Dienstag, 31. Juli 2018

Mareike Fallwickl: Dunkelgrün fast schwarz

- Roman über eine düstere Freundschaft.

Unser neu gegründeter Lesekreis, der alle zwei Monate in der Bücherhütte Wadern stattfindet, hat sich diesen Roman als erste Lektüre ausgesucht, der für kontroverse Diskussionen sorgte. Wie kann ein Kind nur so tyrannisch sein? Warum greift die Mutter nicht ein? Ist die Entwicklung der Figuren glaubwürdig?, waren nur einige Fragen, über die wir diskutiert haben.

Worum geht es?
Moritz (34) ist im Jahr 2017 kurz davor Vater zu werden. Er lebt mit seiner hübschen Freundin Kristin in Hallein, soll bald die Baufirma seines Cousins übernehmen und hat sich in seinem Leben eingerichtet, als es eines Abends an der Tür klingelt.

"Das Geräusch fährt hinein in die Stille wie ein Säbel. Er steht auf, geht zur Tür und öffnet sie. Moritz erkennt ihn sofort. Er ist älter geworden, natürlich, und doch sieht er aus wie damals. Blondes, kurzes Haar, eisenblaue Augen, ein Lächeln, das Männer versöhnlich macht und Frauen ruhelos. In einer Hand hält er einen großen schwarzen Koffer, von seinem Jackett perlen Regentropfen. Vor ihm steht Raffael. Er ist sein bester Freund. Sie haben sich sechzehn Jahre lang nicht gesehen." (11)

- seit Raf im Herbst 2001 nach der Matura das kleine Dorf Dürrnberg in der Nähe Halleins verlassen und jeglichen Kontakt zu Motz abgebrochen hat.
Raf bezaubert Kristin, doch das Grün, das Moritz um ihn herum sieht,

"ist dunkler geworden, viel dunkler, tief und massiv, fast schwarz. Es füllt den Raum, bis an die Decke strahlt es. Einst war Raffael knospengrün, raupengrün, wie Zuckererbsen in ihrer frisch geöffneten Schote, an manchen Tagen limonenhell. Schwarze Flecken hat das Grün bekommen, wie Schimmel." (39)

Dass Moritz ein Synästhet ist, hat er außer Raf niemandem erzählt. Es ist ihr Geheimnis.
Warum taucht er gerade jetzt auf, kurz bevor Moritz Vater wird, wo er ihn doch vor langer Zeit im Stich gelassen hat?

Zunächst erzählt Moritz aus personaler Er-Perspektive die Geschichte, dann wechselt sie jedoch zu Maries Ich-Perspektive. Moritz Mutter erinnert sich an das Jahr 1986, in dem sie in jenen verlassenen Ort in den Bergen gezogen ist, mit zwei kleinen Kindern, während ihr Mann Alexander in Wien sein Medizinstudium fortsetzt, um die Praxis seines Vaters übernehmen zu können.

"Die Stille ist wie Gelee, das in die Ohren rinnt und sie verschließt." (24)

Gemeinsam leben sie im alten Haus von Alexanders verstorbenen Großeltern. Marie fühlt sich allein und verlassen, Moritz ist drei Jahre alt, Sophie noch ein Baby. Auf dem Spielplatz trifft sie auf Sabrina, Raffaels Mutter, die ihre Fotomodell-Karriere für die Kinder aufgegeben hat. Raffael hat einen kleine Bruder, Samuel, der gleichaltrig mit Moritz Schwester Sophie ist.
Sabrina bemüht sich mit Marie Freundschaft zu schließen, doch diese kommt mit Sabrinas Nähe und ihrem Hilfeersuchen nicht zurecht.

"Es fühlt sich an, als säße eine Spinne auf meiner Haut, genau da, wo ihre Finger sie gestreift haben." (29)

Moritz und Raffael hingegen werden unzertrennlich, doch es ist eine eigenartige Freundschaft. Als sich Moritz am Daumen verletzt, schneidet sich Raf in die Handfläche.

"Blutsbrüder", sagte er, ohne zu lächeln.
"Was heißt das?", fragte Motz.
"Dass wir jetzt mehr sind als Freunde. Wie verwandt", sagte Raf und schaute ihn immer noch an. "Dass du jetzt mir gehörst."
"Dass wir zusammengehören", berichtigte Motz.
"Ja", sagte Raf, aber Motz wusste, dass er es nicht so gemeint hatte." (44)

Marie sieht diese Freundschaft nicht gern, sie ahnt Rafs dunkle Seite, seinen Wunsch Moritz zu beherrschen.

"Ich darf den Kreis vom Raf nie verlassen, Mama", flüsterte Moritz (...)" (78)

Doch sie findet keinen Weg ihn zu beschützen. Und als Leser*in fragt man sich, wann wird sich Moritz endlich gegen Raffael zur Wehr setzen, wann wird sich seine Wut Bahn brechen...? Und wie könnte Marie ihren Sohn beschützen? Wie sich wehren gegen ein durchtriebenes Kind, das gezielt die Schwächen anderer ausnutzt?

Die dritte Sicht ist Johannas personale Perspektive. Zunächst erfahren wir, dass sie einen morbiden Blog betreibt: "www.fuckthetourists.com", in Florenz lebt und physisch und psychisch in schlechter Verfassung ist.

"Wenn du ein gestörtes Verhältnis zum Leben hast, kannst du Essen nicht gelassen gegenüberstehen.
Ich kann nicht essen,
steht im Logbuch,
weil ich hungere nach Zuneigung.
Pathetisch ist das Logbuch. Es darf alles sein, was Jo nicht ist." (55)

Sie scheint mit Raf zusammen und ihm hörig zu sein.

"Raf kommt dann, um Jo in Besitz zu nehmen." (57)
"Nichts beherrscht ihn so sehr wie das Habenwollen."(61)

Eine sexuelle Abhängigkeit? Im Verlauf der Handlung erschließt sich, dass Johanna als Waise zu ihrer Tante nach Hallein gezogen ist und das letzte Schuljahr gemeinsam mit Moritz und Raffael bestritten hat. Aus dem Zweigestirn wird ein Dreigestirn und ein dunkles Geheimnis, das sowohl Jo als auch Motz verdrängt haben, lastet auf der einstigen Freundschaft.

Die Zeitebenen und Perspektiven wechseln kontinuierlich, die Puzzleteile aus der Vergangenheit setzen sich langsam zusammen, bis ein Bild der "Freundschaft" und des unglaublichen Verrates entsteht. Und die lang verdrängten Verletzungen aller werden offen gelegt...

Bewertung

"Diese Geschichte ist ein Mosaik. Aus vielen Splittern besteht sie, Splittern aus der Vergangenheit und der Gegenwart (...)" (258)

Die Frage, ob diese Splitter letztlich ein glaubwürdiges und nachvollziehbares Bild ergeben, war der größte Diskussionspunkt in unserem Lesekreis. Es gebe Brüche in der Geschichte, die Entwicklung Maries sei unglaubwürdig, einige Figuren blieben zu blass und das Ende sei zu versöhnlich, waren die Kritikpunkte, über die wir teilweise unterschiedlicher Ansicht waren, einhellig hingegen die Meinung, es sei ein "klasse Erstlingswerk", in der alle Figuren "so kaputt" sind.

Die Figuren fordern wirklich heraus:
Moritz, ein "sensibles, naives Weichei", das alles über sich ergehen lässt. Man möchte ihm zurufen, wehr dich doch endlich gegen Raf! Johanna - psychisch krank und von Schuld zerfressen. Raffael - ein echter "Kotzbrocken", ein Spieler, ein Bestimmer, der raffiniert alle manipuliert und provoziert, um endlich an seine Grenzen zu stoßen.
Wie reagiert man auf ein solches Kind? Was kann man ihm entgegensetzen?

Dadurch, dass Moritz Synästhet ist, spielen Farben eine große Rolle im Roman. Seine besondere Art und Weise der Wahrnehmung bringt Fallwickel mit außergewöhnlich sprachlichen Bildern zum Ausdruck, der an den Künstlerroman "Leinsee" erinnert, nicht inhaltlich, sondern von der Beschreibung der Farben her. Dass ihre Sprache außergewöhnlich schön und beeindruckend ist, hat keine von uns in Frage gestellt. Ebenso wenig, dass sie in der Lage ist, Gefühle treffend zu beschreiben, so dass man sich selbst wiedererkennt - ob als Kind oder Mutter.

"Daran, wie gut es war, ein Kind zu sein. Mit einem leichten,wendigen Körper und ohne das Gewicht einer Sorge durch das Schlupfloch im Zaun zu passen, durch den Wald zu jagen ohne ein Ziel. Erst jetzt, da er längst kein Kind mehr ist, weiß er die Freiheit zu schätzen, die er damals hatte. Ohne zu zögern, würde er zurückgehen in jene Jahre der silbernen Leichtigkeit." (48)

Interessanterweise wird nicht aus Raffaels Perspektive erzählt, wir müssen uns seine Figur aus den Aussagen der anderen erschließen. Besonders intensiv ist Maries Perspektive, da sie als Einzige aus der Ich-Perspektive erzählt. Auch sie ist gefangen in ihrem Leben und sucht verzweifelt einen Ausweg aus ihrer Überforderung und ihrem Alltag. Alle tragen "Schuld" an dem, was geschieht und trotzdem hat man das Gefühl, es habe so kommen müssen.

Keine leichte Kost, eine Lektüre, die viele Fragen aufwirft und über die man viel diskutieren kann, insofern eine gute Wahl für unser erstes Treffen und ein Roman, den wir trotz der Kontroversen alle weiter empfehlen können.

Montag, 30. Juli 2018

Joel Dicker: Die Geschichte der Baltimores

- die auf die Katastrophe zusteuert.

Quelle: Pixabay
Der Protagonisten des Romans - Marcus Goldman, der Schriftsteller - ist uns schon aus dem letzten Roman Dickers bekannt: "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert".

Dieses Mal erzählt er jedoch seine eigene Familiengeschichte, die der Goldmans aus Montclair (New Jersey) und der Goldmans aus Baltimore. Um beide voneinander zu unterscheiden, bezeichnet er die einen als die Montclairs, zu denen Marcus sowie seine Eltern gehören, und die anderen als die Baltimores, bestehend aus seinem Onkel Saul, Tante Anita, deren Sohn Hillel - hochintelligent - und dem Ziehsohn Woody, gutaussehend und ein Sport-As.
Während die Montclairs eine mittelständische Familie sind, umgibt die Baltimores eine Aura von Prestige und Wohlstand. Onkel Saul hat seine eigene Rechtsanwaltskanzlei und verliert keinen Fall, Tante Anita engagiert sich ehrenamtlich und natürlich haben sie ein Haus in den Hamptons. Marcus wäre gerne ein Baltimore. Wenn die drei Cousins zusammen ihre Ferien verbringen, bilden sie die Goldman-Gang, zu der sich im Lauf der Jahre auch Alexandra Neville gesellt. Eine bildhübsche junge Frau, in die sich alle drei verlieben.

Bereits im Prolog, in dem der Erzähler ankündigt, die Geschichte der Baltimores zu erzählen, erfahren wir, dass Woody für fünf Jahre ins Gefängnis muss und sich an Thanksgiving im Jahr 2004 die Katastrophe ereignet hat.

Die Handlung setzt im Jahr 2012 ein, da ist Marcus bereits ein berühmter Schriftsteller, der sich ein Haus in Florida gekauft hat. Sein Onkel Saul, der die letzten Lebensjahre in Miami verbracht hat, ist vor wenigen Monaten mittellos gestorben. Als Nachlassverwalter wird Marcus mit der Vergangenheit der Baltimores konfrontiert, ebenso wie durch einen Hund, der ihm in seinem neuen Zuhause in Florida zuläuft und dessen Besitzerin sich als seine ehemalige Freundin Alexandra herausstellt. Inzwischen ist sie eine berühmte Popsängerin und mit einem Footballstar liiert. Nach der Katastrophe hatte er sie verlassen, obwohl er sie immer noch liebt. Aus welchen Gründen?

Marcus erzählt seinem Nachbarn Leo von seinem Wunsch, ein Baltimore zu sein, von seinen beiden Cousins, davon, wie Woody in die Familie Baltimore aufgenommen wurde, von seiner Beziehung zu Alexandra.
Im Roman werden - wie im letzten - alle Puzzleteilchen zusammengetragen, die zu der Katastrophe geführt haben, gleichzeitig erfahren wir, welche Auswirkungen sie auf die einzelnen Protagonisten gehabt hat.

Bewertung
Ein Hörbuch, das man nicht unterbrechen möchte - spannend, mit authentischen und sympatischen Figuren - und bei dem während des Hörens immer die Frage im Raum schwebt, was es mit dieser Katastrophe auf sich hat.

Eine Geschichte über Freundschaft, die erste Liebe, über Bewunderung und Neid, der zum Verrat führt.
Dicker versteht es die einzelnen Handlungsfäden geschickt zu verweben, uns durch die verschiedenen Zeitebenen zu führen und er wartet mit einigen überraschenden Wendungen auf. Vieles, was das Kind Marcus beobachtet und wahrgenommen hat, stellt sich im Nachhinein als falsch heraus - die Familiengeschichte und die Beziehungen zwischen seinem Großvater, seinem Vater Nathan und seinem Onkel Saul sind komplexer als Marcus sich vorgestellt hat. Während er in der Vergangenheit "wühlt", deckt er nach und nach alle Geheimnisse auf...

Torben Kessler als Vorleser hat mich erneut überzeugt, er führt gekonnt durch die teilweise komplizierte Handlung und verleiht den einzelnen Figuren eine eigene Persönlichkeit.

Eine klare Lese- bzw. Hörempfehlung!

Freitag, 27. Juli 2018

Erich Hackl: Am Seil

- eine Heldengeschichte.

Leserunde auf whatchareadin

Hackl erzählt die wahre Geschichte der Jüdin Lucia Heilmann, die von Reinhold Duschka in Wien während der Nazi-Herrschaft gemeinsam mit ihrer Mutter versteckt wurde.

"Er war der beste Freund ihres Vaters, zu einer Zeit, in der Männer noch beste Freunde und Frauen beste Freundinnen hatten, vor einer halben Ewigkeit also." (7)

Lucias Vater, Rudolf Kraus, und Reinhold lernen sich Mitte der 20er Jahre in Wien kennen, wie, darüber kann Hackl nur spekulieren, da Lucia es nicht weiß.
Duschka, der aus Berlin stammt, entdeckt während seiner Gesellenwanderung im Schwarzland seine Liebe zu den Bergen und wird zeitlebens ein begeisterter Kletterer und Skifahrer sein. Rudolf führt ihn in Wien in eine Gruppe um Regina Steinig, Lucias Mutter, ein:

"Regina bildete das Gravitationszentrum der Gruppe, wegen ihres geselligen Naturells und weil sie die Gabe besaß, das Vertrauen wildfremder Menschen im Handumdrehen zu gewinnen und diese miteinander anzufreunden." (10)

Reinhold, der an der Wiener Kunstgewerbeschule studiert und aus Metallblechen Kunstgegenstände fertigt, ist stilles Mitglied in der kommunistisch, pazifistischen Gruppe.

Am 25.7.1929 wird Lucia geboren, ihre Eltern Regina und Rudolf sind freundschaftlich verbunden, so dass Lucia in der Obhut ihres Großvaters aufwächst, während Regina im Labor des Lainzer Krankenhaus arbeitet. Aber das Mädchen hat auch regelmäßig Kontakt zu ihrem Vater, der 1936 sein Mathematikstudium mit dem Doktorat beendet.

"Lucias knappe Erinnerung, daß sie bei der Promotionsfeier dabei war. (...) Zweite und wesentlich schärfere Erinnerung, an die Puppe Susi, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte" (15).

Hackl beschreibt, wie sich die Lebensumstände der Jüdin Lucia, deren Mutter mit dem jüngeren Fritz Hildebrandt zusammenzieht, kontinuierlich verschlechtern. Im November 1941, als Fritz schon Soldat in der deutschen Wehrmacht und Rudolf als Gefangener in Australien ist, entkommen Regina und Lucia per Zufall knapp einer Deportation.

 "Längst hat sich herumgesprochen, daß Judenhäuser geräumt, ihre Bewohner auf Lastwagen weggeschafft werden. Wohin, dorthin, von wo niemand zurückkommt." (25)

Ihre einzige Anlaufstelle in Wien ist der Werkstättenhof, in dem Reinhold eine Werkstatt angemietet hat. Dort überleben beide dank seines Wagemutes und seiner Zivilcourage den Krieg - sie bilden eine Seilschaft, wie beim Klettern. So erkläre ich mir den Titel des Romans.

Dadurch, dass er die beiden nicht nur in seiner Werkstatt versteckt, sondern sie auch arbeiten lässt, überstehen sie die lange Zeit. Lucia fertigt Kunstgegenstände aus Metallblechen und überbrückt so die lange Zeit des Wartens.

"Er hat es mir immer wieder wieder gezeigt. Liebevoll, er hat nie geschimpft, nie die Geduld verloren." (37)

Hackl schildert auch die Zeit nach dem Krieg, in der Duschka über seine Taten schweigt und Lucia sich bemüht, ihn für seine selbstlose Tat zu ehren.

Bewertung
Erich Hackl erzählt in nüchtern-sachlichem Ton von der Heldentat Reinhold Duschkas. Er stützt sich auf die bruchstückhaften Erinnerungen der jungen Lucia, lässt sie aber auch direkt zu Wort kommen, so dass allmählich ein Bild des schweigsamen, verlässlichen und freundlichen Duschkas entsteht. Dadurch, dass er die Zeit im Versteck aus ihrer Perspektive beschreibt, gibt er im Wesentlichen ihre Beobachtungen wieder und verdeutlicht, dass die Grundlage des Textes ein Gespräch zwischen Erzähler und Lucia darstellt. Explizit verweist er auf Erinnerungslücken und Spekulationen.

"Ausgedacht also, vorgestellt, auf jeden Fall unverbürgt, nur nicht das gute Ende (...)" (69)

Im Nachhinein stellen sich einige Beobachtungen und Schlüsse Lucias auch als falsch heraus, wie das Schicksal ihrer besten Freundin belegt.
Hackl spannt den Bogen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, indem er Lucias Bemühen, Reinhold für seine Tat auszuzeichnen ebenso dokumentiert, wie ihren Versuch mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, die ihn gekannt haben.
Ein lesenswerter Roman, der die Zivilcourage eines Einzelnen in den Mittelpunkt stellt, der in unmenschlichen Zeiten Menschlichkeit gelebt hat. Ein Vorbild,  gerade in der heutigen Zeit.

"Reinhold (war) wie geschaffen dafür, intelligenten Widerstand zu leisten. Das lag zum einen daran, daß er es als Bergsteiger gewohnt war, auf andere angewiesen und für sie verantwortlich zu sein, zweitens an persönlichen Eigenschaften, die dazu beitrugen, das Risiko möglichst gering zu halten: Selbstdisziplin, Verschwiegenheit, Einzelgängertum, Menschenkenntnis." (110)

Vielen Dank an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Samstag, 21. Juli 2018

Isabella Archan: Der Tod bohrt nach

- witziger Krimi mit überraschenden Wendungen.

Im neuen Kriminalroman löst die Zahnärztin Dr. Leocardia Kardiff bereits ihren dritten Fall. Nachdem sich im letzten Teil "Auch Killer haben Karies" bereits eine Beziehung mit dem Kölner Hauptkommissar Jakob Zimmer angebahnt hat, sind die beiden inzwischen ein Paar. Trotz aller Versprechen kann Leo ihre Spürnase nicht aus laufenden Ermittlungen heraushalten und gerät erneut in Gefahr.

Worum geht es?

"Dietrich wollte nicht zum Mörder werden." (8)

Gleich zu Beginn präsentiert uns Archan einen psychisch kranken, allein stehenden Mann, der offensichtlich glaubt, seine hübsche Nachbarin Annika, die er rund um die Uhr beobachtet, sei in Gefahr. Daher will er ihr ein Schlafmittel verabreichen, um sie in Sicherheit zu bringen. Unglücklicherweise verliert er nach dem Verzehr von Keksen während der Verabredung eine Krone, so dass er den Notdienst kontaktieren muss.
Völlig aufgelöst sucht er Leos Praxis auf und fällt dort in Ohnmacht. In seiner Panik erzählt er Leo davon, dass er Annika retten muss, sie sei in Gefahr - Leos Neugier ist geweckt und die der Leser*innen auch: Hat Annika inzwischen das Schlafmittel getrunken?

Leo bittet Jakob darum, der Sache nachzugehen, was dieser zunächst ablehnt. Doch dann meldet Annikas Freundin Malu diese bei der Polizei als vermisst und vor Annikas Wohnung treffen beide Frauen aufeinander, weil Leo ihrem Bauchgefühl vertraut und zu Dietrichs Adresse gefahren ist.

Aus Malus Perspektive erfahren wir, dass sie selbst zuvor in Annikas Wohnung gelebt hat, sich jedoch von Dietrich gestalkt fühlte, während Annika mit dem älteren Herren offenkundig gut zurecht gekommen ist - er hat ihr sogar die Blumen in ihrer Abwesenheit gegossen. Unerlaubterweise verschafft sich Malu Zutritt zur Wohnung des Stalkers, die mit Annikas Fotos tapeziert ist, so dass das Team um Jakob Zimmer seine Ermittlungen beginnt, während Dietrich ebenfalls verschwunden ist.

Es stellt sich heraus, dass Annika für einen seriösen Begleitservice gearbeitet hat: "Madame et moi", vielleicht hat der mit ihrem Verschwinden zu tun? Welche Rolle spielt der Chef der Agentur, der Belgier Hercule Pasquale?
Natürlich kann Leo nicht umhin, auch dort zu spionieren. Doch sie ist nicht die Einzige, die sich als Hobby-Ermittlerin versucht - auch ihre lebenslustige Sprechstundenhilfe Britta will dem neuen Arzt im Team, Dr. Olaf Jansen, auf den Zahn fühlen. Sogar Leos Vater, der kurzfristig zu seiner Tochter gezogen ist, lässt sich in deren Ermittlungen einspannen, was für Turbulenzen und sehr amüsante Szenen sorgt.


Bewertung
Eine gelungene Fortsetzung der Reihe um die sympathische, etwas chaotische Zahnärztin. Dieser Roman sticht für mich aus den so beliebten heiteren Lokal-Krimis heraus, weil
  • ich an vielen Stellen lachen musste, ohne dass der Spannungsbogen bis zum Ende hin verloren geht,
  • er am Schluss mit einigen überraschenden Wendungen aufwartet, so dass ich den Roman nicht mehr aus der Hand legen wollte,
  • die vielen Handlungsfäden zu einem geordneten Knäuel aufgerollt werden,
  • aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt wird, sowohl aus der Ich-Perspektive Leos und des Täters als auch aus einer personalen Sie-Perspektive Leos und anderer Figuren, was das Lesen zusätzlich interessanter macht,
  • er dramatische Elemente enthält, so ist ein Kapitel wie eine Screwball-Komödie konzipiert, wobei uns freundlicherweise von der Erzählerin vorher erklärt wird, was das ist:
"Das Wort Screwball stammt ursprünglich aus dem Baseballsport und ist die Bezeichnung für einen angeschnittenen Ball, dessen Flugbahn einfach unberechenbar ist. Im englischen Slang betitelt Screwball eine Person mit eigenartigen und skurrilen Angewohnheiten und Verhaltensweisen." (220)

Insgesamt eine äußerst amüsante, unterhaltsame, spannende Lektüre, mit skurrilen, sympathischen Figuren, die hoffentlich noch weitere Fälle lösen werden.

Sonntag, 15. Juli 2018

Mary Ann Shaffer/ Annie Barrows: Deine Juliet

- eine Hommage an das Lesen.

Diesen Roman hat meine Buchhändlerin im Rahmen einer Challenge auf Facebook gepostet, in der man sieben Tage hintereinander das Cover seiner Lieblingsbücher vorstellen sollte. Es war ihr erster Beitrag und hat mich daran erinnert, dass ich diesen Briefroman schon lange gelesen haben wollte ;)

Die Autorin, selbst Buchhändlerin und Bibliothekarin, starb leider kurz vor Veröffentlichung des Romans. Ihre Nichte Annie Barrows half ihr bei der Fertigstellung dieses wunderschönen Romans, der im Jahr 1946 in England und auf Guernsey (Kanalinseln) spielt.

Im Mittelpunkt steht die junge Autorin Juliet Ashton, die während des Krieges unter dem Pseudonym Izzy Bickerstaff Kolumnen im Spectator veröffentlicht hat, die zu Beginn der Handlung sehr erfolgreich im Verlag Stephens&Stark unter dem Titel Izzy Bickerstaff zieht in den Krieg erschienen sind.

Inhaber des Verlags ist ihr Freund Stephan, mit dessen jüngerer Schwester Sophie Juliet seit ihrer Zeit im Internat - sie ist eine Waise, die früh ihre Eltern verloren hat - befreundet ist.

Die Handlung wird vollständig in Briefen von Juliet und Briefen an Juliet erzählt. Aus den Briefen spricht eine sympathische, leidenschaftliche junge Frau, die ihren ersten Verlobten kurz vor der Heirat "verworfen" hat, weil er aus ihrer zukünftigen neuen Wohnung all ihre Bücher verbannen wollte.
Ein besonderer Brief gibt Juliets Leben eine neue Richtung, in dem Moment, da sie auf einer Lesereise verzweifelt ein Thema für ein neues Buch sucht.
Sie erhält diesen von Dawsey Adams, der auf Guernsey lebt und eines ihrer alten Bücher antiquarisch erstanden hat: "Ausgewählte Essys von Elia von Charles Lamb". Da er von diesem Autor begeistert sei, weil er ihn während der deutschen Besatzungszeit zum Lachen gebracht habe, bittet er Juliet ihm eine Adresse einer Buchhandlung in London zu schicken, um weitere Werke des Autors erwerben zu können. In seinem Brief erwähnt er den "Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf, [der] wegen eines gebratenen Schweins ins Leben gerufen" (14) wurde.

Dieser ungewöhnliche Literaturclub weckt Juliets Neugier, so dass sie einen Briefverkehr mit dessen Gründungsmitgliedern auf Guernsey beginnt:

  • Amelia Maugery, eine gebildete, ältere Dame
  • Dawsey Adams, ein 40-jähriger, stiller Mann, der einen Bauernhof betreibt und als Handwerker arbeitet
  • John Booker, ein Jude, der sich während der Besatzungzeit als ein anderer ausgegeben hat,
  • Isola Pribby, eine "Kräuterhexe", die die Bronte-Schwestern liebt
  • Eben Ramsey, ein älterer Herr, dessen verstorbene Tochter mit Elisabeth befreundet war und dessen Enkel die Besatzungszeit in England verbracht hat,
  • Will Thisbee, ein Lumpensammler, der sich für Religion interessiert
Dazu gehörte auch Elizabeth McKenna, auf deren Idee alles zurückgeht und die gleichsam im Mittelpunkt der Geschehnisse steht, jedoch nicht mehr auf Guernsey ist, während sich die Mitglieder des Literaturclubs um ihre vierjährige Tochter Kit kümmern. Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?

Juliet erfährt in den Briefen die Erlebnisse der Bewohner während der Zeit der deutschen Besatzung Guernseys, das fünf Jahre von der Außenwelt abgeschnitten war. Die einzelnen Geschichten wecken ihr Interesse und eine neue Buchidee nimmt Gestalt an, die Juliet schließlich selbst nach Guernsey führt, obwohl gerade ein amerikanischer Verleger in ihr Leben getreten ist, der ihr Herz erorbern will.

Ob er gegen den Club der Guernseyer Freunde von Dichtung und Kartoffelschalenauflauf ankommt?

Bewertung
Die Geschichte Guernseys während des 2.Weltkrieges, die Ereignisse um Juliet und ihre Korrespondenz mit den Bewohner der Insel sowie Juliets Aufenthalt auf Guernsey bilden den Kern dieses Briefromans, der gleichzeitig aber auch "eine Verbeugung vor der Literatur" (Buchrücken), dem Lesen selbst und vor den Buchhändler*innen ist.

"Das ist es, was ich am Lesen so liebe; an einem Buch interessiert eine winzige Kleinigkeit, und diese Kleinigkeit führt zu einem anderen Buch, und etwas in diesem führt wiederum zu einem dritten Buch. Es ist geometrisch progressiv - es ist kein Ende in Sicht und es hat keinen anderen Zweck als das pure Vergnügen." (16)

"Buchhändler sind wirklich ein eigener Menschenschlag. Niemand, der alle fünf Sinne beisammen hat, würde des Gehalts wegen in einer Buchhandlung arbeiten oder sich wünschen, eine zu besitzen  die Gewinnspanne ist zu gering. Es muss die Liebe zu den Lesern und zum Lesen sein, die sie dazu treibt - und die Möglichkeit, die neuen Bücher als Erste in die Hände zu bekommen." (20)

Dadurch, dass viele der Geschichte, die Juliet sammelt, von der Besatzungszeit handeln, ist der Briefroman gleichzeitig ein Roman gegen das Vergessen, der kein Schwarz-Weiß-Bild zeichnet. Auf der einen Seite haben Bürger*innen Guernseys kollaboriert, während sich die deutschen Soldaten teilweise anständig verhalten haben, zum Beispiel als die Bewohner Lebensmittel aus England erhielten:

"Ehre, wem Ehre gebührt. Sie haben all die Kartons für uns ausgeladen und sich keinen einzigen genommen." (160)

Die Geschichte Elisabeths hingegen zeigt die ganze Grausamkeit des Terror-Regimes, das die Nationalsozialisten errichtet haben. Ihr Schicksal beeinflusst Juliet so, dass ihre eigene (Liebes-) Geschichte eine neue Wendung erfährt.

Ein wunderschöner Roman, den ich ab jetzt auch als eines meiner Lieblingsbücher posten werde ;)