Samstag, 2. März 2024

Daniel Mason: Oben in den Wäldern

Leserunde auf whatchaReadin

Dieser ungewöhnliche Roman von Daniel Mason hat mich zu Beginn völlig bezaubert, da ein Ort, ein Haus, eine Landschaft im Mittelpunkt stehen.
Mit rasantem Tempo beginnt die Story, zwei Liebende fliehen wegen ihrer ungebührlichen Liebe aus einer Kolonie in die Berge  und finden einen Ort, an dem sie bleiben möchten. Die Handlung beginnt Mitte des 18.Jahrhunderts, spielt in den Wäldern von Massachutsetts.
Dann folgt ein Brief, den eine Frau aus eben jener Kolonie geschrieben hat, die die Liebenden verlassen haben. Sie wird gemeinsam mit ihrem Säugling von Indianern verschleppt. (Der Begriff wird im Roman verwendet, da er die entsprechende Epoche charakterisiert. Darauf wird in einer editorischen Notiz hingewiesen, S.429).
Diese Frau gelangt zu eben jenem ersten Haus und trifft eine inzwischen alte Frau vor, die sich um sie und ihr Baby kümmert. 
Um noch mehr Blutvergießen zu verhindern, töten sie drei weiße Soldaten, die vorhaben, ein Dorf der Ureinwohner anzugreifen. Dabei stirbt die alte Frau (die Liebende) und die andere verlässt den Ort mit ihrem Kind, nachdem sie ihre Geschichte, also den Todesengel-Brief, in einer Bibel niedergeschrieben hat, die am Ende des Romans noch einmal eine Rolle spielen wird.


Der Verwesungsprozess der drei Soldatenleichen wird sehr plastisch beschrieben - aus dem "Herzen" des einen Soldaten wächst ein Apfelbaum. Dieser Apfelbaum hat wiederum einen ehemaligen Soldaten bewogen genau dort eine Apfelplantage zu gründen. Charles Osgood macht das Haus in den Bergen und auch den Garten zu einer Art Paradies, auf das immer wieder Bezug genommen wird. In einem Brief, den er seinen beiden Mädchen schreibt, erfahren wir, wie es ihn an jenen Ort verschlagen hat und wie das neue Haus entstanden ist. Im folgenden Kapitel wird aus der Sicht seiner Tochter Alice, die gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Mary die Plantage übernommen hat, erzählt, wie sie in dem Haus aufgewachsen sind, wie ihr Leben verläuft und auch, wie es zu Ende geht.
Dieser Wechsel aus traditionell erzählten Passagen aus jeweils einer personalen Perspektive, aus Briefen, aus Balladen, die jeweils kleine Puzzleteile liefern, um die ganze Geschichte zusammensetzen zu können und auch Sprichwörtern, die kommentiert werden sowie Bildern ist sehr ungewöhnlich und originell. 
Neben den unterschiedlichen Genres hat auch jeder Abschnitt einen der jeweiligen Epoche angepassten Stil - insofern ist die Aussage auf dem Buchrücken, es sei ein "sprachmächtiger spannender Roman" zutreffend.

Das nächste Kapitel besteht aus Briefen von William Henry Teale (Maler) an Erasmus Nash (Autor). Obwohl beide sehr authentisch geschildert werden, sind sie (leider) fiktiv.
Teale hat das Haus der Osgoods von einem ihrer Nachfahren gekauft, verändert und vergrößert, das ursprüngliche wird sogar verschoben, aber nichts abgerissen:

"Hier draußen reißt sowieso niemals jemand etwas ab - man fügt immer nur hinzu, agglutiniert, Haus an Haus, Schuppen an Schuppen, wie ein monströses deutsches Substantiv." (S.167)

In dieser Aussage beschreibt Mason den Aufbau seines Romans. Schicht für Schicht entsteht das Haus und wir lesen die Geschichten, die zu den Veränderungen geführt haben. Es wird immer wieder etwas hinzugefügt. Gleichzeitig knüpft er immer wieder an vorangegangene Kapitel an und offene Fragen klären sich. Dadurch wird deutlich, dass alles miteinander verwoben ist. Sogar die Toten bleiben, Geister, die dem Haus und der Natur verbunden bleiben. Sie verleihen dem Roman das Märchenhafte. Aber wer weiß schon, was nach dem Tod geschieht?

Nicht nur das Haus unterliegt dem Wandel der Zeit, sondern auch die Natur verändert sich. In Zwischenkapiteln wird dargestellt, wie auch Kleinstlebewesen vieles verändern können.

Die Handlung erstreckt sich bis in die Gegenwart und sogar in die Zukunft hinein. Was wird bleiben, von dem Haus, der Umgebung, den Menschen, die es bewohnt haben?

Ein faszinierender Roman, der mehrere Genres und Stile gekonnt zu einem organischen Ganzen vereint und darüber hinaus sehr unterhaltsam ist.

Für mich ein Lesevergnügen!

Freitag, 9. Februar 2024

Markus Gasser: Lil

Die Rache ist mein!
Leserunde auf whatchaReadin

Am Anfang des Romans war ich sehr verwirrt, sowohl Klappentext als auch Buchrücken und nicht zuletzt das Cover suggerieren, dass es sich bei Lillian Cutting um eine historische Persönlichkeit handelt. Nach erfolglosem Googeln habe ich die
Ankündigung genauer gelesen und mir ist bewusst geworden, dass sie eher exemplarisch für eine erfolgreiche Frau in einer männerdominierten Welt steht, die von ihrem Sohn schamlos auf Seite geräumt wird.

Die Handlung beginnt mit der Nachfahrin Lils – Sarah, die eine Hirntumor-Operation und eine Strahlentherapie hinter sich hat und der es so miserabel geht, dass sie mit Selbstmordgedanken spielt. Doch dann meldet sich ihr Chefredakteur freudig bei ihr, dass ein Brief von Lil Cutting gefunden wurde, der sozusagen den Ausschlag dafür gibt, dass Sarah wieder zum Leben erwacht und beginnt die Geschichte ihrer Urahnin niederzuschreiben.

„Aber dieser eine Brief Lil Cuttings an Colby Sandberg, ein schief beschriebenes Blatt voller Angst und Zorn, war das letzte, erschütternde Dokument, das mir zu dieser Geschichte gefehlt hatte. Jetzt bin ich sie uns schuldig.“ (S.10)

Und so beginnt Sarah im ständigen Dialog mit ihrer Hündin Miss Brontë die unglaubliche Geschichte Lils niederzuschreiben.
Die Gespräche mit der Hündin markieren die Gegenwart, die Nachfragen Miss Brontës erhellen die Geschichte und bringen gleichzeitig einen ironischen Ton in die Handlung – ich finde diese Idee wundervoll.

Wer war Lillian Cutting?
„Allgemein bekannt ist, dass die Millionenerbin Lillian Cutting um 1880 mit ihren exzentrischen Investitionen ganz New York in besorgtes Erstaunen versetzte. Sie vermehrte ihr Vermögen nach einer Logik, die den Experten verrückt und selbst dem Börsenprofi John D. Rockefeller wie Schwarze Magie vorkam.“ (S.12)
So erfolgreich darf eine Frau nicht sein, denn sie beleidigt „jeden Sinn für Proportion, Anstand, Geschmack“, sie maßt sich ein Leben an, „das ihr als Frau nicht zustand.“ (S.12)

Im Mittelpunkt dieses Romans voller Esprit steht für mich das Bestreben, die Geschichte einer Frau zu erzählen, die es gewagt hat, erfolgreicher als die Männer zu sein, die ihren eigenen Weg geht und sich nicht um Konventionen schert - und das muss, nach Meinung der damaligen Gesellschaft bestraft werden, weil sie sich nicht anpassen will.

Ihrem Sohn, der nach dem Tod des Vaters an das ganze Erbe herankommen möchte, gelingt es, sie mit üblen Tricks in der Nervenheilanstalt „Hops Island“ unterzubringen, in der sie unter Morphium gesetzt wird und dem behandelnden Doktor Matthew Fairwell ausgeliefert ist, ein besonders perfider Vertreter eines „Psychiaters“, dessen unmenschliche Untersuchungsmethoden leider in dieser Zeit üblich sind. Da helfen Miss Brontës Einlassungen und der saloppe Ton, den Sarah anschlägt, sonst könnte man das kaum ertragen.

Die Anwältin Colby Sandberg, die als gleichberechtigte Partnerin mit ihrem Mann zusammenarbeitet und ebenfalls von der feinen Gesellschaft New Yorks mit Verachtung gestraft wird, wird auf den Fall Lillian Cutting aufmerksam und besucht sie im Sanatorium. Sofort ahnt sie, dass Lil gegen ihren Willen festgesetzt wird. Was folgt ist eine märchenhafte anmutende Geschichte, in der Lil letztlich ihrem Namen "Lil the Kill" alle Ehre macht – doch wie es dazu kommt, möchte ich nicht vorwegnehmen, denn die Lektüre macht unglaublich viel Spaß. Vieles, was man über die Nervenheilanstalt liest, mag man allerdings nicht glauben und doch ist es wissenschaftlich belegt, ebenso das Verhalten der sogenannten höheren Gesellschaft gegenüber einer erfolgreichen Frau.
Warum Sarah unbedingt die Geschichte ihrer Urahnin erzählen möchte, erschließt sich am Ende des Romans und auch das ist unglaublich, aber nach verlässlicher Aussage des Autors, der die Leserunde mit seinen Kommentaren bereichert hat, tatsächlich so geschehen.
Für mich ein Roman, der unterhält, aber auch erschüttert - so soll es sein.
Klare Leseempfehlung!

Sonntag, 21. Januar 2024

Iris Wolff: Lichtungen


"Erinnerungen waren über die Zeit verstreut wie Lichtungen.“ (S.76)

Der Protagonist Lev ist zu Beginn der Handlung ca. Mitte-Ende 30 und arbeitet in einem privatisierten Sägewerk in Rumänien. Geboren im kommunistischen Vielvölkerstaat während der Diktatur Ceaușescus, stellt er sich als Kind die Frage "was er sei. (...) Bei einer siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach." (S.232)
Für Iris Wolff, die selbst mit ihrer Familie 1986 Siebenbürgen Richtung Deutschland verlassen hat, ist die Frage der Zugehörigkeit ein zentrales Thema des Romans.
Die Unsicherheit, welche Identität er hat, bestimmt Levs Leben und weckt in ihm den Wunsch nach Konstanz und Sicherheit. Auch ein tragische Unfall in seiner Kindheit sowie der frühe Verlust seines Vaters führen zu diesem Wunsch und prägen entscheidend sein Leben.

"Lev hatte kaum Erinnerungen an seinen Vater, der bei einem Bergrutsch verunglückte, als er fünf Jahre alt gewesen war." (S.240)

Diese wenigen Erinnerungen sind wie "Lichtungen", immer wieder taucht dieses Motiv des Titels in den einzelnen Kapiteln auf, die die prägenden Situationen aus Levs Leben, an die er sich erinnert, erzählen.

"Jeder Augenblick (...) enthielt alles Gewesene, und war doch immer wieder ein Neubeginn." (S.34)

Als Leserinnen und Leser steigen wir mit einem Neubeginn ein.

„Dieselgeruch, Lautsprecherdurchsagen, vom Wind zerhackt; er war so stark, dass sie sich schräg gegen ihn lehnen konnten, mit aufgeblähten Shirts, flatternden Hosen, Brausen in den Ohren, im Kopf, im Körper. Noch Minuten später, im Inneren der Fähre, war dieses Brausen zu spüren, ein Nachbeben, Nachklang, und Lev dachte unwillkürlich daran, wie Sägeblätter in eigenwillig-summendem Takt nachschwangen, wie der Boden mit einem Mal ruhig wurde, und das Sägemehl, das über der Maschine schwebte, herabfiel – leicht verzögert, verwundert, von der Schwerkraft überrascht.“ (S.9)

Wir erfahren, dass Kato, Levs Freundin seit Kindertagen, die Rumänien nach der Öffnung der Grenzen verlassen hat und als Straßenkünstlerin ihr Geld verdient, ihn zurück nach Rumänien begleiten wird.

„Wir reisen gemeinsam zurück?“ (…) „Ja“, sagte Kato. Einfach nur: Ja. Das reichte ihm für den Moment.“ (S.11)

Auch wir reisen zurück, denn Iris Wolff erzählt Levs Leben bis zu jenem Moment rückwärts in neun Kapiteln. Dabei ist jedem Kapitel ein passendes Zitat vorangestellt, das im Zusammenhang mit der Handlung steht und diese sozusagen beleuchtet.

Aufgrund der Erzählweise liegt der Fokus in Bezug auf Kato und Lev, wie es zu dem Moment kommt, da sie mit ihm zurückkehren möchte. Warum ist sie ohne ihn in den Westen? Wie ist es dazu gekommen, dass sie ihm geschrieben hat, er solle kommen. Warum hat er sie nicht vorher besucht?
Sukzessive tauchen wir in Levs Vergangenheit ein, aus seiner personalen Perspektive wird seine Geschichte erzählt, die mit Katos eng verknüpft ist. 
Schritt für Schritt entblättert sich sein Leben vor uns, bis wir in seiner seiner frühen Kindheit angelangen. Obwohl man weiß, dass es zwischen Lev und Kato eine Art "Happy End" gibt, liest man doch mit Spannung, entdeckt die verschiedenen Figuren in Levs Leben, welche Bedeutung sie für ihn haben und welchen Einfluss sie auf ihn ausüben. Manches bleibt vage und wird nicht erklärt.

„In allem gab es diese Dunkelstellen, wo die Erfahrung aufhörte und die Erinnerung anfing. Etwas blieb, und etwas ging verloren, manches schon im Augenblick des Geschehens, und wie sehr man sich auch bemühte, es tauchte nie wieder auf."

Insgesamt ein wunderbarer Roman, der von einer besonderen Freundschaft erzählt, von der Frage nach der eigenen Identität und danach, was uns im Leben prägt - und das in einer außergewöhnlichen metaphorischen Sprache.  Iris Wolff verfügt über eine besondere Beobachtungsgabe, lässt mit ihren Worten sofort Bilder im Kopf entstehen, die es mir leicht machen in diese Geschichte einzutauchen.
Auch das liebevoll gestaltete Cover sorgt dafür, dass man dieses Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte. 

Leserunde auf whatchaReadin

Sonntag, 7. Januar 2024

Bernhard Schlink: Das späte Leben

 Leserunde auf whatchaReadin

Spät wird Martin, Juraprofessor, Vater - erst mit 70 Jahren. Seine Frau Ulla ist Mitte 40.

"Die zwölf Jahre seit der Hochzeit waren gute Jahre. Sie kauften ein kleines Haus mit Garten am Rand der Stadt. Ulla schloss das Studium ab, verlegte sich ganz aufs Malen, fand ein Atelier und eine Galerie, in der sie ausstellte und immer wieder aushalf, und bekam vor sechs Jahren David. Er lehrte bis siebzig an der Universität und schrieb danach weiter, wandte aber immer mehr Zeit an David und an den Garten und ans Kochen. Er nahm das Leben mit Ulla, dem Sohn und den verbliebenen Tätigkeiten als Geschenk, dem man nicht ins Maul schaut." (S.24)

Doch jetzt ist diese Zeit vorüber, denn Martin leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs - unheilbar. Ihm bleibt ohne Therapie noch maximal noch ein halbes Jahr
Ein Kritikpunkt in der Leserunde war die mangelhafte Recherche und infolgedessen die fehlende Expertise im medizinischen Bereich. Von der Tatsache, dass alle Entscheidungen vom Hausarzt gefällt werden, Therapiemöglichkeiten nur unzureichend diskutiert werden bis hin zur fragwürdigen Medikation bei Krebs - all das interessiert Schlink offenkundig nicht, zerstört jedoch die Glaubwürdigkeit der Geschichte.
Ihm geht es ausschließlich darum, wie ein alter Mensch reagiert, im Angesicht dessen, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Was soll er seinem Sohn mit auf den Weg geben, was möchte er hinterlassen? Kann er seinen Lebensweg überhaupt noch beeinflussen? Oder muss er das Leben loslassen?
Schade, dass er das Klischee des alten Mannes mit jüngerer Frau bedient hat. Kann man nicht auch das Bedürfnis haben, seinen Enkeln etwas hinterlassen zu wollen?

Die Reaktion seiner jüngeren Frau auf seine Diagnose mutet seltsam kühl und unempathisch an, sofort gerät sie ins Tun:
"Was willst du jetzt machen?" (S.26)
Sie wird als pragmatisch, nüchterne Frau beschrieben, die ohne Vater aufgewachsen ist. Er habe die Familie verlassen, als sie noch sehr klein gewesen sei, berichtet Ulla Martin und betont gleichzeitig, dass sie keinen Vaterersatz gesucht hat. Trotzdem begibt sich Martin auf die Suche nach Ullas Vater? Ist es der Wunsch Gutes zu tun, noch ein letztes Mal Einfluss zunehmen oder ist es übergriffig, dies ohne ihr Wissen zu tun?

Ulla bringt Martin auf die Idee, David einen Brief zu schreiben, der wortwörtlich von Gott (und der Welt) handelt. Es geht um sein Verhältnis zur Religion, um die Gerechtigkeit der Liebe, um einen gerechten Gott.
Zunächst ist dieser Brief sehr unpersönlich, es scheint fast so, dass Schlink seine persönliche Meinung zu diesen Themen im Roman hinterlassen möchte.
Allerdings wird Martin bewusst, dass er mit dem Brief David auch eine Gewissheit mitgeben will:
"Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten für David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war. Er sollte sich jetzt als kleiner und später als großer Mensch nicht anstrengen müssen, um sich angenommen und aufgehoben zu wissen. Die Gewissheit, geliebt zu sein, sollte bei den Anstrengungen des Lebens beflügeln, nicht Belohnung für sie sein." (93f.)
Auch in seinem Handeln wird dieses Bestreben offensichtlich. Martin nutzt die Zeit mit seinem Sohn intensiv, er unternimmt eine Wanderung, legt gemeinsam mit ihm einen Komposthaufen an, kümmert sich um ihn, allerdings bereitet er David kaum auf seinen bevorstehenden Tod vor, auch Davids Mutter tut dies nicht.
Zugute halten muss man dem Protagonisten, dass er am Ende die gemeinsame Zeit am Meer ausklingen lässt, intensive Tage mit seiner Familie verbringt, das Leben laufen lässt. Und auch die Leser:innen werden auf den letzten Seiten etwas versöhnt. Das Ende Martins erspart uns der Autor glücklicherweise.

Während man Martins Verhalten, aus dessen personaler Perspektive die Handlung geschildert wird, teilweise nachvollziehen kann, ist Ullas Handlungsweise oft nicht verständlich. Ob es ihre Reaktionen auf Martins Brief, den sie wie selbstverständlich liest, noch seine Vorschläge in Bezug auf David noch ihre Verhaltensweisen außerhalb ihrer Familie sind, die Figur wirkt nicht authentisch und nicht in sich schlüssig.

Insgesamt fällt meine Bewertung für einen von mir sehr geschätzten Autor eher bescheiden aus. Der Roman liest sich gut - aber ist das ein Qualitätsmerkmal? Es sind sehr viele Wendungen, die ebenfalls in dieser Dichte unglaubwürdig sind.
Schlink hätte sich auf das Thema des herannahenden Todes  und den Fragen konzentrieren sollen, was bleibt von mir, was möchte ich hinterlassen, kann ich das Leben meiner Lieben noch lenken oder muss ich es loslassen. Wenn es in den Szenen und in Martins Gedanken darum geht, zeigt der Roman seine Stärke.


Samstag, 25. November 2023

Charles Lewinsky: Rauch und Schall

 - das Denkmal Goethe wackelt

Leserunde auf whatchaReadin

Welch genialer Anfang: "Goethe hatte Hämorrhoiden." (S.7)

Der große Dichterfürst, bewunderter Klassiker wird von einer so unsäglichen Krankheit geplagt. Goethe wird in diesem Roman von Lewinsky von seinem Sockel gestoßen und als Mensch dargestellt - etwas arrogant, sehr von sich eingenommen.
Gerade auf dem Rückweg von seiner Schweizer Reise 1797 wird er in der Kutsche durchgeschüttelt und leidet. Zudem muss er feststellen, dass er eine Schreibblockade hat. Die bedeutungsschweren Sentenzen, die leichten Verse, nichts gelingt ihm mehr. Zurück in Weimar wartet der Herzog auf das für seine Frau bestellte Festgedicht - doch die Verse wollen nicht fließen,
"als hielten ihm tausend Dämonen die Hand fest und hinderten ihn daran, auch nur einen Buchstaben zu Papier zu bringen, dass die Gedanken schneller vor ihm flohen, als er sie erspähen konnte" (S.46).
In seiner Verzweiflung nimmt Goethe das Angebot des Vielschreibers Christian August Vulpius, Bruder seiner Geliebten Christiane, an und lässt sich von ihm das Festgedicht schreiben. Und das, obwohl er ihn dafür verachtet, Literatur zur Unterhaltung zu verfassen - heute würde man sagen Belletristik oder Massenliteratur.
Und doch ist es gerade Vulpius, der ihm zu helfen vermag und ihm letztlich die Weiterarbeit am Faust ermöglicht - das zumindest ist Lewinskys Version, der laut Klappentext "minuziös recherchierte Fakten, versetzt mit fantasievollen Lügen" zusammengefügt hat.
Nebenbei nimmt er die höfische Gesellschaft Weimars aufs Korn und zeichnet Christiane als lebenstüchtige, pragmatische Frau, die ihren Bruder und Goethe geschickt zusammenbringt.
In bilderreicher Sprache, im Ton Goethes mit vielen Bezügen zur griechischen Mythologie und intertextuellen Verweisen unterhält Lewinsky die Lesenden. 
Neben der guten Story überzeugt v.a. die Komik vieler Szenen, die teilweise Slapstick-Charakter haben. Ich musste tatsächlich beim Lesen öfter lachen.

Eine klare Lese-Empfehlung, nicht nur für Goethe- und Lewinsky-Fans.

Mittwoch, 25. Oktober 2023

Alex Schulman: Endstation Malma


 "Ein Zug, drei Menschen und ihre miteinander verwobenen Schicksale" (Klappentext)

Leserunde auf whatchareadin

Der 3.Roman von Alex Schulman ist ebenso meisterhaft komponiert wie die beiden Vorgänger "Die Überlebenden" und "Verbrenn all meine Briefe". 

Zunächst glaubt man, alle drei Figuren, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, säßen im gleichen Zug mit der Endstation Malma.

- Harriet mit ihrem Vater, der seine Fototasche dabei hat, samt einer Urne

- Oskar und seine Frau, die im Zug nach Malma sitzen, während sie schläft

-Yana, eine junge Frau, die ebenfalls im Zug nach Malma, um etwas herauszufinden.

Der Autor führt uns auf die falsche Fährte, erst im 3.Kapitel, realisiert man, dass die drei Handlungsstränge zeitlich versetzt sind:

"Ninchens Beerdigung, August 1976, und darunter der Name ihrer Mutter: Harriet." (S.59) Im Folgenden werden die Fotos beschrieben, die auf der ersten Reise nach Malma im Jahr 1976 entstanden sind.
"Es gab mehrere Reisen nach Malma. Die erste fand in den Siebzigerjahren statt. Da war ihre Mutter noch ein Kind und fuhr mit ihrem Vater dort hin, um jemanden namens Ninchen zu beerdigen - ein Haustier vielleicht? (Harriet-Kapitel)
Die zweite Reise erfolgte am 17.September 2001. Ihre Mutter war erwachsen und todunglücklich in der Beziehung mit ihrem Vater." (S.60) (Oskar-Kapitel)
"Und das hier ist die dritte Fahrt." (S.60) (Yana-Kapitel)

Erneut vermag es Schulman mit einer ungewöhnlichen Komposition zu begeistern.
Neben der Zugreise nach Malma gibt es noch einen anderen roten Faden, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält: die schwierige Tochter-Vater-Beziehung, unter der sowohl Harriet als auch Yana leiden. Beide haben Angst ihre Väter zu verärgern, können sich nicht entfalten, leben in der Stille einer fehlenden Kommunikation. Allerdings zeigt sich, dass Harriets Vater sie durchaus geliebt hat, nur nicht imstande gewesen ist, es ihr zu zeigen. Auch Oskar fragt sich, warum er seine Tochter verliert, doch seine ungezügelte Wut verhindert, dass die beiden zueinander finden.

Beide Mädchen, Harriet und Yana, wurden von ihren Müttern verlassen. Warum verlässt ausgerechnet Harriet, die selbst unter der Trennung von der Mutter zu leiden hatte, ihre eigene Tochter. Das ist eines der Geheimnisse sein, die es zu ergründen gilt und das sich am Ende auflöst.
Während der Zugfahrten erinnern sich die drei Reisenden an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit. Kapitel für Kapitel entfaltet sich das Bild der dysfunktionalen Familie.

"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S.230)

Ein Satz, den Oskar denkt und der exemplarisch für alle Protagonist:innen gilt. Wie traurig, denn eigentlich sollte doch die Kindheit ein Ort der seligen Erinnerung sein.

Dieses Zitat bringt für mich zum Ausdruck, was alle Protagonisten erlebt haben. Ob Oskar, der unter der mangelnden Berührung seiner Mutter gelitten hat, oder Harriet und Yana, die mit schweigenden und jähzornigen Vätern aufwachsen müssen, sie alle erleben keine glückliche Kindheit. Welche Folgen das hat, kann man am besten an Harriet sehen, die Dreh-und Angelpunkt der Geschichte ist. Die sich immer wieder „you are not alone“ (Yana) vorsagen muss, um einen Halt zu finden. An Harriets Figur wird die Frage aufgeworfen, inwiefern ihre Kindheit ihr Verhalten als Erwachsene rechtfertigt.

"Die geraden Linien von der Kindheit bis in die Gegenwart hinauf, alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist. (...) Und man ist selbst niemals schuld, man ist immer nur das Opfer der Fehler und Schwächen anderer." (S.233)

Harriet sieht sich als Opfer, sucht die Entschuldigung in ihrer Vergangenheit, deshalb auch die 2.Reise nach Malma. Yana beschreibt das Verhältnis ihrer Eltern sehr treffend:

"Wenn ihre Eltern sich stritten, stellte Yana sich oft vor, dass das, was sie hörte, Hilferufe von Eingesperrten wären, einem Mann und einer Frau, die irgendwo gefangen gehalten wurden und verzweifelt herauszukommen versuchten." (147)

Gegen Ende des Romans nimmt die Handlung an Fahrt auf, die Kapitel werden kürzer und es klärt sich, warum Harriet nicht zu Yana zurückgekehrt ist. Diese Aufklärung ist allerdings wenig realistisch, definitiv eine Schwachstelle des Romans. Es bleiben weitere Fragen offen, über die am Ende nachdenken darf ;).



Donnerstag, 12. Oktober 2023

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

übersetzt von Katja Scholz

Leserunde auf whatchareadin

Selten habe ich so einen irreführenden Klappentext gelesen: "Ein starkes Buch über die Demenz einer Tochter und die Liebe ihrer Tochter."

Während die Demenz der Mutter, Alice, von Beginn an zumindest angedeutet wird, macht sich die Liebe der Tochter erst im letzten Teil bemerkbar.

Der Roman ist aus insgesamt 5 Teilen aufgebaut, die sich auch dadurch voneinander absetzen, dass sie unterschiedliche Erzählperspektiven und auch Erzählformen aufweisen. 

"Das Schwimmbad unter der Erde" beschreibt in der Wir-Form, wobei Alice Teil dieses Kollektivs ist -

"Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz" (S.9) -

ein Schwimmbad unter der Erde und vor allem die einzelnen Menschen, die regelmäßig dieses Schwimmbad aufsuchen. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend mit wenigen Sätzen eine Figur zu skizzieren, so dass man als Leser:in direkt ein Bild vor Augen hat. Es werden verschiedene Schwimmtypen aufgezählt, die Motivation zu schwimmen wird unter die Lupe genommen, die Bedeutung des Schwimmens für die Einzeln erläutert.

Das Kapitel "Der Riss" - ebenfalls in der Wir-Perspektive erzählt - beschreibt, wie ein mysteriöser Riss am Boden des Beckens auftaucht, über den heftig spekuliert wird. Letztendlich muss das Schwimmbad geschlossen werden, weil sich die Ursache nicht feststellen lässt.

Der Riss als Metapher für Alice Demenz - war eine der Hypothesen aus der Leserunde. Auch ein Symbol dafür, dass im Leben immer etwas Unvorhergesehenes geschehen kann, das uns aus der Bahn wirft - wortwörtlich in diesem Fall. Metaphorisch interessant, hat das Kapitel doch erhebliche Längen.

"Diem Perdidi" - der verlorene Tag beschreibt in der Sie-Form (personale Erzählperspektive), was Alice noch weiß und was sie schon vergessen hat. Im Verlauf des Kapitels verschiebt sich das Wissen Richtung Vergessen. Das ist sehr gut gemacht, auch weil es eine sehr originelle Art und Weise ist, Alice Biographie zu erzählen. Allerdings bleibt die Figur auf Distanz - das mag an der Perspektive und den vielen Aufzählungen liegen, den immer gleichen Satzanfängen, die beim Lesen auf mich ermüdend gewirkt haben. Es ist ein Leben im Stakkato-Stil erzählt, der nicht erschüttert und bewegt.

"Belavista" - ein Pflege-und Altenheim steht im Fokus dieses Kapitels:

"Sie sind heute hier, weil Sie den Test nicht bestanden haben." (S.87)

Insgesamt sehr zynisch erzählt, über das, was Alice erwartet, was die Einrichtung zu leisten vermag - für Zusatzzahlung gibt es Zusatzleistungen, was sie überwacht, wie sie arbeitet. Das System wird gnadenlos kritisiert - nicht die Menschen, die dort arbeiten und leben.

Erst im letzten Teil "EuroNeuro" tritt die Tochter in Erscheinung. Aus der Du-Perspektive macht sie sich Vorwürfe der Mutter zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Wenn der Klappentext ansatzweise zutrifft, dann auf dieses letzte Kapitel, das auch das einzige ist, das beim Lesen eine emotionale Reaktion hervorruft - zumindest bei mir.

Insgesamt ist der Roman erzähltechnisch und vom Aufbau her sehr interessant, trotzdem hat er mich nicht bewegt, weil die Figuren auf meistens Distanz bleiben. Das muss kein Kriterium für die Qualität eines Romans sein, aber wenn von der Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter die Rede ist, möchte ich berührt, erschüttert, mitgenommen und nicht auf Distanz gehalten werden.