Montag, 30. März 2020

Peter Zantingh: Nach Mattias

"Was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind."

Leserunde auf whatchaReadin

"Eine Woche nach Mattias wurde sein Fahrrad geliefert." (7)
Bereits im ersten Satz des Romans wird der Titel aufgegriffen und der Bezugspunkt genannt. Was geschieht in der Zeit, nachdem Mattias gestorben ist.
Erzählt wird aus unterschiedlichen Perspektiven:
Im ersten Kapitel steht Mattias Freundin Amber im Mittelpunkt, die aus der Ich-Perspektive erzählt, wie sie sich fühlt.
"Trauer ist wie ein Schatten. Der richtet sich nach dem Stand der Sonne, fällt morgens anders als abends."(7)
Während sie im Park ist und an glückliche Zeiten zurückdenkt, wird Amber Zeugin, wie ein Pitbull fast einen kleinen Hund tot beißt. Quentin, ein Freund Mattias, kommt ihr und der Besitzerin des Hundes zu Hilfe. Aus seiner Perspektive wird im 2.Kapitel ein Blick auf Mattias geworfen. Genau wie Amber stellt er seinen Freund als jemanden dar, der sich für Neues begeistern konnte, viele verschiedene Ideen hatte.

"Er konnte sich immer noch für die gerade gehörten Newcomerbands begeistern, die er auf eine Popbühne bringen würde, und genauso sehr auch für die Schüler, denen er während des Rests der Woche Nachhilfeunterricht gab, weil sie zu ihm aufschauten und seinen Erzählungen lauschten und weil er auf die Weise wenigstens noch etwas damit anfing, dass er vier Jahre Geschichte studiert hatte." (13)
Seine neueste Idee, von der Amber und Quentin sprechen, ist es, gemeinsam mit Quentin ein Café aufzumachen - wie genau dies aussehen soll, wird im Lauf des Romans aus anderer Perspektive erzählt.
Amber beschäftigt es, dass sie darüber am letzten Tag gestritten haben, man erfährt jedoch nicht, wie Mattias gestorben ist. Auch das erschließt sich allmählich, wenn man - wie es auf dem Buchrücken heißt - alle "Puzzleteile" zusammengefügt hat.
Neben Freundin und Freund kommen auch die Großeltern zu Wort, doch bei ihnen steht weniger Mattias als Enkel im Vordergrund, sondern ihre Ehe selbst, die lange Zeit, die sie schon zusammen sind, während die Mutter Kristianne das Bild eines anderes Mattias zeichnet - einen empathischen, jungen Mann in den Vordergrund rückt, der auf Harmonie bedacht gewesen ist. Dieses Bild vermittelt auch Issam, ein Roadie, der Mattias nur über das Internet gekannt hat.
Was mir besonders gut gefallen hat, sind die zusätzlichen Verbindungen zwischen den Kapiteln - neben dem "Bindeglied" Mattias.
So trainiert Quentin, der seiner Trauer mit Laufen begegnet, einen Blinden, Chris, der selbst zu Wort kommt und erzählt, was Quentin ihm über Mattias anvertraut hat. Und Tirra ist eine Frau, die Kristianne im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Arbeit für Flüchtlinge kennengelernt hat - so werden auch die Geschichten der Personen weiter geschrieben, die von der Zeit "nach Mattias" berichten. Wobei man sich auch der Antwort nähert, wie er gestorben ist.
Bei einer Figur - Nathan, die aus ihrem Leben erzählt, weiß man zunächst nicht, was sie mit Mattias zu tun hat, das erschließt sich erst ganz am Ende.
Insgesamt entsteht allmählich ein Bild dieses jungen Mannes, der tot ist, und gleichzeitig erfahren wir, wie das Leben "nach Mattias" weitergeht, wie Trauer "aussieht" für die Personen, denen er etwas bedeutet hat und auch für andere, deren Leben er nur am Rande berührt hat.

Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!


Dienstag, 3. März 2020

Daniela Krien: Muldental

- ein Erzählband

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich letztes Frühjahr "Die Liebe im Ernstfall" in einer Leserunde auf whatchaReadin gelesen habe und die lose verknüpften Geschichten von fünf Frauen micht begeisterten, freute ich mich besonders auf den neuen Erzählband von Daniela Krien.

Wie sie selbst im Vorwort schreibt, sind die 11 Erzählungen aus einem kleinen "Notizheft voller Geschichten", aus "Skizzen von Lebensdramen" (9) entstanden, wie

"Überschuldeter Handwerker begeht Selbstmord" (9).

Daraus entstand die Erzählung "Sommertag", in der ein Schreiner nach der Wende einen Aufschwung erlebt, Kredite angeboten bekommt und mit der finanziellen Freiheit nicht umzugehen weiß. Seine Frau gibt das Geld mit vollen Händen aus, gönnt sich das, was sie sich immer schon gewünscht hat, bis die Rechnungen und Mahnungen überhand nehmen und der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht. Otto Gerling ist ein "Wendeverlierer oder ein Kapitalismusopfer" (198), wie es in der Erzählung "Der Zigarettensammler" heißt. Menschen, die am politischen und gesellschaftlichen Umbruch scheitern und "trudelnd" (Klappentext) zurückbleiben.

Die erste Erzählung spielt im "Muldental", einem ehemaligen Landkreis (1994-2008) in der Nähe von Leipzig, der in "Ort der Vielfalt" umbenannt wurde, also geographisch im Osten der Republik verortet ist. Marie lebt dort mit ihrem Mann Heinz, einem Künstler, den sie zu DDR-Zeiten auf Druck der Stasi bespitzelt hat und der sie heute dafür büßen lässt. Mit wenigen Worten gelingt es Daniela Krien das Innenleben der Figuren darzustellen, bedrohliche Situationen zu schildern und bei den Leser*innen Empathie zu wecken - auch für die Täter. So empfindet man tatsächlich in der Erzählung "Heimkehr" - die Namensgleichheit mit Kafkas Parabel ist meines Erachtens kein Zufall - tatsächlich Mitleid mit einem verurteilten Mörder, der eine lieblose Kindheit erfahren hat, von den Eltern missachtet, von den Mitschüler*innen ausgegrenzt, gehänselt, weil er ein "Daumenlutscher" ist. Dass diese Lebensumstände zu aggressivem Verhalten führen, scheint genauso plausibel, wie das destruktive Verhalten der jungen Anna in der Erzählung "Mimikry", die permanent mit Vorurteilen gegenüber den "Ossis" konfrontiert wird und von der nun im Westen Anpassung gefordert wird.

Die Erzählung "Freiheit", basierend auf der Notiz "Junge Frau entscheidet sich für Spätabtreibung" (9) führt besonders gut vor Augen, dass - wie Krien im Vorwort schreibt - "das Individuum seine Entscheidung" (10) frei trifft, aber auch die Verantwortung für jene tragen muss. Diese Geschichte geht wirklich unter die Haut, genauso wie "Aussicht", in der eine pubertierende Tochter sich mit allen Konsequenzen gegen ihre Mutter stellt - danach braucht man als Leser*in erstmal eine Pause.

Daniela Krien schreibt über Menschen, "deren Schicksal ihre Kräfte übersteigt" (10), und es ist wichtig, dass sie diesen Gehör verschafft. Einige Geschichten beziehen sich explizit auf die Wende oder den Osten bzw. die ehemalige DDR, wie "Sarabande in B-Moll", in der eine schizophrene junge Frau kurz vor dem Mauerbau in den Westen reist, weil sie glaubt, dort besser behandelt werden zu können. Andere könnten überall spielen, sind sozusagen unabhängig vom politischen Geschehen.

Mit der Geschichte "Muldental II", die die 1.Erzählung weiterführt und mit "Plan B" verknüpft, schließt dieser Erzählband, der sehr nachdenklich stimmt und dessen eindringliche Geschichten die Leser*innen zwingen, ihre Komfortzone zu verlassen und sie zunächst rat- und sprachlos zurücklassen.
(Glücklicherweise konnte man sich in der Leserunde darüber austauschen!)

Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Erzählband oder einen Roman von Daniela Krien, die eine großartige, zeitgenössische Erzählerin ist und die mit wenigen Worten so viel sagen kann.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.