Samstag, 25. November 2023

Charles Lewinsky: Rauch und Schall

 - das Denkmal Goethe wackelt

Leserunde auf whatchaReadin

Welch genialer Anfang: "Goethe hatte Hämorrhoiden." (S.7)

Der große Dichterfürst, bewunderter Klassiker wird von einer so unsäglichen Krankheit geplagt. Goethe wird in diesem Roman von Lewinsky von seinem Sockel gestoßen und als Mensch dargestellt - etwas arrogant, sehr von sich eingenommen.
Gerade auf dem Rückweg von seiner Schweizer Reise 1797 wird er in der Kutsche durchgeschüttelt und leidet. Zudem muss er feststellen, dass er eine Schreibblockade hat. Die bedeutungsschweren Sentenzen, die leichten Verse, nichts gelingt ihm mehr. Zurück in Weimar wartet der Herzog auf das für seine Frau bestellte Festgedicht - doch die Verse wollen nicht fließen,
"als hielten ihm tausend Dämonen die Hand fest und hinderten ihn daran, auch nur einen Buchstaben zu Papier zu bringen, dass die Gedanken schneller vor ihm flohen, als er sie erspähen konnte" (S.46).
In seiner Verzweiflung nimmt Goethe das Angebot des Vielschreibers Christian August Vulpius, Bruder seiner Geliebten Christiane, an und lässt sich von ihm das Festgedicht schreiben. Und das, obwohl er ihn dafür verachtet, Literatur zur Unterhaltung zu verfassen - heute würde man sagen Belletristik oder Massenliteratur.
Und doch ist es gerade Vulpius, der ihm zu helfen vermag und ihm letztlich die Weiterarbeit am Faust ermöglicht - das zumindest ist Lewinskys Version, der laut Klappentext "minuziös recherchierte Fakten, versetzt mit fantasievollen Lügen" zusammengefügt hat.
Nebenbei nimmt er die höfische Gesellschaft Weimars aufs Korn und zeichnet Christiane als lebenstüchtige, pragmatische Frau, die ihren Bruder und Goethe geschickt zusammenbringt.
In bilderreicher Sprache, im Ton Goethes mit vielen Bezügen zur griechischen Mythologie und intertextuellen Verweisen unterhält Lewinsky die Lesenden. 
Neben der guten Story überzeugt v.a. die Komik vieler Szenen, die teilweise Slapstick-Charakter haben. Ich musste tatsächlich beim Lesen öfter lachen.

Eine klare Lese-Empfehlung, nicht nur für Goethe- und Lewinsky-Fans.

Mittwoch, 25. Oktober 2023

Alex Schulman: Endstation Malma


 "Ein Zug, drei Menschen und ihre miteinander verwobenen Schicksale" (Klappentext)

Leserunde auf whatchareadin

Der 3.Roman von Alex Schulman ist ebenso meisterhaft komponiert wie die beiden Vorgänger "Die Überlebenden" und "Verbrenn all meine Briefe". 

Zunächst glaubt man, alle drei Figuren, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, säßen im gleichen Zug mit der Endstation Malma.

- Harriet mit ihrem Vater, der seine Fototasche dabei hat, samt einer Urne

- Oskar und seine Frau, die im Zug nach Malma sitzen, während sie schläft

-Yana, eine junge Frau, die ebenfalls im Zug nach Malma, um etwas herauszufinden.

Der Autor führt uns auf die falsche Fährte, erst im 3.Kapitel, realisiert man, dass die drei Handlungsstränge zeitlich versetzt sind:

"Ninchens Beerdigung, August 1976, und darunter der Name ihrer Mutter: Harriet." (S.59) Im Folgenden werden die Fotos beschrieben, die auf der ersten Reise nach Malma im Jahr 1976 entstanden sind.
"Es gab mehrere Reisen nach Malma. Die erste fand in den Siebzigerjahren statt. Da war ihre Mutter noch ein Kind und fuhr mit ihrem Vater dort hin, um jemanden namens Ninchen zu beerdigen - ein Haustier vielleicht? (Harriet-Kapitel)
Die zweite Reise erfolgte am 17.September 2001. Ihre Mutter war erwachsen und todunglücklich in der Beziehung mit ihrem Vater." (S.60) (Oskar-Kapitel)
"Und das hier ist die dritte Fahrt." (S.60) (Yana-Kapitel)

Erneut vermag es Schulman mit einer ungewöhnlichen Komposition zu begeistern.
Neben der Zugreise nach Malma gibt es noch einen anderen roten Faden, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält: die schwierige Tochter-Vater-Beziehung, unter der sowohl Harriet als auch Yana leiden. Beide haben Angst ihre Väter zu verärgern, können sich nicht entfalten, leben in der Stille einer fehlenden Kommunikation. Allerdings zeigt sich, dass Harriets Vater sie durchaus geliebt hat, nur nicht imstande gewesen ist, es ihr zu zeigen. Auch Oskar fragt sich, warum er seine Tochter verliert, doch seine ungezügelte Wut verhindert, dass die beiden zueinander finden.

Beide Mädchen, Harriet und Yana, wurden von ihren Müttern verlassen. Warum verlässt ausgerechnet Harriet, die selbst unter der Trennung von der Mutter zu leiden hatte, ihre eigene Tochter. Das ist eines der Geheimnisse sein, die es zu ergründen gilt und das sich am Ende auflöst.
Während der Zugfahrten erinnern sich die drei Reisenden an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit. Kapitel für Kapitel entfaltet sich das Bild der dysfunktionalen Familie.

"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S.230)

Ein Satz, den Oskar denkt und der exemplarisch für alle Protagonist:innen gilt. Wie traurig, denn eigentlich sollte doch die Kindheit ein Ort der seligen Erinnerung sein.

Dieses Zitat bringt für mich zum Ausdruck, was alle Protagonisten erlebt haben. Ob Oskar, der unter der mangelnden Berührung seiner Mutter gelitten hat, oder Harriet und Yana, die mit schweigenden und jähzornigen Vätern aufwachsen müssen, sie alle erleben keine glückliche Kindheit. Welche Folgen das hat, kann man am besten an Harriet sehen, die Dreh-und Angelpunkt der Geschichte ist. Die sich immer wieder „you are not alone“ (Yana) vorsagen muss, um einen Halt zu finden. An Harriets Figur wird die Frage aufgeworfen, inwiefern ihre Kindheit ihr Verhalten als Erwachsene rechtfertigt.

"Die geraden Linien von der Kindheit bis in die Gegenwart hinauf, alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist. (...) Und man ist selbst niemals schuld, man ist immer nur das Opfer der Fehler und Schwächen anderer." (S.233)

Harriet sieht sich als Opfer, sucht die Entschuldigung in ihrer Vergangenheit, deshalb auch die 2.Reise nach Malma. Yana beschreibt das Verhältnis ihrer Eltern sehr treffend:

"Wenn ihre Eltern sich stritten, stellte Yana sich oft vor, dass das, was sie hörte, Hilferufe von Eingesperrten wären, einem Mann und einer Frau, die irgendwo gefangen gehalten wurden und verzweifelt herauszukommen versuchten." (147)

Gegen Ende des Romans nimmt die Handlung an Fahrt auf, die Kapitel werden kürzer und es klärt sich, warum Harriet nicht zu Yana zurückgekehrt ist. Diese Aufklärung ist allerdings wenig realistisch, definitiv eine Schwachstelle des Romans. Es bleiben weitere Fragen offen, über die am Ende nachdenken darf ;).



Donnerstag, 12. Oktober 2023

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

übersetzt von Katja Scholz

Leserunde auf whatchareadin

Selten habe ich so einen irreführenden Klappentext gelesen: "Ein starkes Buch über die Demenz einer Tochter und die Liebe ihrer Tochter."

Während die Demenz der Mutter, Alice, von Beginn an zumindest angedeutet wird, macht sich die Liebe der Tochter erst im letzten Teil bemerkbar.

Der Roman ist aus insgesamt 5 Teilen aufgebaut, die sich auch dadurch voneinander absetzen, dass sie unterschiedliche Erzählperspektiven und auch Erzählformen aufweisen. 

"Das Schwimmbad unter der Erde" beschreibt in der Wir-Form, wobei Alice Teil dieses Kollektivs ist -

"Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz" (S.9) -

ein Schwimmbad unter der Erde und vor allem die einzelnen Menschen, die regelmäßig dieses Schwimmbad aufsuchen. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend mit wenigen Sätzen eine Figur zu skizzieren, so dass man als Leser:in direkt ein Bild vor Augen hat. Es werden verschiedene Schwimmtypen aufgezählt, die Motivation zu schwimmen wird unter die Lupe genommen, die Bedeutung des Schwimmens für die Einzeln erläutert.

Das Kapitel "Der Riss" - ebenfalls in der Wir-Perspektive erzählt - beschreibt, wie ein mysteriöser Riss am Boden des Beckens auftaucht, über den heftig spekuliert wird. Letztendlich muss das Schwimmbad geschlossen werden, weil sich die Ursache nicht feststellen lässt.

Der Riss als Metapher für Alice Demenz - war eine der Hypothesen aus der Leserunde. Auch ein Symbol dafür, dass im Leben immer etwas Unvorhergesehenes geschehen kann, das uns aus der Bahn wirft - wortwörtlich in diesem Fall. Metaphorisch interessant, hat das Kapitel doch erhebliche Längen.

"Diem Perdidi" - der verlorene Tag beschreibt in der Sie-Form (personale Erzählperspektive), was Alice noch weiß und was sie schon vergessen hat. Im Verlauf des Kapitels verschiebt sich das Wissen Richtung Vergessen. Das ist sehr gut gemacht, auch weil es eine sehr originelle Art und Weise ist, Alice Biographie zu erzählen. Allerdings bleibt die Figur auf Distanz - das mag an der Perspektive und den vielen Aufzählungen liegen, den immer gleichen Satzanfängen, die beim Lesen auf mich ermüdend gewirkt haben. Es ist ein Leben im Stakkato-Stil erzählt, der nicht erschüttert und bewegt.

"Belavista" - ein Pflege-und Altenheim steht im Fokus dieses Kapitels:

"Sie sind heute hier, weil Sie den Test nicht bestanden haben." (S.87)

Insgesamt sehr zynisch erzählt, über das, was Alice erwartet, was die Einrichtung zu leisten vermag - für Zusatzzahlung gibt es Zusatzleistungen, was sie überwacht, wie sie arbeitet. Das System wird gnadenlos kritisiert - nicht die Menschen, die dort arbeiten und leben.

Erst im letzten Teil "EuroNeuro" tritt die Tochter in Erscheinung. Aus der Du-Perspektive macht sie sich Vorwürfe der Mutter zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Wenn der Klappentext ansatzweise zutrifft, dann auf dieses letzte Kapitel, das auch das einzige ist, das beim Lesen eine emotionale Reaktion hervorruft - zumindest bei mir.

Insgesamt ist der Roman erzähltechnisch und vom Aufbau her sehr interessant, trotzdem hat er mich nicht bewegt, weil die Figuren auf meistens Distanz bleiben. Das muss kein Kriterium für die Qualität eines Romans sein, aber wenn von der Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter die Rede ist, möchte ich berührt, erschüttert, mitgenommen und nicht auf Distanz gehalten werden.


Montag, 4. September 2023

Monika Helfer: Die Jungfrau

 - ein autofiktionaler Roman über eine Freundschaft.

Leserunde auf whatchaReadin

In Helfers aktuellen Roman erzählt die Autorin von ihrer Jugendfreundin Gloria. Die beiden haben sich aus den Augen verloren und keinen Kontakt mehr gehabt, bis an Monikas 70.Geburtstag ein Brief von Gloria eintrudelt, geschrieben von ihrer Nichte Klara, die sie bittet zu kommen, weil Gloria im Sterben liege.
So macht sich Moni auf, die einstige Freundin zu besuchen.

Gloria lebt immer noch in dem einst luxuriösen Haus, in dem sie als Kind und Jugendliche mit ihrer Mutter gewohnt hat. Während Moni aus ärmlichen Verhältnissen stammt, wuchs Gloria im Überfluss auf, allerdings nur in finanzieller Hinsicht. Die Mutter ließ sie in Unsicherheit darüber, wer ihr Vater ist, so dass Gloria sich einen Amerikaner erträumt hat. 

"Irgendwie war es der Mutter gelungen, die Illusion in Glorias Herz zu implantieren. (...) Die Illusion, die Sehnsucht, auch der Hass, die Angst, die Unbefriedigtheit sollen nicht sterben, wenn ich sterbe ... Sie sind mein Erbe." (S.57)

Es ist eine seltsame Freundschaft, von der Monika Helfer erzählt. Eine Freundschaft, die man heutzutage als toxisch bezeichnen würde. Gloria versucht Moni mithilfe ihres Geldes, ihrer Schönheit, ihrer Schauspielkunst und ihrer Wirkung auf Männer zu imponieren und auch zu übertrumpfen, während sich Moni moralisch überlegener fühlt und sozusagen ihren Wettstreit gewinnt. Denn sie heiratet zuerst, bekommt Kinder, wird eine erfolgreiche Schriftstellerin.

Nichtsdestotrotz verbindet die beiden Mädchen etwas, letztlich haben sie sich trotz aller Unterschiede und Differenzen gern, aber es reicht nicht, um ein Leben lang konstant in Kontakt zu bleiben.

Assoziativ erzählt Monika Helfer einzelne Episoden der Freundschaft - nicht in chronologischer Reihenfolge, was sie selbst zum Gegenstand des Romans macht.

"Im Kopf gibt es die Zeit nicht. So gesehen, ist die Schriftstellerei der Warteraum schlechthin."
(S. 25)

"Die Zeit schwindet mir und schwindelt, Vergangenheit und Gegenwart wachsen ineinander. Während ich mit Wut auf die Tastatur klopfe, ärgere ich mich über Gloria nicht weniger, als ich mich damals geärgert hatte. Jahre vergehen, der Rossschwanz bleibt. Was vor fünfzig Jahren weh getan hat, tut immer noch weh." (S.84)

Das passt zu dem Zitat mit dem Wartezimmer und dass es im Kopf keine Zeit gibt. Die Gefühle sind genauso präsent wie vor langer Zeit. Sie warten darauf, dass man sie aufs Papier bringt. 

Und das hat Monika Helfer getan - in der ihr typischen lakonischen Sprache hat sie die Geschichte ihrer Freundschaft mit Gloria aufgeschrieben und sie gleichzeitig verarbeitet. Das war zumindest mein Eindruck.


Sonntag, 3. September 2023

Stefan Moster: Bin das noch ich

 - Identitätskrise eines Violinisten

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Simon Abrameit ist Berufsmusiker - Violinist - und zu einem Konzert in Helsinki eingeladen. Er reist mit gemischten Gefühlen aus Deutschland an.

"Es hat mit seiner linken Hand zu tun. Sie ist unzuverlässig geworden" (S.9). Alle anderen freuen sich jedoch auf diesen gemeinsamen Auftritt, da sie nach der Corona-Pandemie endlich wieder vor Publikum musizieren dürfen.

"Nur aus Russland ist diesmal niemand dabei" (S.10), während die Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine herzlich begrüßt werden. Der Roman spielt folglich im Sommer 2022.

Simon trifft auch die Violinistin Mai wieder, deren Eltern zur Zeit des Vietnamkrieges nach Deutschland geflüchtet sind und die einen Finnen geheiratet hat. Nachdem seine linke Hand ihn bei der schwierigen Sonate für Violine solo von Béla Bartok im Stich lässt, denn sie "erstarrt in einer Qual, die den ganzen Arm sowie die linke Schulter lahmlegt" (S.20), bietet sie ihm an, sich in ihrem kleinen Ferienhaus auf einer einsamen Schäreninsel zurückzuziehen.

In der Auseinandersetzung mit seinem Handicap schreibt er auf der Insel in sein Notenheft Briefe an Darja, ebenfalls eine Violinistin, die einst aus Russland in den Westen geflohen ist und ukrainische Großeltern hat. Gemeinsam mit ihr hat Simon vor Jahrzehnten auf einem Wettbewerb gespielt und "erkannte sofort (ihre) überragende Begabung und erkannte sie auch an, neidlos, wie man so sagt, mit Bewunderung." (S.81)

Seine Vergleiche und Erinnerungen an Darja zeigen, dass er von der Angst, nicht gut genug zu sein, schon seit jenem Wettbewerb beherrscht wird. Schon damals hatte er Zweifel, ob Violinist als "Beruf(ung)" für ihn noch in Frage kommt.
Und auch jetzt auf der Insel stellt er sich die Frage, wer er denn sei, wenn er nicht spiele.
Simon ist in einer Existenzkrise und braucht offenkundig Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen, was er außer Violinist noch sein kann. Die Frage "Aber bin das noch ich?" (S.132) treibt ihn um und gleichzeitig zur Natur, zu den Vogelstimmen. Wie eine Teilnehmerin aus der Leserunde recherchiert hat, ist Moster Hobby-Ornithologe. Das merkt man den Beschreibungen der einzelnen Vogelarten, deren Brutverhalten sowie deren Singstimmen deutlich an. Gleichzeitig ist dies eine Stärke des Romans sowie die detaillierte Darlegung dessen, was Simon beobachtet, was er hört, wie er sich auf der Insel fühlt und sich zwingt, nicht zu üben.
Nebenbei lesen wir auch eine Art Biographie des ungarischen Musikers Béla Bartok, ebenfalls ein Exilant,  und schlüpfen in das Denken eines Musikers, der die Stücke, die er spielt, innerlich hören kann. Sehr faszinierend geschildert. Auch die Geräusche der Natur klingen für ihn wie Musik - "Die Welt ist Klang" als Leitmotiv.
Obwohl der Roman sehr handlungsarm ist, ist er weder langweilig noch langatmig, da die Identitätskrise Simons und sein Erleben der Natur auf der Insel die Lesenden gefangen nehmen.
Der Roman ist in der personalen Perspektive Simons verfasst, bis auf die Briefe an Darja, die er in sein Notenheft schreibt, sowie einen Teil, der sozusagen einen Auszug aus jenem Heft bildet.

Diese Briefe und das Notizbuch aus der Ich-Perspektive haben mir am besten gefallen. Gerade, weil Darja ein Gegenüber, ein positives Vorbild für den Protagonisten ist. Eine Adressatin seiner Gedanken, weil er glaubt, sie verstehe ihn.
Der letzte Teil hätte für mein Empfinden etwas kürzer ausfallen können, ansonsten - ein wunderschöner Roman.

Samstag, 29. Juli 2023

Sarah Moss: Sommerwasser

- multiperspektivischer Episodenroman über einen Regentag

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Sarah Moss Roman spielt im an einem schottischen See (Loch) in einer Ferienhaussiedlung, in dem die unterschiedlichsten Charaktere aufeinandertreffen. Die Handlung erstreckt sich über einen Tag, an dem es ununterbrochen regnet und den Feriengästen kaum Raum für Aktivitäten gibt.

In 12 Kapiteln erfahren wir aus unterschiedlichen personalen Perspektiven, wie die einzelnen Figuren einen Teil dieses Tages erleben. Als Leser:innen offenbaren sich uns jeweils die Gedanken der Personen, so dass sich deren Charakter und Verhaltensweisen vor uns ausbreiten. Obwohl Moss ganz unterschiedliche Figuren zu Wort kommen lässt, wirkt jede Perspektive authentisch und glaubwürdig.
Die 40jährige Justine, die sich früh morgens aus dem Haus schleicht, um durch den Regen zu rennen und dabei über das Laufen und ihr Leben reflektiert, oder David, der Arzt im Ruhestand, der schon seit Jahren mit seiner Frau Mary im Sommer in die Hütte fährt und sieht, wie Justine am Haus vorbeiläuft.

Es gibt keine Interaktion zwischen den einzelnen Partien, nur Beobachtungen, Mutmaßungen und
(Vor-)Urteile. Vor allem gegenüber den Ukrainern, die nachts laute Musik hören und somit Unmut bei den anderen erzeugen.

„Andere Menschen bleiben im Urlaub im Bett, erst recht, wenn sie die halbe Nacht wach gehalten wurden von diesen egoistischen Arschlöchern mit ihrer lauten Musik, die gewusst haben müssen, dass sie den kleinen Kindern und deren Eltern und den alten Leuten und überhaupt allen den Schlaf und damit den nächsten Tag ruinierten.“ (8)

Offener Rassismus tritt bei der kleinen Lola zutage, wenn sie das ukrainische Mädchen Violetta auf eine Schaukel lockt, die über dem „Loch“ hängt und es dann mit Steinen bewirft. Diese bedrohliche Situation wird nicht aufgelöst und schwebt über den weiteren Kapiteln. Was ist mit Violetta geschehen?
Aber auch die Kanufahrt eines jungen Mannes, der seinen Eltern und der jüngeren Schwester entfliehen will, wird lebensbedrohlich, weil er seine Kräfte überschätzt. So kämpfen die einzelnen Figuren mit den widrigen Umständen, mit sich selbst und ihren Gedanken, gefangen in diesem Regentag, der am Ende eine völlig unerwartete Wendung nimmt.

Aus jeder der Hütten kommen jeweils zwei Figuren zu Wort, teilweise auch die Kinder, wie z.B. Lola, so dass man als Leser:in immer auch eine weitere Perspektive der Handlung erlebt. Nur die Hütte der Ukrainer bleibt stumm, die sieht man nur aus der Sicht der anderen. Gedanken, die teilweise durchaus rassistisch anmuten.

Neben ihrer Gesellschaftskritik übt Moss auch Kritik am Brexit:
„Er blinkt, nimmt die erste Spitzkehre bergauf, ein schönes, glattes EU-gefördertes Wunderwerk der Technik, über das außerhalb der Saison vielleicht zwei Dutzend Autos pro Tag fahren. Wie können die Engländer so dumm sein, denkt er erneut, wie können sie den gelben Ring aus Sternen auf jeder neuen Straße, jedem neuen Krankenhaus, den erneuerten Schienen und neu gemachten Stadtzentren der letzten dreißig Jahren nicht sehen?“ (37)

Eine Besonderheit bilden die 12 kurzen Zwischenkapitel, die den jeweiligen Kapiteln, die aus der Sicht einer Figur erzählt werden, zugeordnet und thematisch mit diesem verbunden sind – auch wenn sich der Zusammenhang nicht immer direkt erschließt. 

„Der Klang von Blut und Luft“ beschreibt zunächst die Stimmung vor dem Sonnenaufgang in der Natur beim Regen.
Der Satz "so beständig wie der Klang von Blut und Luft im eigenen Körper. Man würde früh genug bemerken, wenn es aufhörte." (S.5) bezieht sich auf Justine, das erschließt sich jedoch erst, wenn man das folgende Kapitel ganz gelesen hat.
Gleichzeitig taucht dieser Satz wieder am Ende des Romans auf, so dass sich eine Art Rahmen ergibt.

Insgesamt ist der Roman sowohl von der Komposition, der Erzähltechnik und der Figurenzeichnung überzeugend.

Klare Leseempfehlung für alle, die kein „Wohlfühl“-Sommerbuch lesen wollen, sondern eines, das einen authentischen Einblick in die Gedanken, und auch Abgründe, unterschiedlicher Menschen bietet.

Dienstag, 4. Juli 2023

Volker Weidermann: Mann vom Meer

 - noch eine Biografie über Thomas Mann?

Leserunde auf whatchaReadin

In seinem Sachbuch erzählt der Journalist Volker Weidermann das Leben Thomas Manns, jedoch mit dem Fokus auf dessen Liebe zum Meer. Dabei muss er zwangsläufig vieles auslassen, auch seine Kinder tauchen nur am Rande auf, bis auf seine Lieblingstochter Elisabeth, die seine Liebe zum Meer "geerbt" und sie zu ihrem Lebensinhalt gemacht hat.

In der Einleitung schildert Weidermann die erste Begegnung Elisabeths mit dem Meer - an der Hand des berühmten Vaters.

"Ein bisschen Angst hatte sie schon. Sie wusste ja, dass es ein großer Moment war. Vor allem für ihn, für Herrpapale, wie sie ihren Vater nennt. Sie wusste ja so gut, wie sehr er das Meer liebte. (...) Sie zittert aber vor allem vor  Freude, Erregung und ein wenig auch aus Angst, dass sie sich nicht begeistert genug zeigen könnte." (7)

Doch ihre Sorge ist unbegründet, das Meer übt auf sie eine große Faszination aus. Das greift Weidermann im Nachwort wieder auf, indem er seinen Besuch auf dem Forschungsschiff "Elisabeth Mann Borgese" schildert.

"Das Meer ist der stille Held all seiner Bücher." (12) - unter dieser Prämisse erläutert Weidermann sowohl Thomas Mann Beziehung zum Meer und legt eindrucksvoll dar, welche Rolle dieses in seinen bekanntesten Werken spielt - "Buddenbrooks", "Der Zauberberg", "Tonio Kröger" und auch "Der Tod in Venedig", um nur einige zu nennen.

Dabei zitiert der Autor, teilweise etwas zu ausführlich, aus den genannten Werken und interpretiert sie hinsichtlich der Bedeutung des Meeres. Er zeigt auf, inwiefern die Protagonisten Manns eigenes Verhältnis zum Meer widerspiegeln und belegt auch, dass Mann sein eigenes Leben "schamlos" ausgeschlachtet hat, persönliche Ereignisse verarbeitet, unerfüllte Wünsche zu Papier gebracht hat.

Thomas Mann Kenner werden das wissen, aber durch den Fokus auf das Meer ergeben sich neue Einsichten und Erkenntnisse. So liefern vor allem die ersten Kapitel Informationen über Julia Mann, Thomas Manns Mutter, die ihre Kindheit am Strand von Paraty - 250 km südlich von Rio de Janeiro -verbracht hat, "ein Kindheitsparadies" (19). Nach dem Tod ihrer Mutter verlässt ihr Vater dieses Paradies, um in seine Heimat Lübeck zurückzukehren, wo Julia mit ihren Geschwistern bei einer Pflegemutter untergebracht wird, während der Vater auf seine Plantage zurückkehrt.

Unter dem Leitspruch "Verleugne dich selbst" (33) wird sie ihren Weg in Lübeck gehen, den Konsul Mann heiraten - der Rest ist bekannt.

Thomas Mann selbst erblickt mit sieben Jahren zum ersten Mal das Meer, "sein Meer, die Lübecker Bucht, wo die Familie ab 1882 jedes Jahr vier Wochen Sommerferien verbrachte." (51) Eine Erfahrung, die ihn sein Leben lang begleitet und die sich vor allem in seiner Romanfigur Hanno Buddenbrook widerspiegelt.

Volker Weidermann klammert auch Thomas Manns Liebe zum eigenen Geschlecht nicht aus und stellt dar, wie Mann zur der Überzeugung gelangt, man brauche "eine Rüstung aus Bürgerlichkeit und Wohlanständigkeit, um in dieser Welt den inneren Kern aus Abenteurertum, Frivolität, unangemessener sexueller Neigung und Verworfenheit zu bewahren." (121)

Auch der Umschwung seiner politischen Einstellung wird dargelegt und in Bezug zum Meer gesetzt. In seiner Rede "Von deutscher Republik" habe er sich auch vom Meer verabschiedet, bzw. vom "Sog des Meeres. Von all dem, wofür das Meer für ihn immer auch stand: Verantwortungslosigkeit, Sympathie mit dem Tod, Sog ins Verderben, verbotene Liebe, Unpolitik, Antidemokratie, Rausch, Romantik, seliges Vergessen, Glück ohne Pflicht, Schönheit, Ferien für immer." (14)

Fazit: Ein Sachbuch, das für alle, die Thomas Mann und sein Werk kennen, neue Aspekte beleuchtet, und zudem "papierene Fährten" legt, wie jemand aus der Leserunde so treffend bemerkt. Dank der Bibliografie am Ende kann man gleich weiterlesen oder die Werke Thomas Mann mit neuem Blickwinkel genießen :).