Montag, 30. Oktober 2017

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Ein perfektes Leben?

Lesen mit Mira


Gebundene Ausgabe, 656 Seiten
Diogenes, 23. August 2017

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Mira und ich hatten das Vergnügen den Autor Klaus Cäsar Zehrer während der Frankfurter Buchmesse in einem Interview zu erleben, in dem er über die Idee zu seinem Roman über eines der größten Wunderkinder des letzten Jahrhunderts erzählt hat. Auf einer Liste der 10 intelligentesten Menschen sei ihm der Name William James Sidis zum ersten Mal begegnet. Neugierig geworden, wer sich dahinter verberge, habe er angefangen zu recherchieren. Und letztlich ist "Das Genie" entstanden, ein Roman, der einen Einblick in das Leben des William James Sidis ermöglicht und den Leser*innen selbst überlässt, wie sie das Erziehungsexperiment des Vaters Boris beurteilen.

Klaus Cäsar Zehrer auf der Frankfurter Buchmesse
Worum geht es?

Am 5. Oktober 1886 wandert der junge Ukrainer Boris Sidis in die Vereinigten Staaten von Amerika ein, ein Tag, den er künftig als seinen Geburtstag ansehen will, da für ihn ein neues, freies Leben anfangen soll. Dieses stellt sich zunächst jedoch als sehr mühsam heraus, es gilt Geld zu verdienen, einen Schlafplatz zu finden, Arbeit zu suchen. In der Fabrik, in der er beginnt, unterbreitet er seinem Vorarbeiter Verbesserungsvorschläge.

"Sie betrafen die Arbeitsabläufe in der Fabrik und waren umfassend, punktgenau, kristallklar formuliert und dermaßen einleuchtend, dass er sich nicht erklären konnte, warum er nicht schon längst selbst darauf gekommen war." (S.31)

Gegenüber dem Chef der Firma äußert er die Meinung, dass Bildung das Wichtigste für die Arbeiter und ihre Kinder ist, "damit sie freie und glückliche Menschen werden. " (S.34)

Man kann sich vorstellen, dass Boris Zukunft in der Firma damit beendet ist. Statt dessen bringt er sich in der öffentlichen Bibliothek selbst Englisch bei und gibt Nachhilfestunden. Er ist ein hervorragender Lehrer und versteht es aus seinen Schülern das Bester herauszuholen - ein Umstand, der ihn in seiner Heimat ins Gefängnis gebracht hat.
Durch einen Zufall verschlägt es ihn von New York nach Boston, wo er als Englischlehrer, inzwischen 22 Jahre alt, auch seiner zukünftigen Frau Sarah Mandelbaum begegnet. Sein erstes Experiment beginnt:

"Schon lange hatte er sich gefragt, wie hoch man einen Menschen durch Bildung heben konnte. Anhand dieses Mädchens würde er es herausfinden. Ein Experiment, wenn man so wollte." (S.61)

Es gelingt - so viel sei hier verraten. Trotz bürokratischer Hürden und der Tatsache, dass die Wissenschaften Frauen größtenteils verwehrt waren, studiert Sarah Medizin, macht ihren Doktor und heiratet den ehrgeizigen Boris, der auf die Frage, ob er sie liebe, antwortet:

"Ach je, Liebe. Was soll das sein? Traute Zweisamkeit, Familienidyll, Glück im Winkel...Wenn es mir darum ginge, könnte ich irgendeine nehmen. Aber es geht mir nicht darum, und Sarah ist nicht irgendeine. Was ich vorhabe, geht nur mit ihr. (...) Ich brauche sie." (S.100)

Boris ist kein sympatischer, liebenswerter Mensch - im Gegenteil, ihm geht es bei darum, zu beweisen, dass seine Erziehungs- und Lehrmethoden die besten sind. Ein Schlüsselerlebnis hat er, als er erlebt, wie Sarah in einer Show hypnotisiert wird. Fortan beschäftigt er sich mit Psychologie und beginnt in Harvard zu studieren, wo ihn Professor William James unter seine Fittiche nimmt.
Seine Forschungen beschäftigen sich mit dem "Subwaking Self".

"Du musst dir das so vorstellen: Du hast nicht nur eine Persönlichkeit, sondern zwei. Zum einen bist du die Sarah, die hier an diesem Tisch sitzt und isst und mir zuhört und so weiter. Du denkst, das bist du, und das stimmt auch, aber nur zum Teil. Weil, es gibt eben auch noch dein zweites Selbst. Du kannst es nicht sehen, noch nicht mal bemerken, aber es ist trotzdem immer in dir." (S.131)

"Meine Vermutung lautet, dass unser Gehirn zu wesentlich größeren intellektuellen Leistungen imstande ist, als wir gemeinhin annehmen. Nur ein kleiner Teil seines Potentials ist leicht zu aktivieren. Mit dem gewaltigen Rest verhält es sich wie bis vor kurzem mit dem Unterbewusstsein, wir wissen, das da etwas sein muss, aber wir haben noch keinen Zugang dorthin." (S.213)

Die erste Person, bei der Boris an dieses Potential herankommen will, ist sein Sohn William James Sidis, Billy genannt, der vom Tag seiner Geburt, dem 1.April 1898, lernen muss. Das Ziel Boris ist es, ein Genie aus ihm zu machen. Ein Experiment, das mit jedem Kind gelingen sollte.
Seine Eltern sprechen keine "Kindersprache" mit Billy, sondern mehrere Fremdsprachen, keine Lieder erreichen seine Ohren, statt dessen Farben, Formen, Bilder mit den entsprechenden Begriffen dazu.

Und die Methode scheint erfolgreich, denn mit zwei Jahren kann Billy lesen und hohe Erwartungen werden an ihn gestellt:

"William, du bist meine Hoffnung. Ich gebe alles, damit du nichts so wirst wie die anderen, so kleingeistig, denkfaul, niederträchtig und blutrünstig. Ich wünsche mir, dass man eines Tages in der New York Times nicht lesen wird, wie viele Menschen wieder irgendwo sinnlos gestorben sind, sondern was der große Gelehrte William James Sidis herausgefunden hat." (S.179)

Es ist ein weiter, steiniger Weg, bis die New York Times tatsächlich über den 39-jährigen William James Sidis schreibt. Ob aus dem Wunderjungen tatsächlich ein Gelehrter wird? Einer, auf den Boris stolz wäre?

Bewertung
Ein faszinierender Roman über ein erstaunliches Erziehungsexperiment, in dem ohne Zweifel ein hoch intelligentes Kind herangezogen wird, das 40 Sprachen beherrscht, früh lesen kann, ein außergewöhnliches mathematisches Talent besitzt und logisch argumentieren kann.
Aber auch ein Kind, das zunächst genau wie sein Vater unsympathisch erscheint - zwei "Flegel", die sich weder an gesellschaftliche Konventionen halten noch bereit sind, empathisch ihren Mitmenschen zu begegnen. Boris wird zunehmend zu einem rechthaberischen Patriarch, der gegen Freud vorgeht - in beleidigender Art und Weise, wie sie einem Wissenschaftler nicht geziemt. Sarah dagegen ist eine unbarmherzige Mutter, die William kurzerhand das Geld streicht, wenn er keine Erfolge vorweisen kann.
Bis zur Pubertät wird Billy regelrecht von seinem Vater vorgeführt, muss ständig sein Genie unter Beweis stellen, wie ein abgerichteter Hund - so mein Eindruck. Und wird gleichzeitig von den anderen Kindern gemieden und ausgegrenzt, da er sich nicht kindgemäß verhält.

Im Verlauf der Handlung empfindet man immer stärker Mitleid mit diesem Jungen, der permanent ein Außenseiter bleibt, da er wesentlich jünger als seine Mitschüler und Mitstudenten ist und nie gelernt hat, sich in einer sozialen Gemeinschaft zu bewegen. Seine motorischen Fähigkeiten lässt Boris interessanterweise außer Acht, mit der Begründung "Leibeserziehung sei ein Synonym für Zeitvergeudung." (S.240)
Ein Umstand, der es Billy noch weniger ermöglicht, ein "normales" Leben zu führen, statt dessen wird er zeitlebens ein Sonderling bleiben, ein lebendes Objekt, das beweisen soll, ob die Methode seines Vaters sich bewährt hat.
Die Pubertät verändert ihn und sein erklärtes Ziel ist es nun, ein perfektes Leben führen zu wollen mit strikten Regeln und Prinzipien, von denen er (fast) nie abweicht. Ein Leben jenseits der Öffentlichkeit und letztlich jenseits der Gesellschaft. Ob ihm das gelingen kann?

Scheitert die Methode?
Obwohl Zehrer betont, die Leser*innen sollen selbst urteilen, gibt er meines Erachtens im Roman die Antworten darauf.

"Am 12. Februar 1910 (...) wurde seine Schwester Helena geboren. Zu gerne hätten ihre Eltern sie nach der bewährten Sidis-Methode zum Genie erzogen, aber sie konnten den Aufwand unmöglich ein zweites Mal leisten." (S.316)

William selbst reflektiert darüber, ob die Welt wirklich besser wäre, hätte sich die Methode seines Vaters durchgesetzt. Und William weiß, dass die Methode gescheitert ist:

nicht an ihm, William, und auch nicht an den Freudianern, sondern einzig und allein an mangelnder Liebe. Denn Liebe war die Lösung. Was wäre geschehen, hätte Boris das rechtzeitig erkannt." (S.490)

William spricht genau jenen Punkt an, der mir beim Erziehen das meiste Unbehagen verursacht hat. Das Fehlen einer liebevollen Beziehung zwischen den Eltern und dem kleinen Billy. Die Erziehung zu einem empathischen und sozialen Wesen gehört neben der geistigen Förderung dazu. Ob letzteres im Elternhaus oder in den Schulen manchmal zu kurz kommt, darüber kann man sicherlich streiten.

Scheitert das perfekte Leben?
William bleibt ein Außenseiter. Seine Ideen über die perfekte Gesellschaft sind interessant, eine Utopie, die in der Realität und vor allem nicht im kapitalistischen Amerika umzusetzen sind. Sein unbedingter Pazifismus ist bewundernswert, er ist nicht bereit, seine mathematische Begabung in den Dienst des Militärs zu stellen. Und doch "verrennt" er sich in eine Idee, die ich nicht verraten will, und letztlich gelingt ihm nicht, so zu leben, wie er sich vorstellt. Er hat nie gelernt ein soziales Wesen zu sein, was sich auch in seinem Äußeren niederschlägt, und kann daher mit seinen Vorstellungen nur wenige Menschen erreichen. Eigentlich ein tragisches Schicksal!

Ein besonderer historischer Roman, über den man noch viele Seiten schreiben könnte.
Klare Lese-Empfehlung!

Und hier geht es zu Miras sehr ausführlicher Rezension, die sich intensiv mit der Erziehungsmethode befasst hat.

Sonntag, 22. Oktober 2017

Jonas Lüscher: Kraft

"Why whatever is, is right and why we still can improve it?"

Kleine Leserunde auf whatchareadin


Gebundene Ausgabe, 240 Seiten
Büchergilde Gutenberg, 9.Oktober 2017


Worum geht es?
18 Minuten hat der Rhetorikprofessor Richard Kraft aus Tübingen Zeit, die Frage zu beantworten, warum alles, was ist, gut sei.
Theodicy and Technodicy: Optimism für a Young Millenium

Eine Preisfrage, die eine Million Dollar wert ist, ausgeschrieben vom Entrepreneur Tobias Erkner, dessen Visionen Krafts rhetorischen Verstand sprengt.

"Scheinbar mühelos und mit bestechender Selbstverständlichkeit gelang es dem Gründer des Amazing Future Fund augenscheinlich, Widersprüchliches, offensichtlich Falsches und klar erkennbar nicht Zusammengehörendes in einen gänzlich logisch wirkenden Zusammenhang zu bringen. Was Kraft am meisten verstörte, war das völlige Fehlen jeglicher emphatischer Rhetorik."" (S.8)

Eingeladen hat ihn sein Freund Ivan, den er 1981 in Berlin kennen gelernt hat und mit dem er seit dieser Zeit in regelmäßigen Abständen korrespondiert.
Ivan, ein ungarischer "Flüchtling", lebt inzwischen in Kalifornien als philosophischer Verteidiger des Kalten Krieges.
Seinen Arbeitsplatz hat Kraft dementsprechend in den Räumen an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace.
Doch er findet keinen Anfang und Ansatz, zu beweisen, dass alles gut ist, was ist. Das hat mehrere Gründe, wie uns der auktoriale Erzähler nahe legt:

"1. Die Schwierigkeit der Aufgabe selbst
2. Krafts Unvermögen, mit der Zeitverschiebung umzugehen
3. Krafts familiäre Situation
4. Krafts finanzielle Situation
5. Die existenzielle Notwendigkeit, die Jury zu beeindrucken, die sich aus drittens und viertens ergibt
6. Krafts Herberge [das Mädchenzimmer von Ivans Tochter]
7. Die ständige Saugerei [die von einem Staubsauger einer Reinigungskraft herrührt]" (S.16)

Kraft in zweiter Ehe mit der Unternehmensberaterin Heike verheiratet und Vater von Zwillingen muss erkennen, dass auch seine 2.Ehe vor dem Aus steht. Gewönne er die eine Million, könne er sich aus den finanziellen Verpflichtungen der ersten Ehe befreien und auch eine zweite Scheidung bezahlen.

Im Rückblick wird erzählt, wie er seine erste Liebe Ruth kennen gelernt hat, die ihm seinen Sohn sechs Jahre vorenthalten hat. Eine Liebe, die auf einem Verrat aufgebaut ist, hat doch jene Ruth seinen besten Freund Ivan mit einer Gerbera am Auge verletzt. Die immer wieder aufkommende Komik, die einigen Szenen innewohnt und in den Erzählerkommentaren durchbricht, verleihen dem philosophisch teilweise anspruchsvollen Roman Leichtigkeit und sorgen für entspannende Lesepassagen. Sehr skurril gestaltet sich auch das Wiedersehen zwischen Ruth, Richard Kraft und Ivan.

Kraft in seiner Verzweiflung zu begleiten, wie er um die Frage kreist, warum seine große Liebe Johanna ihn vor Jahren Richtung San Francisco verlassen hat, und wie es ihm trotz seiner Intelligenz nicht gelingt, eine optimistische Sicht einzunehmen, um die Preisfrage im Sinne Erkners zu beantworten, ist interessant und auch spannend. Doch bleiben die Leser*innen auf Distanz, dafür sorgt der Erzähler, der selbst immer wieder das Handeln und die Gedanken Krafts kommentiert.

Symbolisch ist Krafts Ausflug auf dem Fluss Corkscrew Slough auf einem Boot - eine komische Szene, die seine Verzweiflung sehr deutlich zum Ausdruck bringt und den Druck, unter dem er steht, greifbar macht.

"Geh, gewinne, bring uns das Geld nach Hause, damit wir alle wieder unsere Freiheit haben, hört Kraft Heike sagen, und dabei muss er an ihren Hallux denken. Nein, dafür müssen wir nun wirklich Verständnis haben, gerad angesichts der schieren Größe der Aufgabe." (S.68)

Der Roman erzählt aber nicht nur von den gescheiterten Ehen, der existentiellen Not und dem Verlust Johannas, sondern nimmt uns auch mit auf eine politische Zeitreise in die 80er Jahre der BRD.
Kraft und Ivan sind Zeugen des Misstrauensvotums gegen Helmut Schmidt, beide
"Verfechter einer ultraliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik nach angelsächsischem Vorbild" (S.79)
müssen sie schmerzlich erkennen, dass nicht Helmut Kohl die erhoffte geistig-moralische Wende vollzieht.

Kraft - überzeugter Kapitalist - gerät auf dem Campus in ein Gespräch zweier Absolventen der Stanford Business School, von denen einer ein Getränk zu sich nimmt, das alle notwendigen Nährstoffe enthält - ein flüssiges Nahrungsmittelsubstitut. Man erspare sich das Einkaufen, das Zubereiten von Essen, indem man die genau Menge des errechneten Energiebedarfs aufnehme, erläutert der junge Mann enthusiastisch. Kraft ist entsetzt.

"Am meisten beunruhigt ihn aber die Einsicht, dass hinter diesem Prozess der Quantifizierung der Wunsch nach einer Ökonomisierung durch Rationalisierung steckt." (S.102)

Kapitalismus pur - genau das, was Kraft sein Leben lang verteidigt hat und was ihn jetzt in der Realität abschreckt. Kein Wunder, dass er sich der Preisfrage nicht stellen kann - zu viele Zweifel, Pessimismus, Kulturkritik - eben keine Kraft. Er muss Johanna besuchen, davon erhofft er sich den entsprechenden optimistischen Schub.

Am Ende scheint er der Lösung nahe und vielleicht findet er eine entsprechende Begründung dafür, warum alles gut ist.

Bewertung
Ein starkes Buch, das in jeglicher Hinsicht zum Nachdenken einlädt. Über Liberalismus, Kapitalismus, über das Übel in der Welt und bemitleidenswerte Figuren bereit hält, die ihren eigenen Lebensansprüchen nicht gerecht werden.
Die Argumentation des Fortschrittsoptimisten Erkners hat mich sehr an den Roman "Leben ist keine Art mit einem Tier umzugehen" erinnert, in dem die Weltverbesserer und ihr zwangsläufiges Scheitern ebenso intelligent vorgeführt werden.

Ivan - der angebliche Dissident, dessen Biografie fast an der Wende zerbricht, der sich dann aber wieder retten kann, ist eine komisch-tragische Figur, ebenso wie
Kraft mit seinen gescheiterten Liebesbeziehungen, der sich zeitlebens mit der Frage beschäftigt, ob er ein Igel - ein Pessimist - oder ein Fuchs - ein Optimist- sei und doch letzteres so gerne wäre. Der in seiner existentiellen Not zu ersticken droht, ein Anti-Held, der keinen Ausweg mehr sehen kann.

Intelligent, anspruchsvoll, komisch und mit sprachlichen Formulierungen, die laut Literaturhexle "zum Niederknien sind" ;)

Montag, 16. Oktober 2017

Isabella Archan: Helene geht baden

- ein rabenschwarzer Krimi.

Taschenbuch, 300 Seiten
Conte Verlag, 1.September 2014

Krimi und Komik - geht das? Isabella Archan verbindet geschickt einen spannenden Kriminalfall, in der ein schreckliches und grausames Verbrechen begangen wird, mit komischen Elementen und außergewöhnlichen Erzählperspektiven, die die Tat erträglich machen. Eine Kostprobe - der Beginn:

"Sie sitzt auf einem Ast und versucht, mit Hilfe ihrer Gedanken den dünnen Zweig zu bewegen. Tatsächlich wippen die Blätter leicht auf und ab. Das könnte natürlich auch am Wind liegen. Moni ist zwar tot, aber nicht blöd." (S.11)

Worum geht es?
Moni ist ermordert worden und ihre Seele beobachtet, wie ein Jogger ihre übel zugerichtete Leiche findet. Auf ihrem Bauch finden sich Schnitte, die wie ein Jägerzaun aussehen. Gestorben ist sie am Blutverlust, gequält wurde sie nicht am Ufer des kleinen Sees im Park, an dem sie gefunden wird, sondern in ihrer Wohnung.

Die Ermittlungen übernehmen Peter Kraus, Spitzname: alter Rocker, und die junge Kommissarin Willa Stark - gebürtig aus Graz, das Fräulein Ösi. Dort löste sie einen spektakulären Fall, der auch europaweit Interesse erzeugt hat. Die Publicity nahm man der jungen Kriminalinspektorin übel und sie wird zur Außenseiterin. Deshalb hat sie das Angebot Interpols angenommen an einem länderübergreifenden Entführungsfall mitzuhelfen. Und ist in Köln gestrandet und geblieben, wo sie beginnt, sich heimisch zu fühlen. In dem Gerichtsmediziner Harro deNärtens hat sie einen guten Freund gefunden. Trotz zahlreicher Spuren kann der Fall Moni nicht gelöst werden...

Die zweite Protagonistin ist die junge Helene, die Baden über alles liebt und sich dieser Wonne fast täglich hingibt, beobachtet vom Rentner Fritz, der sein einsames Dasein mit Spannen fristet.
An einem Abend beobachtet er Schreckliches gegenüber und verhindert einen weiteren Todesfall. Das, was er sieht, verändert Helenes und sein Leben nachhaltig und beschert Willa neue Ermittlungen, da der Fall dem Monis gleicht. Wird es der jungen Grazerin, deren Onkel Willi vor Jahren einen Mord im Affekt begangen hat, gelingen den mysteriösen Messermann zu finden?

Bewertung
Die außergewöhnliche Erzählperspektive zu Beginn des Kriminalromans hat mich neugierig gemacht und das grausame Verbrechen aus der Sicht der unbeteiligten "Seele", die ganz neutral und schmerzfrei ihren Körper betrachtet, ist so distanziert dargestellt, dass auch zart Besaitete es gut ertragen können. Die Außenperspektive tritt mehrfach im Roman auf - mit dem gleichen Effekt.
Die ehrgeizige Ermittlerin Willa Stark, eine fast klassische Einzelgängerin, ist sehr sympathisch und erfrischend. Das Team bleibt blasser, außer der Gerichtsmediziner, aber im Mittelpunkt soll neben dem Opfer die Grazerin stehen.
Die Handlungsweise Helenes nach dem Überfall ist schwer nachzuvollziehen, als langjährige Krimileserin und Tatort-Liebhaberin aber nicht unwahrscheinlich. Psychologisch lässt sich das "unvernünftige" Handeln sicherlich erklären.
Die Motive des Täters werden nur angedeutet, doch auch er bleibt als Figur glaubhaft. Das Ende ist spannend und gut konzipiert - dramaturgisch gut umgesetzt.

Eine klare Lese-Empfehlung!

Sonntag, 15. Oktober 2017

Frankfurter Buchmesse 2017

- Besuch am Freitag.

Wie im letzten Jahr traf ich mich mit Mira auf der Buchmesse. Da wir beide als Bloggerinnen eine Akquirierung erhalten hatten, wählten wir den Freitag aus, in der Hoffnung, dass es etwas ruhiger zugehen würde - was sich zumindest teilweise bestätigt hat. Auch meine Kinder sowie eine Freundin meiner Ältesten waren mit von der Partie.

Unser erster Höhepunkt war das Interview mit Klaus Cäsar Zehrer zu seinem Debütroman "Das Genie" aus dem Diogenes Verlag.
Seinen ersten Roman habe er mit 16 Jahren verfasst, verrät er. Dieser sei jedoch nur zwei Seiten lang gewesen, so dass er ihn verworfen habe. "Das Genie" ist seiner Aussage nach eine Romanbiografie und basiert auf der realen Figur William James Sidis.

Klaus Cäsar Zehrer liest aus "Das Genie"
Die Idee kam ihm, als er beim Surfen im Internet auf eine Liste der 10 intelligentesten Menschen gestoßen ist, auf dem ihm der Name Sidis ins Auge fiel. Er wollte mehr über diese Person herausfinden, der Anfangsfaden für den Roman war gesponnen.
Vor 9 Jahren hat er mit der Arbeit begonnen, die  mit immenser Rechercheleistung verbunden war. Schließlich spielt der Roman zu Beginn des 19. Jahrhunderts und Zehrer gibt die wissenschaftlichen mathematischen Erkenntnisse der Zeit wieder, die heute teilweise überholt sind, so dass er in alten Lexika wälzen musste.
Sidis ist das Ergebnis eines Erziehungsexperimentes. Sein Vater, ein ukrainischen Einwanderer und Psychologe will beweisen, dass man Kinder zu intelligenten Wesen heranziehen kann. So bringt er Sidis ganz früh das Lesen bei und mit 11 Jahren besucht er bereits eine Universität. Wie bewertet man ein solches Erziehungsexperiment? Diese Frage sollen die Leser*innen selbst beantworten, Zehrer lässt sie offen.

Ann-Katrin Heger
In der kurzen Lesung vermittelt Zehrer einen ersten Eindruck des Romans, der durchaus auch humoristisch ist. Uns hat er jedenfalls überzeugt und Mira und ich haben spontan beschlossen, den Roman im Oktober gemeinsam zu lesen.

Im Anschluss blieben wir im Agora Lesezelt sitzen und hörten uns den Anfang des neuen Kriminalfalls der Drei !!! an - eine Lesung für die Kinder, die aber auch uns gefallen hat.
Ann-Katrin Heger, die Autorin von "Tanz der Herzen", vermochte es mit ihrer Stimme die Lesung spannend und interessant zu gestalten. Besonders gelungen war der Einstieg, in dem zur Musik von Schwanensee die letzte Szene der Ballettaufführung geschildert wird - sehr dramatisch.



Daniel Kehlmann mit Klaus Brinkbäumer
Danach schlenderten wir durch die Hallen, während die Kinder sich vor allem der Hobbit-Presse des Klett-Cotta-Verlages widmeten, pilgerten Mira und ich ins Spiegel-Forum, wo Daniel Kehlmann im Interview mit Klaus Brinkbäumer seinen neuen Roman "Tyll" vorstellte.

Die Sagengestalt des Till Eulenspiegel versetzt Kehlmann in den 30jährigen Krieg - ob die Person
wirklich gelebt hat? Es gibt eine Quelle aus dem 14.Jahrhundert, die dazu passt, trotzdem kann man die Frage letztlich nicht beantworten.

Zu Beginn des Romans übernimmt Kehlmann die Schelmengeschichte, in der Tyll auf einem Seil tanzt und alle Zuschauer auffordert, ihm den rechten Schuh zuzuwerfen. Damit richtet er ein heilloses Chaos an und bereitet das gewaltsame Chaos, das der Religionskrieg mit sich bringt, sozusagen vor.

Cartoon auf der Buchmesse
Die Gauklerfigur, die die Atmosphäre erträglich macht, ohne selbst eine lustige Figur zu sein.
Eine andere Funktion Tylls ist es, die verschiedenen Handlungsstränge zu verbinden. In der immobilen Gesellschaft des 17.Jahrhunderts vermag das fahrende Volk verschiedene Orte aufzusuchen und auch in Kontakt mit unterschiedlichen Gesellschaftsschichten zu treten.
Auch Kehlmann hat für seinen Roman umfangreich recherchiert. Geholfen hat ihm das einjährige Stipendium an der Public Library in New York. Dort erhielt er Zugriff auf alle Bücher und innerhalb eines Tages landeten sie auf seinem Schreibtisch. Die Erwartung vor Ort zu sein, half ihm die nötige Disziplin aufzubringen, um den Roman in recht kurzer Zeit fertigzustellen. Tauchte man drei Tage hintereinander nicht auf, wurde man freundlich kontaktiert, erzählte Kehlmann, der an New Yorker University zurzeit einen Lehrauftrag für deutsche Literatur hat. Gefragt nach Trump, erwiderte Kehlmann, dieser mache ihn wütend, gleichzeitig wecke er große Ängste.
Nach seiner Heimat befragt, nennt Kehlmann Wien, als den Ort, an dem er aufgewachsen sei. Im Moment sei es New York, da sein Sohn dort zur Schule ginge. Ein sehr interessantes Interview, das mich sehr neugierig auf den Roman gemacht hat.

Peter Wohlleben
Anschließend schauten wir uns das Gastland Frankreich an, um dann im ARD Forum, Peter Wohlleben zuzuhören, der sich mit dem Netzwerk der Natur beschäftigt hat. Er forderte dazu auf, Kinder im Wald nicht zu ermahnen, leise zu sein. Denn durch die lauten Rufe fühlte sich das Wild sicher und wisse, es könne ihm nichts passieren. Gefragt danach, welches Tier er gerne sei, gab er zur Antwort, ein Wolf. Allein das Dasein des Wolfes führe zu einer Stärkung des Waldes. Sei ein Wolf am Fluss, halten sich dort keine Hirsche mehr auf, die die jungen Bäume fressen. Das Flussufer werde befestigt, das Wasser könne mäandern und der Biber wieder ansässig werden. Mit einer Krähe würde er gerne mal einen Kaffee trinken, da sie sehr intelligente Tiere seien. Ein sympathischer Förster, der Unglaubliches aus der Natur berichtet.

Markus Heitz

Weiter ging es mit den Kindern zu Markus Heitz, der den zweiten Teil seines Fantasy-Romans Wédora vorstellte. Die Idee zu dieser fiktiven Welt stammt aus den in den 90er Jahren beliebten Rollenspielen, die er im Studium gespielt hat. Die Wédora-Welt habe er sich damals gemeinsam mit seinen Mitspielern ausgedacht und jetzt aus der Schublade gezogen. Markus Heitz plaudert mit dem Interviewer über die Protagonisten des Romans, ohne zu viel zu verraten, so dass wir alle neugierig geworden sind.

Als Fantasyliebhaber werden wir uns sicherlich in nächster Zukunft  der Wédora-Welt widmen.





Am Schluss wartete das Interview mit dem Gewinner des diesjährigen Deutschen Buchpreises: Robert Menasse, der auf die vielen auf ihn gerichteten Smartphones derart reagierte, dass er ein Foto von der Menschenmenge schoss, die gekommen war, um ihn zu sehen und zu hören.
Er erläuterte, dass er in seinem Roman das Abstraktum EU an einigen Figuren, u.a. an einem EU-Beamten veranschaulichen wollte. Dazu hat er selbst 5 Jahre in Brüssel gelebt und hinter die Kulissen der Europäischen Union geblickt. Anschaulich erzählte der gebürtige Wiener von den sogenannten Märtyrerpapieren, Entwürfe und Vorschläge für die EU-Kommission, die (fast) immer "zerrissen" werden. Am Beispiel der gescheiterten Jubiläumsfeier, die in Auschwitz als Geburtsort der Europäischen Union stattfinden sollte, verdeutlicht er, dass immer noch nationale Interessen die EU bestimmen. Auschwitz als Ort, der den Nationalismus als Aggressor in grausamster Art und Weise vor Augen führt, und gleichzeitig ein Ort, an dem die Nationalität keine Rolle mehr gespielt hat.
Menasse verteidigte vehement die europäische Idee und die Notwendigkeit eines vereinigten Europas, in dem sich nationale Interessen unterordnen - ein mitreißendes politisches Statement, das spontan Beifall erhielt.

Bevor wir uns auf den Heimweg machten, trafen wir noch kurz Helmut Pöll, Autor und Initiator des Forums whatchareadin, meine Leseheimat, und Renie von Renie´s Lesetagebuch, die ebenfalls als Moderatorin im Forum mitwirkt.

Fazit: Ein freudiges Wiedersehen mit Mira und ein interessanter, spannender Besuch, der mich neugierig auf viele weitere Bücher gemacht hat, die ich noch lesen will. Auch den Mädels hat es gefallen und die Wunschliste für Weihnachten wird wohl noch um ein paar Bücher wachsen.  Nächstes Jahr kommen wir wieder!

Mittwoch, 11. Oktober 2017

Rowan Coleman: Einfach unvergesslich

- berührende Geschichte einer Frau, die an Alzheimer erkrankt.

Taschenbuch, 416 Seiten
Piper, 5. Januar 2016

Das Cover hat mich zunächst abgeschreckt, den Roman zu lesen, auch die Marienkäfer auf den einzelnen Seiten hätten mich fast das Buch wieder zuklappen lassen ;)
Doch eine gute Freundin, auf deren Meinung Verlass ist, hat mir den Roman empfohlen. Also habe ich meine Vorurteile überwunden und zu lesen begonnen.

Worum geht es?
Claire Armstrong ist Mitte 40 als sie die Diagnose Alzheimer erhält, an der schon ihr Vater verstorben ist.
Sie hat eine 20jährige Tochter Caitlin, die ihren Vater nicht kennt - eine Jugendliebe Claires - und eine dreijährige Tochter Esther gemeinsam mit Greg, ihrem Ehemann.
Kennen gelernt haben die beiden sich, während Greg ihren Dachboden ausgebaut hat, da Claire ein Schreibzimmer haben wollte.

Claire, die ihr Studium wegen der Schwangerschaft geschmissen hat, ist Lehrerin für englische Literatur an einer Schule und muss diesen Job aufgrund ihrer Krankheit aufgeben. Ihre Therapeutin rät ihr, ein Erinnerungsbuch anzulegen, in der sie ihre wichtigsten Ereignisse festhält und in das auch ihre Familienmitglieder hineinschreiben sollen.
Inzwischen ist Claires Mutter Ruth, die bereits ihren Mann an die Krankheit verloren hat, im Hause Armstrong eingezogen und passt auf Claire auf, die immer häufiger in der Vergangenheit lebt und nicht mehr weiß, wie man ein Telefon bedient, oder den Weg nach Hause nicht mehr findet.
Viel trauriger ist es jedoch, dass sie sich nicht mehr daran erinnern kann, Greg zu lieben - wie ein Fremder wirkt er in ihrer Nähe. Nur zu dem geheimnisvollen Ryan, den sie zufällig trifft, fühlt sie sich hingezogen.
Wir erleben mit, wie Claire sich verliert, aber auch, wie sie sich bemüht, ihr Leben in Ordnung zu bringen und sich entschließt Caitlin, die selbst vor großen Problemen steht, die Wahrheit über ihren Vater zu sagen.
Die parallelen Geschichten des Erinnerungsbuches gewähren Einblick in Claires Lebensgeschichte und zeichnen das Bild einer starken und selbstbestimmten Frau.


Bewertung
Der Originaltitel "The Memory Book" ist wesentlich passender als der deutsche Titel, denn in den Erinnerungen setzt sich Claires Leben wie ein Puzzle für die Leser*innen zusammen. Interessant sind die Geschichten, die die einzelnen Familienmitglieder in das Buch hineinschreiben und die ein sehr positives Bild der noch jungen Frau zeichnen, die Schritt für Schritt ihre Erinnerungen und damit auch sich selbst verliert.
Sehr detailliert schildert Claire aus der Ich-Perspektive, was in ihrem Kopf vorgeht. Situationen, in denen sie Aussetzer hat, bleiben Leerstellen und so kann man sich intensiv in ihre Verzweiflung hineinversetzten. Auch die Fremdheit, die sie inzwischen für ihren Ehemann empfindet, ist aus ihrer Sicht nachvollziehbar und für ihn grausam.
Trotz der ernsten Thematik ist der Roman nicht kitschig (das Cover bestätigt sich nicht) - vielleicht etwas sentimental und rührselig. Natürlich sind die Protagonisten gute, liebenswerte Menschen und sie handeln stets mit hehren Motiven.
Schiebt man das beiseite, berührt das Schicksal der jungen Frau, die weiß, dass sich ihre kleine Tochter nie an sie, so wie sie war, erinnern kann. Alzheimer ist eine Krankheit, die man normalerweise nur mit älteren Menschen in Verbindung bringt. Der Roman führt vor Augen, dass es auch relativ junge Menschen treffen kann und dass ein geringer Anteil der Erkrankungen auf eine genetische Disposition zurückzuführen ist.

"Weniger als 2% aller Fälle von Alzheimer-Krankheit werden dominant vererbt. Dies bedeutet, dass die Veränderung (Mutation) eines einzigen Gens für die Entstehung der Krankheit ausreicht und dass statistisch gesehen die Hälfte der Nachkommen eines Betroffenen ebenfalls erkranken."  (Quelle: Deutsche Alzheimergesellschaft)

Ein Roman, der trotz stilistischer Schwächen und einseitiger Figurenzeichnung aufzeigt, wie Vergessen erlebt werden kann und dadurch berührt.

Sonntag, 8. Oktober 2017

Stefan Bachmann: Palast der Finsternis

- ein faszinierendes Labyrinth in der Tiefe, das ein ungeheures Geheimnis birgt.
Quelle: Diogenes Verlag


Taschenbuch, 400 Seiten
Diogenes, 23. August 2017

Vielen Dank an Diogenes für das Leseexemplar,
hier geht es zur Buchseite des Verlages.

Vor zwei Jahren habe ich "Die Seltsamen" und "Die Wedernoch" von Stefan Bachmann gelesen. Diese Steampunk Fantasy- Romane, die am viktorianischen England orientiert sind, haben mich begeistert, so dass ich mich schon auf den neuen Roman gefreut habe.

Worum geht es?
Im Chateau du Bessancourt im Oktober 1789 fliehen die vier Mädchen des Marquis Frédéric du Bessancourt in den unterirdischen Palast, den er erschaffen hat, um den Schrecken der französischen Revolution zu entkommen. Aus der Sicht der ältesten Tochter Aurélie erfahren wir, dass die Mutter kurz vor dem Eingang in die Tiefe umkehrt und von den Aufständischen auf der Treppe erschossen wird und zurück gelassen werden muss.

"Die Wachen drängen uns voran - hinab und immer weiter hinab in die Schwärze, zu Glück, Sicherheit und ewigem Frieden, wo Vater wartet." (S.11)

Dieser Handlungsstrang verläuft parallel zu einem in der Gegenwart, in dem die 17-jährige Anouk Geneviève van Roijer-Peerenboom, die gerade ihre Familie verlässt, in der sie sich nicht wohl zu fühlen scheint, im Mittelpunkt steht und aus deren Perspektive erzählt wird.

"Das Haus wirkt riesig und leer. Marmorblass. Ich bin ein vorsätzlicher Schmutzfleck inmitten all dieser Makellosigkeit, eine Radiergummispur auf den geraden Linien. Penny hat eine Ballettaufführung. Alle sind dort." (S.13)

Sie folgt der Einladung der Familie Sapani, die sie zusammen mit vier weiteren Jugendlichen für eine Expedition in Frankreich ausgewählt hat. Sie sollen den unterirdischen Palast der Familie Bessancourt erforschen, der zufällig unter einem Schloss gefunden wurde. Am Flughafen trifft sie auf die anderen, Will, Lilly, Jules und Hayden, die sie auf Anhieb unsympathisch findet.
Anouk spricht fünf Sprachen fließend und ist anerkannte Jungakademikerin, im sozialen Umgang jedoch zynisch, unfreundlich und auf Abwehr bedacht - das scheint von ihrer schwierigen familiären Situation herzurühren, davon, dass ihre Eltern sie offensichtlich nicht lieben. Sie selbst mag nur ihre kleine Schwester Penny, von der sie Ucki genannt wird. Ein Name, mit dem Anouks sich in Reflexionen selbst anspricht.

"Vier Gelegenheiten, Freundschaft zu schließen, vermasselt. Das war´s. Bravo, Ucki, hast es mal wieder geschafft.
Es gibt Menschen, die besitzen die besondere Fähigkeit, überall unglücklich zu sein, egal wo, egal mit wem und egal warum. Vielleicht ist diese Fähigkeit aber auch nur typisch für mich." (S.50)

Im Jahr 1789 erzählt Aurélie, wie ihre Mutter im August zum ersten Mal den von ihrem Vater erbauten Palast in der Tiefe besucht und verängstigt daraus zurückkehrt. Was verbirgt sich dort unten?

Die Expedition der Gegenwart wird von einem gewissen Professor Dorf geleitet, der sie bei einem Abendessen im Schloss begrüßt. Eine Frage, die sich Anouk und auch die anderen stellen, ist die, warum gerade sie - junge Studenten und Studentinnen für diese Expedition ausgewählt wurden. Warum untersucht nicht ein wissenschaftliches Forscherteam den unterirdischen Palast, der teilweise von Wasser überflutet sein soll? Das ergibt keinen Sinn.
Die Frage stellt Anouk auch Professor Dorf, der sie jedoch nur ausweichend beantwortet und ihnen stattdessen in Aussicht stellt, im unterirdischen Palais eine umfangreiche Sammlung historischer Kunstwerke, architektonischer Wunder und Zeugnisse aus dem Zeitalter der frz. Revolution zu entdecken. Am Ende des Abendessen sollen alle eine Kapsel schlucken, angeblich gegen Mikroben und Toxine, doch Anouk bezweifelt dies und im Hinauslaufen versucht sie die Kapsel wieder auszuspuken und wird ohnmächtig.

Während im Jahr 1789 Aurélie mit ihren Schwestern im Palais ankommt und Graf Havriel, der Bruder Frédérics die Wachen zwingt, ihre tote Mutter ebenfalls nach unten zu bringen, wacht Anouk in der Gegenwart in einem Spiegelsaal auf und wird Zeuge, wie Miss Sei, Dorfs Assistentin, Hayden einen
"Tankstutzen (...). Länglich. Mit Widerhaken. Eine Silbernadel ragt am Ende hervor wie ein Stachel" (S.101)
in die Schädelbasis hineintreibt. Panisch fliehen die anderen vier und werden von behelmten Trackern verfolgt.

"Dies hier ist das Palais du Papillon. Es gibt das Palais wirklich. Es ist hier, und es hat eine sehr moderne Tresortür und neonerleuchtete Korridore. Sie haben uns angelogen, von Anfang an." (S.106)

Das Abenteuer im finsteren Palast beginnt, in dem sie viele Fallen bewältigen müssen; Perdu, der angeblich über 200 Jahre alt ist und französisch spricht, und eine geheimnisvolle Dame im roten Kleid treffen und immer wieder ein unheimliches Sirren hören. Neben Dorf, der sie suchen lässt, scheint es noch etwas anderes im Labyrinth zu geben und immer wieder stellen sich die Jugendlichen die Frage, warum sie an diesen Ort gelangt sind und ob sie ihn jemals wieder verlassen werden.

Eine Frage, die sich im Jahr 1789 auch Aurélie stellt, die von ihren Geschwistern isoliert wurde und nur Hilfe von Jacques, dem ihr zugeteilten Diener erwarten kann, der ihr Schauerliches aus dem Palast berichtet. Blutige Experimente, Menschen, die verschwinden, wer und was ist da am Werk?
Und wer ist der geheimnisvolle Schmetterlingsmann?

Bewertung
Ein echter Pageturner! Die Kapitel in den verschiedenen Zeitebenen, die inhaltlich aufeinander abgestimmt sind, enden fast immer mit einem Cliffhanger, so dass man atemlos weiter liest. Die Irrwege der Jugendlichen durch den Palast erzeugen neben klaustrophobischen Momenten immense Spannung. Die Frage, zu welchem Zweck diese Außenseiter, die sich allmählich anfreunden, in den Palast der Finsternis gelockt wurden und warum sie von Dorf so verzweifelt gesucht werden, schwebt immer im Raum und sorgt für zusätzliche Dynamik.

Lange bleibt in der Schwebe, ob es "nur" ein Abenteuer- oder doch ein Fantasyroman ist - bis sich herausstellt, dass wir es mit Science Fiction in der wörtlichen Bedeutung zu tun haben. Eine wissenschaftliche Fiktion - ein Experiment, das 1789 geglückt ist und bis in die Gegenwart andauert - so viel sei verraten.
Obwohl die dahinter stehende Ideen nicht neu sind, arrangiert sie Bachmann so, dass alle Puzzleteile perfekt zusammenfallen und alle Fragen beantwortet werden - auch die nach Anouks unglücklichen Familienverhältnissen.
Am Ende hätte es für meinen Geschmack etwas weniger actionreich zugehen können, bis zur "Lösung" vollbringt eine der Jugendlichen fast Unmögliches - nun gut, das kann man verkraften. Die Botschaft am Ende fällt klar und deutlich aus - vielleicht etwas zu plakativ.

Sehr unterhaltsam ist auf jeden Fall Anouks Perspektive. Ihre zynisches Art und ihre selbstkritischen und sarkastischen eingestreuten Kommentare und Gedanken sind teilweise witzig und legen Zeugnis ab von einem Kind, das nicht gesehen worden ist. Sehr authentisch wirken die Dialoge zwischen den Jugendlichen, die sich in diesem finsteren Palast, dessen Architektur und Ausgestaltung Bachmann virtuos komponiert hat, weiterentwickeln - psychisch und in ihren Beziehungen zueinander.

Klare Leseempfehlung!

Donnerstag, 5. Oktober 2017

John Williams: Nichts als die Nacht

- Novelle mit offenem Ende.

Leserunde auf whatchareadin

Hardcover, 160 Seiten
dtv, 8.September 2017

Vielen Dank an den Verlag für das Leseexemplar.

Der Erstlingsroman von John William, Autor von "Stoner", ist entstanden, nachdem der jungen Air Force Pilot Willams zu Beginn des 2.Weltkriegs auf einem Erkundungsflug in Burma abgeschossen wurde und sich in einem Lager von den traumatischen Erlebnissen erholt hat.
Im Nachwort heißt es, es sei "das Werk eines Zweiundzwanzigjährigen, den die unmittelbare Begegnung mit dem Tod verstört zurückließ und zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal zwang." (S.152).

Diese Verstörung stellt sich auch beim Lesen ein, ganz besonders nach dem offenen Ende, das viele Fragen unbeantwortet lässt.

Worum geht es?
Wir erleben gemeinsam einen Tag und eine Nacht mit Arthur Maxley in San Francisco, der mit einem surrealen Traum des Protagonisten beginnt. Er sieht auf einer Party einen Fremden.

"Ihn schien eine innere Ruhelosigkeit zu plagen, die ihm keinen lockeren Umgang mit sich oder den anderen gestattete. Angespannt beugte er sich im Sessel vor, als sei er kurz davon, aufzuspringen und in heller Panik zu fliehen." (S.11)

Dieser Fremde wird von allen bedrängt, immer näher rücken die Menschen bedrohlich an ihn heran und der Träumende erkennt,

"das hier war seine wahre Identität, das war er selbst" (S.14)

- ein Fremder in der Menge, außerhalb der Gesellschaft.

Nach dem Aufwachen beschließt er sein Versprechen einzuhalten und in den Park zu gehen, seinen Tag auszufüllen, um den Selbstreflexionen zu entgehen? Es gelingt ihm nicht dorthin zu kommen, statt dessen frühstückt er und kehrt in seine Wohnung zurück, in der eine Überraschung auf ihn wartet:
Ein Brief seines Vaters, den er schon seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat. Das letzte Telefongespräch verursachte einen psychischen Zusammenbruch Arthurs. Was ist geschehen?

Spontan verabredet er sich mit seinem Vater für den Abend.
Wir erfahren, dass Arthur voller Zärtlichkeit an seine Mutter zurückdenkt, aber auch, dass sie tot ist und dass es mit dem Tod etwas Seltsames auf sich hat.
Sie scheint eine labile Frau gewesen zu sein, minutiös beschreibt Arthur das Ritual des Gute-Nacht-Sagens.

"Er hatte gelernt, dass er in diesem heikelsten aller Augenblicke abwarten musste, in welcher Stimmung sie war. Manchmal legte sie die Arme um ihn, streckte sich neben ihm aus, zerzauste sein Haar und flüsterte ihm zu. Bei anderen Gelegenheiten wirkte sie abgelenkt, abwesend, nicht ganz bei ihm." (S.46)

 "Das ist die beste Zeit im Leben, dachte er erneut: Wenn man noch sehr jung ist, wenn das Leben einfach scheint, eine vollkommene Abfolge goldener Augenblicke." (S.47)

Bevor er seinen Vater sieht, trifft er beim Mittagessen ein Freund. Die einzige Szene im Roman, die "normal" wirkt. Doch die Bitte des Freundes ihm Geld zu leihen, schlägt er ab. Als dieser ihm vorschlägt, doch seinen Vater zu fragen, ist Arthur voller Angst.

Auch das Gespräch mit dem Vater offenbart nicht das Familiengeheimnis, doch die aufkeimende Wärme zwischen beiden wird jäh gestört, als eine Geliebte des Vaters auftaucht. Der Vater ist wie der Sohn auf der Flucht vor jenen schrecklichen Ereignissen, die zwischen den beiden ungesagt bleiben.

"Hast, dachte er, ständige Hast, immerwährende Flucht, Tage ohne Ende und kein Entkommen." (S.69)

Während der Vater sich jedoch in seiner Arbeit vergräbt, ist Arthur in seinen Selbstreflexionen gefangen.

"Wer könnte das schon, die Seele säubern?" (S.151)

Im Anschluss besucht Arthur einen Nachtclub und flirtet mit einer jungen Frau. Beim Auftritt einer Tänzerin, die in völliger Ekstase sich ihren Bewegungen hingibt, wird Arthur von seinen Erinnerungen an jenen Abend überflutet, der die die Familie Maxley zerstört hat.

Eine Erinnerung, die mehr Fragen offen lässt, als sie beantwortet und die zu einem Verhalten gegenüber der jungen Frau führt, dass sehr verstörend ist. Aus einer Angst wird Hass, der sich entlädt - plötzlich und unerwartet. Abrupt endet der Roman und lässt die Leser*innen allein.

Bewertung
Ein sehr intensiver Roman, den man nicht mal eben so zwischendurch lesen kann und der volle Aufmerksamkeit erfordert. Die Sprache ist so metaphernreich, dass es schon fast zu viel des Guten ist. Interessanterweise hat der Autor die Novelle in späteren Jahren verleugnet, weil sie ihm - wie es im Nachwort heißt - zu unfertig schien.

Sie wirkt tatsächlich nicht "fertig", am Ende stolpert der Protagonist allein in die Nacht. Ohne eine Versöhnung mit den Vater, ohne Zukunft, innerlich angetrieben.

Viele offene Fragen, was bleibt ist eine "Metaphernvielfalt", dynamische Passagen, wie der ekstatische Tanz, neben anstrengend zu lesenden Selbstreflexionen und das Aufdecken eines traumatischen Erlebnisses, mit der Protagonist offenkundig nicht leben kann.