oder steht etwas größeres Ganzen dahinter? Woher kommen all die Toten?

Der Roman hat mich über viele Seiten begeistert, v.a. durch den Aufbau in kurze, actionreichen Kapitel, seine besondere Sprache, in der die tumben Weißen gnadenlos mit Witz durch den Kakao gezogen werden. Die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Trumps, der ebenfalls einen satirisch überzeichneten Auftritt hat (der allerdings aus meiner Sicht weniger gelungen ist), werden in ihrer Dummheit, ihrem eingeschränkten Denken regelrecht vorgeführt, so dass man an vielen Stellen lachen muss. Das vergeht jedoch wieder schnell, wenn man sich die Lynchmorde und den alltäglichen Rassismus, unter dem Amerikaner:innen afroamerikanischer, aber auch asiatischer und indigenen Herkunft auch heute noch massiv leiden, vor Augen führt.

Der Roman ist eine „Rachefantasie“ (Klappentext), die gegen Ende hin ins Magisch-Realistische übergeht. Der Schluss lässt mich als Leserin etwas ratlos zurück, aber vielleicht ist gerade das die Absicht des Autors, der auf drastische Art und Weise auf den Völkermord an Schwarzen, Asiaten und Indigenen in den USA aufmerksam machen will.

Das ist ihm auf jeden Fall gelungen!







Sonntag, 5. März 2023

Janet Lewis: Draussen die Welt

 Leserunde auf whatchaReadin

Im Mittelpunkt des Romans, der 1943 zum ersten Mal in den USA erschienen ist und während der Weltwirtschaftskrise – ca.1929-1933 spielt, steht die etwa 50jährige Mary Perrault, die aus Schottland stammt, inzwischen jedoch in Kalifornien, in der Nähe von San Fransisco lebt. Sie ist glücklich verheiratet und hat vier Kinder – Jamie, Duncan, Andrew und die 15jährige Melanie. Ihr Mann ist gelernter Gärtner und arbeitet inzwischen bei den Wasserwerken, seine Leidenschaft ist jedoch seine Kaninchenzucht.


Zu Beginn lernen wir ihre ihre Freundin Agnes Hardy kennen.

„Sie waren zusammen aufgewachsen, diese beiden Frauen, in einer von Fischerei und Whiskyherstellung geprägten Stadt in Argyleshire. Und sie waren auch zusammen ausgewandert, doch ihre Wege hatten sich in New York getrennt, als Agnes Wilkie nach Kanada ging und Mary Knox nach Kalifornien.“ (S.14)

Während Agnes Besuch in Marys gepflegten Garten spürt man die tiefe Verbundenheit zwischen den Frauen und den Frieden, der über allem liegt.

„Es war ein Tag wie so viele in einer langen Reihe friedvoller Tage, und er enthielt keinerlei Warnung, dass er der letzte sein sollte. Und doch war Mary Perrault Jahre später in der Lage, auf diesen Nachmittag zurückzublicken wie auf eine in einem Rahmen gefasste Szene, die man im Gedächtnis an einem besonderen Ort bewahrte, und sich an die alltäglichen Worte und Gesten zu erinnern, an die Alltagsdinge, über die sie sprächen, die fortan für immer eine beständige Würde annahmen, die weit über die Worte und die Gesten aller anderen Nachmittage hinausreichte.“ (S.20)

 

Die Vorausdeutung verweist darauf, dass Agnes Hardy mit ihrem Auto verunglückt, weil sie die Eisenbahngleise überquert, ohne die herannahende Lokomotive zu bemerken. Bei dem Unglück kommen auch ihre beiden Enkelkinder um. Diese Tragödie führt dazu, dass Agnes Mann Lem in der Folge häufig in Marys Haus verkehrt und auch seine beiden Neffen, die zu ihm ziehen, Eustace und Walter, Bestandteil der Familie Perrault werden. 

Es geschieht im Folgenden recht wenig in diesem Roman – „Alltagsdinge“ werden geschildert, Anekdoten reihen sich aneinander, abwechselnd mit ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, die in ihrer sprachlichen Ausgestaltung – viele Adjektive und Metaphern - teilweise ausufern, so dass ich mich beim Lesen ab und an gelangweilt habe.

 

Den Beginn des Romans erleben wir größtenteils aus der personalen Perspektive Mary Perraults und erfahren ihre Sicht der Dinge: Reflexionen über den Tod ihrer Freundin, Erinnerungen an ihre eigene Mutter und deren Erfahrungen mit dem Tod und auch die Frage, ob und wie sie ihre heranwachsende Tochter aufklären soll. Im Verlauf des Romans rückt dann Melanie in den Fokus: ihre Freundschaft und/oder Liebesbeziehung zu Eustace, ihre erste Arbeitsstelle, ihre Gedanken über das, was sie im Leben erreichen will. Im Mittelteil widmet sich der Roman vor allem den zwischenmenschlichen Beziehungen und den gesellschaftlichen Konventionen, mit denen die jungen Menschen konfrontiert werden.

 

„Sie verspürte leichte Erregung und Freude darüber, nunmehr verlobt zu sein, von der Freude abgesehen, dass soziale Normen erfüllt waren und man sich in der Situation so verhalten hatte, wie es sich gehörte.“ (158)

 

Es ist dieser Teil, den ich am stärksten finde und der auch – aus meiner Perspektive- unterhaltsam zu lesen ist, während der erste Teil zu wenig Dynamik entwickelt. 

Die Weltwirtschaftskrise wird zwar erwähnt:

„Im November dieses Jahres kam dann die Finanzkrise, die noch viele Jahre lang Folgen haben würde. Die Kinder der Perraults bemerkten kaum etwas davon, für sie war es lediglich eine weitere aufregende Nachricht n Zeitung und Radio“ (95),

spielt, entgegen der Ankündigung im Klappentext, eher eine untergeordnete Rolle. In der missglückten Beziehung zu den neuen Nachbarn tritt dieser Aspekt am Rande in Erscheinung.


Die Stärke des Romans bildet seine Hauptfigur. Marys Sicht auf die Dinge, „alles funktionierte besser, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen, und nicht versuchte, sie zu sehr zu beeinflussen“ (255), bestimmen ihr Handeln, so dass sie für die anderen eine Art Bezugsperson wird, deren moralischem Urteil man vertrauen kann. 

Die Schwäche sehe ich in den ausufernden Beschreibungen und der fehlenden Handlung - sowohl innerer als auch äußerer – vieler Szenen.

 

Fazit: Man braucht Muße und Geduld, um diesen Roman zu lesen ;)

Samstag, 28. Januar 2023

Eva Björg AEgisdóttir: Verschwiegen

 - ein Island-Krimi

Nach längerer Krimiabstinenz war der erste Band dieser neuen Reihe aus Island eine echte Offenbarung. Auch in der Vergangenheit schlug mein Herz immer für die skandinavischen und nordischen Krimis, daher dachte ich, als ich die Leserunde auf whatchaReadin sah, dieses Mal bin ich wieder dabei. Und ich bereue es nicht.

Mit der jungen Polizistin Elma, die nach der Trennung von ihrem Freund David aus Reykjavík in ihre kleine Heimatstadt Akranes, ein Nest, in dem sich alle kennen, zurückkehrt, hat die Autorin eine Sympathieträgerin in den Mittelpunkt gestellt, die Entwicklungspotential hat. Mir gefällt, dass die Figur keinen Stereotyp bedient, sondern sehr individuell und authentisch gestaltet ist, wie fast alle Figuren in dem Krimi. Kein Schwarz und Weiß. Es scheint fast so, als stünde nicht der Mordfall im Vordergrund, sondern die Psychologie der einzelnen Protagonist:innen, fast viel interessanter ist.

Zum Mordfall:

Eine Frau zwischen 30 und 40 Jahren wird am alten Leuchtturm am Meer bei Akranes zwischen den Felsen aufgefunden. Sie heißt Elísabet Hölludóttir und hat ihre Kindheit in Arkranes verbracht.

Gemeinsam mit ihrem Kollegen Saevar und ihrem Vorgesetzten Hödur muss Elma diesen Fall lösen, der tief in die Vergangenheit des Opfers reicht.

Diese Vergangenheit wird immer wieder in kursiv gesetzten Kapiteln erzählt. So erfahren die Leser:innen sukzessive etwas über die Kindheit Elísabets - mehr als die Ermittler:innen.

Ihr Vater ist im Jahre 1989 nicht mehr nach einem Sturm vom Meer zurückgekehrt, da ist sie sechs Jahre alt und ihre Mutter wieder schwanger. Bereits zu Beginn wird angedeutet, dass das kleine Mädchen sexuell missbraucht wird und unter schwierigen Umständen aufwächst - die Mutter trinkt, hat verschiedene Lebenspartner und bringt ihrer Tochter kaum Liebe entgegen. Nur Elísabets Freundin Sara kann ihr einen Halt geben.

Immer wieder taucht im Zuge der Ermittlungen eine einflussreiche Familie in Akranes auf: Hendrik, ein Immobilienunternehmer, seine Frau Ása sowie deren Sohn Bjarni und dessen Frau Magnea. Auch der gewalttätige Bruder Hendriks spielt eine Rolle. Interessant ist auch, dass Hödur die Ermittlungen dadurch behindert, dass er diese Familie gut kennt, wie es eben in einer kleinen Stadt üblich ist. Viel mehr will ich zur Handlung nicht verraten.

Was mich beim Lesen begeistert hat, ist, dass man permanent Hypothesen aufstellt, diese überprüft, verwirft, neue aufstellt, so dass man in einen Lesesog gerät, der bis zum Ende der Handlung trägt, die nicht alle Fragen beantwortet - so wie in der Realität.

Ich freue mich schon auf den nächsten Teil der Reihe!

Montag, 21. November 2022

Yeoh Jo-Ann: Zweckfreie Kuchenanwendungen

 Leserunde auf whatchaReadin

Die Handlung dieses außergewöhnlichen Romans spielt in Singapur, im Mittelpunkt steht der 35-jährige Lehrer Sukhin, der leicht autistische Züge aufweist.

Eigentlich mag er keine Kinder, unterrichtet jedoch englische Literatur und ist sogar Abteilungsleiter. Grummelnd und wenig zugewandt durchlebt er seine Tage, besucht hin und wieder seine Eltern, deren Wohnzimmer eine Kartonsammelstelle ist - man könnte ja umziehen und einen Karton brauchen. Ganze Türme bauen sich dort auf, enge Gassen zum Durchgehen werden frei gehalten. Während sie dort auf ein weiteres Leben warten, dienen sie Jinn, Sukhins einstiger Freundin, als Wohnstätte mitten in Chinatown, Singapur. Dort entdeckt Sukhin sie zufällig und dieses Treffen wirbelt sein geordnetes Leben gehörig durcheinander.

Warum lebt sie als Obdachlose mitten auf der Straße? Schließlich kommt sie aus einer wohlhabenden Familie? Was ist zwischen ihr und ihrer Schwester, die sich einst so nahestanden, vorgefallen?

Sukhin beschäftigt sich immer mehr mit Jinn statt mit seinem Beruf, was seinem Freund Dennis, einem Homosexuellen - immer noch ein Tabuthema in Singapur - auffällt. Er vermutet eine Frau hinter Sukhins Veränderungen und liegt somit nicht falsch. 

Der Titel des Romans spiegelt Sukhins große Leidenschaft für Kuchen wider. Jedes Mal, wenn er Jinn besucht, bringt er ihr einen Kuchen mit und er beginnt sogar für sie zu backen. Eine potentielle Heiratskandidatin, die seine Eltern für ihn ausgewählt hatten, scheiterte daran, dass sie keinen Kuchen mochte. Kuchen und Kartons bilden einen Rahmen um diese wunderbar skurrile, humorvolle und warmherzige Geschichte.

Eine Besonderheit sind die Zwischenkapitel, die in einer kursiven Schrift gesetzt sind und die man am besten ganz am Ende noch einmal lesen sollte ;) - weil sie die Geschichte der beiden Protagonisten fortsetzen und beleuchten - und aus der Perspektive Jinns verfasst sind.

Insgesamt hat mir der Roman außerordentlich gut gefallen, weil er so leicht daherkommt, auch sprachlich, und doch hinter die Kulissen schaut und unserer Wegwerfgesellschaft den Spiegel vorhält. So gehört Jinn zu einer Gruppe von Menschen, die Essen von Märkten sammeln, das weggeworfen werden soll, um daraus für Obdachlose und Bedürftige zu kochen. Die kritischen Töne schwingen jedoch eher mit - im Vordergrund stehen die beiden Hauptfiguren und ihre Entwicklung.

Ein wunderbares Debüt, dem hoffentlich noch viele weitere Romane folgen ;)

Vielen Dank dem Körner-Verlag für dieses auch optisch sehr schöne Lese-Exemplar!

Samstag, 12. November 2022

Celeste Ng: Unsere verschwunden Herzen

 - eine Dystopie

Leserunde auf whatchaReadin.

Noah ist 12 Jahre alt, doch sein Name "fühlt sich immer noch wie eine Halloween-Maske an, gummiartig und unangenehm, etwas, das nicht richtig sitzt." (13)

Denn eigentlich ist er Bird - so hat ihn seine Mutter immer genannt, die ihn und seinen Vater Ethan jedoch vor drei Jahren verlassen hat, warum, erfährt man zunächst nicht.

Zu Beginn der Handlung erhält Bird einen Brief von ihr.

"Natürlich aufgerissen und wieder versiegelt mit einem Aufkleber, wie alle Briefe: Geprüft zu Ihrer Sicherheit - PACT." (11)

Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft in den USA, in der die Regierung nach einer drei Jahre andauernden Krise, deren Ursache im Unklaren bleibt, ein Gesetz (PACT) beschlossen hat, das verspricht, "amerikanische Ideale und Werte" zu schützen und "gegen unamerikanische Ideen" zu verteidigen. Als Sündenbock für die Krise hat man sich auf China geeinigt - "diese gefährliche, ständige gelbe Bedrohung" (197) - was für Menschen, die asiatisch aussehen bedeutet, dass sie offen auf der Straße angepöbelt werden dürfen, dass es gewaltsame Übergriffe gibt, während alle anderen zusehen. Als Druckmittel nimmt die Regierung Kinder aus den Familien heraus, die sich gegen PACT und gegen die Regierung selbst stellen. Die "verschwundenen Herzen" kommen in Pflegefamilien und die ursprünglichen verhalten sich still, in der Hoffnung ihre Kinder auf diesem Weg wieder zurückzubekommen.

Der Begriff "verschwundene Herzen" stammt aus einem Gedicht von Birds Mutter Margaret Miu, "einer Person of Asian Origin" (17), die als Verräterin gilt. Deshalb stehen Bird und sein Vater unter Beobachtung. Sein Vater, einst Linguistikprofessor, arbeitet inzwischen in der Universitätsbibliothek in Harvard und bläut seinem Sohn ein, nicht aufzufallen, unter dem Radar zu fliegen, keinerlei Aufsehen zu erregen. Allein sein Aussehen veranlasst andere Menschen ihn anzugreifen. Doch Bird schlägt die Warnungen in den Wind und macht sich auf die Suche nach seiner Mutter - ein Abenteuer, das ihn nach New York führt.

Wie die Autorin im Nachwort schreibt, ist ihr Romans dicht an der Realität.

"Mit dem Beginn der Pandemie im Jahr 2020 ging ein starker Anstieg antiasiatischer Diskriminierung einher, aber auch das ist kein neues Phänomen: In der amerikanischen Geschichte hat diese Diskriminierung lange und tiefe Wurzeln." (393, Nachwort)

Auch die Tradition Kinder als Druckmittel einzusetzen, ist leider keine Erfindung der Autorin. So gab es in den USA "staatliche Internate für indigene Kinder, (...) und die nach wie vor stattfindende Trennung von Migrantenfamilien an der Südgrenze der USA" (393, Nachwort).

Während der erste und letzte Teil aus der Perspektive des 12-jährigen Birds erzählt werden, erfährt man im Mittelteil im Stil eines Erzählberichtes die Geschichte Margarets. In der Leserunde herrschte Konsens darüber, dass dieser Part aufgrund der Erzählweise weniger berührend ist, dass er dazu dient, die Ereignisse gestrafft zusammenzufassen, die zur Situation in der Gegenwart geführt haben. Der letzte Teil "reißt" den Roman dann wieder raus. Er ist unglaublich spannend und wartet mit einer starken Idee des Protests auf, die verdeutlicht, wie wichtig jedes einzelne Schicksal ist. 

Insofern rüttelt der Roman auf und zwingt, genau hinzusehen und die Augen nicht vor der Diskriminierung zu verschließen, sondern laut davon zu sprechen, Zeugnis abzulegen, damit nichts vergessen wird.

Sonntag, 30. Oktober 2022

Ian McEwan: Lektionen

Leserunde auf whatchaReadin

Im Roman erzählt McEwan die Lebensgeschichte von Roland Baines verknüpft mit der realen politischen Geschichte, die Einfluss auf Baines nimmt, was dieser  mehrfach reflektiert und thematisiert.

McEwan erzählt nicht linear, sondern ausgehend von der Gegenwart im Jahr 1986 erinnert sich der der 38-Jährige an seine Klavierstunden als 11-Jähriger zurück. Dabei hat ihn seine Lehrerin sexuell belästigt hat, was bei ihm aber vor allem sexuelle Fantasien auslöst, so dass seine Lehrerin dem 13-Jährigen als Objekt der Begierde bei der Masturbation dient. 

Roland Baines wurde im Spätsommer 1959 ins Internat nach England geschickt, während seine Eltern in Libyen bleiben. Dort ist sein Vater als britischer Armeeoffizier stationiert. Die Zeit in Libyen hat Roland in guter Erinnerung, auch während der Suezkrise. In dieser Zeit war er in einem Camp evakuiert, in dem er trotz der Abschottung grenzenlose Freiheit erlebt hat,  "sie prägte ihn in seiner Ruhelosigkeit, seinem unklaren Ehrgeiz mit Anfang zwanzig, bestärkte seine Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit." (82)

Auch der Einfluss des autoritären Vaters sowie der depressiven Mutter prägen ihn - Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Erziehung zum Mann vs. Vertrauter der Mutter. In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) nicht: Warum wachsen seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm auf? Warum ist seine Mutter so traurig?

Die Erinnerungen an seine Klavierlehrerin Miriam Cornell werden wach, weil er in der Gegenwart im Jahr 1986 von seiner Frau verlassen wird und nun mit seinem sieben Monate alten Sohn Lawrence allein dasteht. Folgende Nachricht hat Alissa ihm hinterlassen:

"Versuche nicht, mich zu finden. Mir geht es gut. Es ist nicht Deine Schuld. Ich liebe dich, aber dies ist endgültig. Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst." (20)

- trotzdem wird er von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.

Während Roland wie gelähmt ist, legt sich eine atomare Wolke über Europa - der Supergau in Tschernobyl.

"Er hatte gedacht, es sein seine Liebe, die das Kind schützte. Aber ein öffentlicher Notstand ist ein indifferenter Gleichmacher. Kinder eingeschlossen. (...) Was in den Augen eins Politikers gut für die Massen sein mochte, war womöglich für keinen Einzelnen gut, insbesondere nicht für ihn." (52)

Ein Satz, der für viele politische Ausnahmezustände Geltung hat.

Wir begleiten Roland von Ende 30 bis zu seinen 70ern, immer wieder durchbrochen von Rückblicken an seine Jugend, an die Klavierlehrerin, die sein Leben nachhaltig beeinflusst hat, und auch den Beginn seiner Ehe mit Alissa.
Die Geschichte der Eltern der beiden wird erzählt, so dass Licht in die "Familienwolke" fällt und auch Alissas Verhalten wird anhand ihrer Familiengeschichte verstehbar - auch wenn die Tatsache, dass sie ihre Familie verlässt, um ihren Traum Schriftstellerin zu werden verwirklichen zu können, kaum nachvollziehbar bleibt.

Die Geschichte Rolands wird in drei Teilen erzählt, die deutliche Zeitsprünge aufweisen.
Teil 1: 1986
Teil 2: 1989 - 1996
Teil 3: 2002 - 2021

McEwan webt in Rolands Lebensgeschichte die politische Geschichte ein und gemeinsam mit dem Protagonisten tauchen wir auch in die Höhepunkte des letzten Jahrhunderts - den Fall der Mauer, das vorläufige Ende des Kalten Krieges, das zu politischem Optimismus verführt hat, der bitter enttäuscht worden ist.

"Wie - nach welcher Logik, welcher Motivation oder infolge welcher hilfloser Kapitulation - waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US-Kapitol gelangt? Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen." (696)

Die Kunst McEwan besteht für mich darin, dass er Rolands Entwicklung, aber auch die der anderen Figuren, authentisch und nachvollziehbar schildert. Ist man zunächst abgestoßen von Rolands Dahintreiben, wächst einem der Protagonist im Lauf des Romans ans Herz, so dass ich nach 710 Seiten immer noch gern weitergelesen hätte, obwohl fast alle Handlungsfäden aufgelöst werden. Viele kluge Sätze über das Elterndasein, das Älterwerden und den Einfluss der Geschichte auf unser Leben machen diesen Roman zu einem Lesevergnügen.

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sonntag, 9. Oktober 2022

Dörte Hansen: Zur See

 - Inselleben ungeschminkt.

Leserunde auf whatchaReadin

Zu Beginn des Romans werden die Leser:innen von einem, der die Leinen los- und festmacht, mit auf eine Nordseeinsel genommen - "irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7), eine Insel also, die exemplarisch für eine der typischen Ferieninseln steht. 

Der Seemann dient den Fremden als Paradebeispiel.
"Sie (die Touristen) kaufen ihm die Schweigenummer ab, den wilden Bart, das grimmige Gesicht und diese alte Seemannsjacke. Die Fremden lassen sich gern blenden von den Messingknöpfen mit dem Ankermuster und dem Ring in seinem Ohr. Ein Ryckmer Sander passt in ihren Nordseeurlaub wie der Austernfischer und der Seehund und die Kutterscholle." (13f.)

Wir erfahren, dass er der älteste Sohn der Familie Sander ist, deren Mitglieder, neben dem Pastor der Insel, Matthias Lehmann, die Protagonist:innen des Romans stellen.
Auch das Haus der Familie mit seinen Knochenzäunen wird uns vorgestellt. Ein typisches Haus - so wird es suggeriert. Idyllisch, ohne eine Idylle zu beherbergen - der Knochenzaun gibt uns erste Hinweise, dass es hier hart zugeht.
Hanne Sander, die von ihrem Mann Jens verlassen wurde, der auf einer Vogelinsel, dem "Driftland" lebt. Ryckmer, der Alkoholiker ist und die "weiße Wand" nicht vergessen kann. Eske, die Altenpflegerin, die die Touristen nicht mag und an der alten Sprache hängt, und Henrik, der Jüngste, Künstler und Eigenbrötler.

"Auf einer Inselfähre/Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7/10) klingt wie der Anfang einer Sage, eines Märchens.
Hansen führt die von uns, die die Inseln nur aus dem Urlaub kennen, vor: Wir durchschauen die Idylle nicht, lassen uns gern blenden, wollen uns das Urlaubsfeeling nicht mit der Realität zerstören lassen. Das geschieht dann, wenn die vom Festland ihren Traum verwirklichen und sich ein Haus auf der Insel kaufen.
Dieser Bruch der Illusion, der Idylle taucht immer wieder auf. Ein Beispiel ist, dass die Kinder wegen der Feriengäste aus ihren Zimmern vertrieben werden und gemeinsam auf dem Dachboden schlafen müssen, sie werden "Luftkinder" (48), "Flaschengeister" (48). Hansen versteht es mit ihren Bildern sofort Assoziationen zu wecken, ein Erkennen hervorzurufen.
Doch die Touristen haben sich verändert, werden anspruchsvoller, raumgreifender, so dass Hanne Sander keine "Badegäste" mehr aufnimmt - ihr Haus mit Knochenzaum wird den Touristen nicht mehr gerecht.

Auch der Pastor sucht bewusst die "Tagesränder (...). Die Dämmerzeiten zwischen Tag und Nacht, die frühen Nebelmorgen und die späten Regennachmittage. Man muss am Strand, beim Bäcker und im Supermarkt gewesen sein, bevor die erste Fähre mit den Bustouristen und den Fahrradfahrern kommt. Und man muss warten, bis die Abendfähre weg ist, wenn man klein auf einem Inselfriedhof stehen will." (23)
In der Hauptsaison ist er in Hochform, strahlt von seine Kanzel, bezaubert mit seinem Charisma.
"Er fühlt sich manchmal wie ein Vogel, der die Federkleider wechselt: sommerliches Prachtkleid, winterliches Schlichtkleid, und dazwischen liegt die Zeit der Mauser." Jetzt ist er "Federlos" (=Kapitelüberschrift), denn seine Frau will die Insel verlassen und nur noch am Wochenende kommen, will näher bei den Kindern sein, um diese zu unterstützen. Der Titel der jeweiligen Kapitel ist sozusagen ihr Motto.

Ein Figurentableau mit vielen Problemen, alltäglichen und außergewöhnlichen. In der Familie Sander und auch beim Pastor bündeln sich diese exemplarisch und Hansen erzählt, wie sie sich weiterentwickeln, sich das Beziehungsgeflecht langsam wieder ändert und auch, wie sich das Leben auf der Insel durch die Touristen unwiederbringlich den neuen Zeiten anpassen muss.

Ein Roman, in dem genau hingeschaut wird. Auf die Touristen und die Insulanerer:innen, auf einzelne Figuren, die in ihrer Komplexität dargestellt werden. Und das in einer vordergründig nüchternen Sprache, die jedoch immer wieder poetisch wird. Das ist der besondere Ton ihrer Romane. Die Figuren werden beleuchtet, aber mit Empathie und Nachsicht.

Klare Leseempfehlung!