Montag, 21. November 2022

Yeoh Jo-Ann: Zweckfreie Kuchenanwendungen

 Leserunde auf whatchaReadin

Die Handlung dieses außergewöhnlichen Romans spielt in Singapur, im Mittelpunkt steht der 35-jährige Lehrer Sukhin, der leicht autistische Züge aufweist.

Eigentlich mag er keine Kinder, unterrichtet jedoch englische Literatur und ist sogar Abteilungsleiter. Grummelnd und wenig zugewandt durchlebt er seine Tage, besucht hin und wieder seine Eltern, deren Wohnzimmer eine Kartonsammelstelle ist - man könnte ja umziehen und einen Karton brauchen. Ganze Türme bauen sich dort auf, enge Gassen zum Durchgehen werden frei gehalten. Während sie dort auf ein weiteres Leben warten, dienen sie Jinn, Sukhins einstiger Freundin, als Wohnstätte mitten in Chinatown, Singapur. Dort entdeckt Sukhin sie zufällig und dieses Treffen wirbelt sein geordnetes Leben gehörig durcheinander.

Warum lebt sie als Obdachlose mitten auf der Straße? Schließlich kommt sie aus einer wohlhabenden Familie? Was ist zwischen ihr und ihrer Schwester, die sich einst so nahestanden, vorgefallen?

Sukhin beschäftigt sich immer mehr mit Jinn statt mit seinem Beruf, was seinem Freund Dennis, einem Homosexuellen - immer noch ein Tabuthema in Singapur - auffällt. Er vermutet eine Frau hinter Sukhins Veränderungen und liegt somit nicht falsch. 

Der Titel des Romans spiegelt Sukhins große Leidenschaft für Kuchen wider. Jedes Mal, wenn er Jinn besucht, bringt er ihr einen Kuchen mit und er beginnt sogar für sie zu backen. Eine potentielle Heiratskandidatin, die seine Eltern für ihn ausgewählt hatten, scheiterte daran, dass sie keinen Kuchen mochte. Kuchen und Kartons bilden einen Rahmen um diese wunderbar skurrile, humorvolle und warmherzige Geschichte.

Eine Besonderheit sind die Zwischenkapitel, die in einer kursiven Schrift gesetzt sind und die man am besten ganz am Ende noch einmal lesen sollte ;) - weil sie die Geschichte der beiden Protagonisten fortsetzen und beleuchten - und aus der Perspektive Jinns verfasst sind.

Insgesamt hat mir der Roman außerordentlich gut gefallen, weil er so leicht daherkommt, auch sprachlich, und doch hinter die Kulissen schaut und unserer Wegwerfgesellschaft den Spiegel vorhält. So gehört Jinn zu einer Gruppe von Menschen, die Essen von Märkten sammeln, das weggeworfen werden soll, um daraus für Obdachlose und Bedürftige zu kochen. Die kritischen Töne schwingen jedoch eher mit - im Vordergrund stehen die beiden Hauptfiguren und ihre Entwicklung.

Ein wunderbares Debüt, dem hoffentlich noch viele weitere Romane folgen ;)

Vielen Dank dem Körner-Verlag für dieses auch optisch sehr schöne Lese-Exemplar!

Samstag, 12. November 2022

Celeste Ng: Unsere verschwunden Herzen

 - eine Dystopie

Leserunde auf whatchaReadin.

Noah ist 12 Jahre alt, doch sein Name "fühlt sich immer noch wie eine Halloween-Maske an, gummiartig und unangenehm, etwas, das nicht richtig sitzt." (13)

Denn eigentlich ist er Bird - so hat ihn seine Mutter immer genannt, die ihn und seinen Vater Ethan jedoch vor drei Jahren verlassen hat, warum, erfährt man zunächst nicht.

Zu Beginn der Handlung erhält Bird einen Brief von ihr.

"Natürlich aufgerissen und wieder versiegelt mit einem Aufkleber, wie alle Briefe: Geprüft zu Ihrer Sicherheit - PACT." (11)

Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft in den USA, in der die Regierung nach einer drei Jahre andauernden Krise, deren Ursache im Unklaren bleibt, ein Gesetz (PACT) beschlossen hat, das verspricht, "amerikanische Ideale und Werte" zu schützen und "gegen unamerikanische Ideen" zu verteidigen. Als Sündenbock für die Krise hat man sich auf China geeinigt - "diese gefährliche, ständige gelbe Bedrohung" (197) - was für Menschen, die asiatisch aussehen bedeutet, dass sie offen auf der Straße angepöbelt werden dürfen, dass es gewaltsame Übergriffe gibt, während alle anderen zusehen. Als Druckmittel nimmt die Regierung Kinder aus den Familien heraus, die sich gegen PACT und gegen die Regierung selbst stellen. Die "verschwundenen Herzen" kommen in Pflegefamilien und die ursprünglichen verhalten sich still, in der Hoffnung ihre Kinder auf diesem Weg wieder zurückzubekommen.

Der Begriff "verschwundene Herzen" stammt aus einem Gedicht von Birds Mutter Margaret Miu, "einer Person of Asian Origin" (17), die als Verräterin gilt. Deshalb stehen Bird und sein Vater unter Beobachtung. Sein Vater, einst Linguistikprofessor, arbeitet inzwischen in der Universitätsbibliothek in Harvard und bläut seinem Sohn ein, nicht aufzufallen, unter dem Radar zu fliegen, keinerlei Aufsehen zu erregen. Allein sein Aussehen veranlasst andere Menschen ihn anzugreifen. Doch Bird schlägt die Warnungen in den Wind und macht sich auf die Suche nach seiner Mutter - ein Abenteuer, das ihn nach New York führt.

Wie die Autorin im Nachwort schreibt, ist ihr Romans dicht an der Realität.

"Mit dem Beginn der Pandemie im Jahr 2020 ging ein starker Anstieg antiasiatischer Diskriminierung einher, aber auch das ist kein neues Phänomen: In der amerikanischen Geschichte hat diese Diskriminierung lange und tiefe Wurzeln." (393, Nachwort)

Auch die Tradition Kinder als Druckmittel einzusetzen, ist leider keine Erfindung der Autorin. So gab es in den USA "staatliche Internate für indigene Kinder, (...) und die nach wie vor stattfindende Trennung von Migrantenfamilien an der Südgrenze der USA" (393, Nachwort).

Während der erste und letzte Teil aus der Perspektive des 12-jährigen Birds erzählt werden, erfährt man im Mittelteil im Stil eines Erzählberichtes die Geschichte Margarets. In der Leserunde herrschte Konsens darüber, dass dieser Part aufgrund der Erzählweise weniger berührend ist, dass er dazu dient, die Ereignisse gestrafft zusammenzufassen, die zur Situation in der Gegenwart geführt haben. Der letzte Teil "reißt" den Roman dann wieder raus. Er ist unglaublich spannend und wartet mit einer starken Idee des Protests auf, die verdeutlicht, wie wichtig jedes einzelne Schicksal ist. 

Insofern rüttelt der Roman auf und zwingt, genau hinzusehen und die Augen nicht vor der Diskriminierung zu verschließen, sondern laut davon zu sprechen, Zeugnis abzulegen, damit nichts vergessen wird.

Sonntag, 30. Oktober 2022

Ian McEwan: Lektionen

Leserunde auf whatchaReadin

Im Roman erzählt McEwan die Lebensgeschichte von Roland Baines verknüpft mit der realen politischen Geschichte, die Einfluss auf Baines nimmt, was dieser  mehrfach reflektiert und thematisiert.

McEwan erzählt nicht linear, sondern ausgehend von der Gegenwart im Jahr 1986 erinnert sich der der 38-Jährige an seine Klavierstunden als 11-Jähriger zurück. Dabei hat ihn seine Lehrerin sexuell belästigt hat, was bei ihm aber vor allem sexuelle Fantasien auslöst, so dass seine Lehrerin dem 13-Jährigen als Objekt der Begierde bei der Masturbation dient. 

Roland Baines wurde im Spätsommer 1959 ins Internat nach England geschickt, während seine Eltern in Libyen bleiben. Dort ist sein Vater als britischer Armeeoffizier stationiert. Die Zeit in Libyen hat Roland in guter Erinnerung, auch während der Suezkrise. In dieser Zeit war er in einem Camp evakuiert, in dem er trotz der Abschottung grenzenlose Freiheit erlebt hat,  "sie prägte ihn in seiner Ruhelosigkeit, seinem unklaren Ehrgeiz mit Anfang zwanzig, bestärkte seine Aversion gegen jede Art regulärer Arbeit." (82)

Auch der Einfluss des autoritären Vaters sowie der depressiven Mutter prägen ihn - Pflichtbewusstsein, Verantwortung, Erziehung zum Mann vs. Vertrauter der Mutter. In diesem Spannungsfeld wird er groß und versteht viele der Geheimnisse der "Familienwolke" (75) nicht: Warum wachsen seine älteren Geschwister, die einen anderen Vater haben, nicht mit ihm auf? Warum ist seine Mutter so traurig?

Die Erinnerungen an seine Klavierlehrerin Miriam Cornell werden wach, weil er in der Gegenwart im Jahr 1986 von seiner Frau verlassen wird und nun mit seinem sieben Monate alten Sohn Lawrence allein dasteht. Folgende Nachricht hat Alissa ihm hinterlassen:

"Versuche nicht, mich zu finden. Mir geht es gut. Es ist nicht Deine Schuld. Ich liebe dich, aber dies ist endgültig. Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst." (20)

- trotzdem wird er von der Polizei verdächtigt wird, seine Frau umgebracht zu haben.

Während Roland wie gelähmt ist, legt sich eine atomare Wolke über Europa - der Supergau in Tschernobyl.

"Er hatte gedacht, es sei seine Liebe, die das Kind schützte. Aber ein öffentlicher Notstand ist ein indifferenter Gleichmacher. Kinder eingeschlossen. (...) Was in den Augen eins Politikers gut für die Massen sein mochte, war womöglich für keinen Einzelnen gut, insbesondere nicht für ihn." (52)

Ein Satz, der für viele politische Ausnahmezustände Geltung hat.

Wir begleiten Roland von Ende 30 bis zu seinen 70ern, immer wieder durchbrochen von Rückblicken an seine Jugend, an die Klavierlehrerin, die sein Leben nachhaltig beeinflusst hat, und auch den Beginn seiner Ehe mit Alissa.
Die Geschichte der Eltern der beiden wird erzählt, so dass Licht in die "Familienwolke" fällt und auch Alissas Verhalten wird anhand ihrer Familiengeschichte verstehbar - auch wenn die Tatsache, dass sie ihre Familie verlässt, um ihren Traum Schriftstellerin zu werden verwirklichen zu können, kaum nachvollziehbar bleibt.

Die Geschichte Rolands wird in drei Teilen erzählt, die deutliche Zeitsprünge aufweisen.
Teil 1: 1986
Teil 2: 1989 - 1996
Teil 3: 2002 - 2021

McEwan webt in Rolands Lebensgeschichte die politische Geschichte ein und gemeinsam mit dem Protagonisten tauchen wir auch in die Höhepunkte des letzten Jahrhunderts - den Fall der Mauer, das vorläufige Ende des Kalten Krieges, das zu politischem Optimismus verführt hat, der bitter enttäuscht worden ist.

"Wie - nach welcher Logik, welcher Motivation oder infolge welcher hilfloser Kapitulation - waren wir alle, Stunde um Stunde, innerhalb einer Generation vom erregenden Optimismus des Berliner Mauerfalls zum Sturm auf das US-Kapitol gelangt? Er hatte das Jahr 1989 für ein Portal, einen Torbogen gehalten, eine weite Öffnung hin zur Zukunft, durch die alle strömen würden. Dabei war es nur ein Höhepunkt, ein kurzer Ausschlag nach oben gewesen." (696)

Die Kunst McEwan besteht für mich darin, dass er Rolands Entwicklung, aber auch die der anderen Figuren, authentisch und nachvollziehbar schildert. Ist man zunächst abgestoßen von Rolands Dahintreiben, wächst einem der Protagonist im Lauf des Romans ans Herz, so dass ich nach 710 Seiten immer noch gern weitergelesen hätte, obwohl fast alle Handlungsfäden aufgelöst werden. Viele kluge Sätze über das Elterndasein, das Älterwerden und den Einfluss der Geschichte auf unser Leben machen diesen Roman zu einem Lesevergnügen.

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Sonntag, 9. Oktober 2022

Dörte Hansen: Zur See

 - Inselleben ungeschminkt.

Leserunde auf whatchaReadin

Zu Beginn des Romans werden die Leser:innen von einem, der die Leinen los- und festmacht, mit auf eine Nordseeinsel genommen - "irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7), eine Insel also, die exemplarisch für eine der typischen Ferieninseln steht. 

Der Seemann dient den Fremden als Paradebeispiel.
"Sie (die Touristen) kaufen ihm die Schweigenummer ab, den wilden Bart, das grimmige Gesicht und diese alte Seemannsjacke. Die Fremden lassen sich gern blenden von den Messingknöpfen mit dem Ankermuster und dem Ring in seinem Ohr. Ein Ryckmer Sander passt in ihren Nordseeurlaub wie der Austernfischer und der Seehund und die Kutterscholle." (13f.)

Wir erfahren, dass er der älteste Sohn der Familie Sander ist, deren Mitglieder, neben dem Pastor der Insel, Matthias Lehmann, die Protagonist:innen des Romans stellen.
Auch das Haus der Familie mit seinen Knochenzäunen wird uns vorgestellt. Ein typisches Haus - so wird es suggeriert. Idyllisch, ohne eine Idylle zu beherbergen - der Knochenzaun gibt uns erste Hinweise, dass es hier hart zugeht.
Hanne Sander, die von ihrem Mann Jens verlassen wurde, der auf einer Vogelinsel, dem "Driftland" lebt. Ryckmer, der Alkoholiker ist und die "weiße Wand" nicht vergessen kann. Eske, die Altenpflegerin, die die Touristen nicht mag und an der alten Sprache hängt, und Henrik, der Jüngste, Künstler und Eigenbrötler.

"Auf einer Inselfähre/Nordseeinsel, irgendwo in Jütland, Friesland oder Seeland" (7/10) klingt wie der Anfang einer Sage, eines Märchens.
Hansen führt die von uns, die die Inseln nur aus dem Urlaub kennen, vor: Wir durchschauen die Idylle nicht, lassen uns gern blenden, wollen uns das Urlaubsfeeling nicht mit der Realität zerstören lassen. Das geschieht dann, wenn die vom Festland ihren Traum verwirklichen und sich ein Haus auf der Insel kaufen.
Dieser Bruch der Illusion, der Idylle taucht immer wieder auf. Ein Beispiel ist, dass die Kinder wegen der Feriengäste aus ihren Zimmern vertrieben werden und gemeinsam auf dem Dachboden schlafen müssen, sie werden "Luftkinder" (48), "Flaschengeister" (48). Hansen versteht es mit ihren Bildern sofort Assoziationen zu wecken, ein Erkennen hervorzurufen.
Doch die Touristen haben sich verändert, werden anspruchsvoller, raumgreifender, so dass Hanne Sander keine "Badegäste" mehr aufnimmt - ihr Haus mit Knochenzaum wird den Touristen nicht mehr gerecht.

Auch der Pastor sucht bewusst die "Tagesränder (...). Die Dämmerzeiten zwischen Tag und Nacht, die frühen Nebelmorgen und die späten Regennachmittage. Man muss am Strand, beim Bäcker und im Supermarkt gewesen sein, bevor die erste Fähre mit den Bustouristen und den Fahrradfahrern kommt. Und man muss warten, bis die Abendfähre weg ist, wenn man klein auf einem Inselfriedhof stehen will." (23)
In der Hauptsaison ist er in Hochform, strahlt von seine Kanzel, bezaubert mit seinem Charisma.
"Er fühlt sich manchmal wie ein Vogel, der die Federkleider wechselt: sommerliches Prachtkleid, winterliches Schlichtkleid, und dazwischen liegt die Zeit der Mauser." Jetzt ist er "Federlos" (=Kapitelüberschrift), denn seine Frau will die Insel verlassen und nur noch am Wochenende kommen, will näher bei den Kindern sein, um diese zu unterstützen. Der Titel der jeweiligen Kapitel ist sozusagen ihr Motto.

Ein Figurentableau mit vielen Problemen, alltäglichen und außergewöhnlichen. In der Familie Sander und auch beim Pastor bündeln sich diese exemplarisch und Hansen erzählt, wie sie sich weiterentwickeln, sich das Beziehungsgeflecht langsam wieder ändert und auch, wie sich das Leben auf der Insel durch die Touristen unwiederbringlich den neuen Zeiten anpassen muss.

Ein Roman, in dem genau hingeschaut wird. Auf die Touristen und die Insulanerer:innen, auf einzelne Figuren, die in ihrer Komplexität dargestellt werden. Und das in einer vordergründig nüchternen Sprache, die jedoch immer wieder poetisch wird. Das ist der besondere Ton ihrer Romane. Die Figuren werden beleuchtet, aber mit Empathie und Nachsicht.

Klare Leseempfehlung!


Sonntag, 18. September 2022

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

- ein lyrischer Roman.
Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann

Leserunde auf whatchaReadin

"Die Welt ist eine Dichtung meiner Sinne." (Nachwort)

Diese Aussage steht auf einer Gedenktafel am Haus, in dem Manner gewohnt hat und unter dieser Prämisse sollte man diesen Roman auch lesen.
In der Leserunde waren wir teilweise etwas ratlos ob der Interpretation und es stellten sich Fragen: Wer erzählt, ob ein reales Geschehen geschildert wird, ob die Figur der neunjährigen Leena, die von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist, authentisch sein kann.
Mir hat das Statement des Verlegers, das er uns freundlicherweise hat zukommen lassen, geholfen, den Roman besser zu verstehen. 
Im Mittelpunkt steht meines Erachtens die poetische Darstellung der inneren Welt Leenas, die Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen, die Grenzen zwischen Realität und Traumwelt. Ist ihre Trauer eine Kategorie, die wir als Erwachsene anlegen, fragt Antje Rávik Strubel im Nachwort oder nimmt Leena die Welt nur anders wahr?

"Es war eine sonderbar kraftlose und trotzdem grenzenlose Trauer, sie war überall in ihr und Leena spürte, dass nichts, wirklich nichts sie davon befreien konnte. Es war eine endlos lange, ewige Trauer, eine Trauer, die nicht zu erklären und dennoch selbstverständlich war." (17)

Oberflächlich könnte man sagen, ihre Trauer erwachse daraus, dass ihre Mutter im Kindbett gestorben, der Vater, ein Trinker, nicht anwesend ist. Sie wächst bei ihrer Großmutter auf, die selbst von Trauer erfüllt ist, da ihr Sohn im Meer ertrunken ist und ihr Mann, der diesen aus dem Haus gejagt hat, sich erhangen hat. Zudem fühlt sich Leena in der Schule unwohl, denn ihre Lehrerin zeigt ihr gegenüber keinerlei Empathie.

Doch ihre Trauer berührt existentielle Fragen. Während sie am Fenster sitzt, dem Regen zusieht, der an der kalten Scheibe herunterläuft, fragt Leena sich, warum sie so traurig sei.
"Worüber sie weinte, das wusste sie nicht, und genau deshalb erschien ihr alles so traurig. Haus, Himmel, Baum, Wolken ...alles war wie für diese Trauer bestimmt. Natürlich auch sie. Dass es bestimmt war - dass alles fertig und durch nichts zu ändern war - , daher kam wohl diese alles umfassende Trauer." (18)

Die Frage, ob sie etwas an ihrem Schicksal ändern kann oder ob alles vorherbestimmt ist, wird im Schlüsselgespräch (das man mindestens zweimal lesen muss) zwischen ihr und dem blinden Organisten Filemon thematisiert sowie in dem Gespräch zwischen ihr und der Nonne Elisabeth, eine der wenigen positiven Figuren im Roman, die ihr einen Moment des Haltes geben können.
In der Kirche, in der sie sich begegnen, erfährt Leena auch den wohltuenden Zauber der Musik, das ein Motiv neben dem des Wassers und ihrer (vermeintlichen) Todessehnsucht ist.

"Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben? Und plötzlich wusste sie es. Und sie wusste es, als wäre sie irgendwann im Wasser gestorben." (22)

Will sie wirklich sterben oder spiegelt sich in Leenas Gedanken die Einsamkeit der Autorin wider, die ebenfalls ohne Eltern aufgewachsen ist, in einer Stadt, die von 1939 von der Sowjetunion eingenommen wurde und die sie verlassen musste.
Im Roman "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" führt sie uns in ihrer Protagonistin Leena ein Sehen vor,
"das nicht unterscheidet zwischen den Sphären des Wirklichen und der Fantasie, den Sphären des Erlebten und des Erinnerten, des Erfahrenen und Erträumten, der Sphäre des Diesseitigen und Jenseitigen." (Nachwort, 142)

Diesem "Sehen" zu folgen, erschwert das Verständnis des lyrischen Romans, der jedoch, wenn man sich darauf einlässt und fokussiert, durch seine poetische Sprache zu verzaubern vermag.

Donnerstag, 1. September 2022

Stefanie vor Schulte: Schlangen im Garten

 - ein fantastischer Roman über das Trauern.

Leserunde auf whatchaReadin

Nachdem ich Anfang des Jahres das Märchen "Junge mit schwarzem Hahn"von Stefanie vor Schulte gelesen hatte, das mir sehr gut gefallen hat, freute ich mich auf ihren neuen Roman, der ungewöhnlich startet.
"Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe." (5)

Seine Frau ist Johanne Mohn, wahrscheinlich an einer Krebserkrankung gestorben, Näheres erfahren wir zunächst nicht. Sie hinterlässt ihren Mann Adam, der seine Arbeit kündigt, sowie drei Kinder. Steve, der Älteste unterbricht sein Studium, zieht wieder nach Hause und kümmert sich um seine jüngeren Geschwister Micha (11) und Linne (12), da der Vater in seiner Trauer gefangen ist.
"Was tust du bloß hier, denkt er oft. Wo doch Trauer ein Zimmer ist, das du gut kennst. Es hat ein Fenster, Tisch, Bett und Stuhl. Es ist gefüllt mit Leben, mit Langeweile, mit anderem. Aber eines Morgens ist es anders, und du setzt die Beine aus dem Bett auf den Boden und senkst deine Füße in stumpfes Schwarz, das durch deine Fußsohlen in dir emporwächst, und wenn du aufstehst, dauert jede Bewegung eine Ewigkeit, und willst du aus dem Fenster schauen, gibt es dort nichts mehr zu sehen, weil die Scheiben blind sind und Pech an ihnen herabrinnt." (25 f.)

In sprachgewaltigen Bildern findet vor Schulte Worte für die Gefühle der Mohns, die jeden Abend Seiten der Tagebücher der Mutter essen, ohne sie zu lesen, weil Adam ihr versprochen hat, dass niemand sie lesen werde. Als wollten sie sich ihre Erinnerungen einverleiben, um sie nicht zu vergessen. Nur Linne stiehlt Papierfetzen, um sie heimlich zu lesen.
Auch die Gegenstände vermissen die Mutter:
"Und als wüssten die Gegenstände um den Verlust, löschen sie sich aus. Entgleiten ihren angestammten Plätzen, Perlen aus den Regalen."(6)

Hat man nach dem Lesen des 1.Kapitels zunächst den Eindruck erneut in einer fantastischen Welt zu sein, entspricht in den folgenden Kapiteln das Setting unserer realen Welt: Die Kinder gehen zur Schule, es gibt ein Schwimmbad, eine Straßenbahn, nervige Nachbarn. Und doch schlängelt sich das Fantastische in die Handlung.
Linne, die eine unbändige Wut in sich trägt und sich auf dem Schulhof prügelt, ihre Art mit der Trauer umzugehen, wird zum Direktor bestellt.
Dort hängt ein alter Stich an der Wand, auf der eine Schlange zu sehen ist - eine Aspis-Viper, ein Lauerjäger - eine "Schlange im Garten". Über die Bedeutung des Schlangen-Motivs haben wir in der Leserunde ausführlich diskutiert.

Steve sieht in allem Gesichter, genau wie die Mutter, sie lähmen ihn, so dass er in Situationen verharrt und nicht weitergehen kann.
Micha empfindet sich selbst als Wasser, "auch tagsüber kann er die Brandung in sich hören. Dann siehst er sich selbst, als sei er nur eine zarte äußere Micha-Linie, die sein wahres Ich umrahmt, ein Wellenspiel, das Glitzern, darüber der Himmel." (8)

Zu Beginn trauert jeder für sich allein, sind sie ohne die Mutter keine Einheit mehr. Ihre Nachbarn denunzieren sie aufgrund ihrer unmäßigen Trauer beim Traueramt, da sie nicht mehr in zum normalen Leben fähig sind.
Herr Ginster, der Beamte vom Traueramt, tritt auf den Plan und beobachtet die Familie fortan wegen „verschleppter Trauerarbeit“. (58), den "wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an. (76)
Das fiktive Trauerarbeit offenbart vor Schultes Kritik an der in unserer Gesellschaft vorherrschenden Kultur, der Trauer nur wenig Raum zu geben, möglichst schnell wieder zum alltäglichen Leben, zur Leistungsfähigkeit zurückzufinden.
Auch die weiteren Figuren, die aus dieser Gesellschaft herausgefallen sind und mit der Familie in Kontakt treten, verdeutlichen diese Kritik. Da ist die obdachlose Dame mit Hund, der eigentlich ein Ball ist, die Figur des Herrn Brassert auf dem Friedhof, den die Kinder jeden Nachmittag besuchen und der seine eigene Art gefunden hat, mit seiner Trauer umzugeben. Jede der Mohns freundet sich mit einer weiteren Figur an und alle bilden sie im Verlauf des Romans eine skurrile Gemeinschaft, wobei das Fantastische allmählich die Überhand gewinnt.
Am Ende hätte ich mir einen deutlicheren Rückbezug zur Realität gewünscht, doch insgesamt haben mich die originelle Art und Weise, wie vor Schulte vom Trauern erzählt, ihre ungewöhnlichen Bilder und die Motive, die sie verwendet, überzeugt.

Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank an den Diogenes Verlag für das Lese-Exemplar!

Samstag, 4. Juni 2022

Iris Wolff: So tun, als ob es regnet

ein Roman in vier Erzählungen.

Leserunde auf whatchaReadin

"So tun, als ob es regnet" bedeutet im Rumänischen, dass man zwar körperlich anwesend ist, sich aber ganz den Gedanken hingibt, sich "ganz aus der Zeit und diesem Raum" (77) stiehlt.

Diese Eigenschaft zeichnet alle vier Protagonist:innen der vier Erzählungen, die miteinander verbunden sind, aus.

Die erste Erzählung "Budapest?" spielt im 1.Weltkrieg und den deutschen Soldaten Jacob verschlägt es nach Siebenbürgen, wo viele Deutschsprachige gelebt haben und das im Herzen Rumäniens liegt. Inmitten der Sinnlosigkeit des Krieges lernt Jacob Alma kennen, eine verheiratete Frau mit drei Töchtern, und verliebt sich in sie, während ihn aus der Heimat schlimme Nachrichten erreichen.

Ihre kurze, heimliche Begegnung begründet eine Familiengeschichte, die sich über die nächsten drei Erzählungen erstreckt. Henriette - Vicco - Hedda verbindet die Suche nach dem Glück angesichts der politischen Umstände in ihrem Land, ihrer persönlichen Lebens- und Familiengeschichte.

Henriettes Geschichte spielt 1933, bevor Siebenbürgen von den Deutschen besetzt wurde. Die geheimnisvolle Begegnung mit einer Fremden wirft viele Fragen auf, die in unserer Leserunde für Spekulationen gesorgt hat. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Zitate, die jeder Erzählung vorangestellt sind und die sozusagen den Kern jeder Geschichte enthalten und einen Hinweis auf die Bedeutung der Fremden geben.

Die dritte Erzählung spielt im jungen Ceausescu Regime. Während die Amerikaner auf dem Mond landen, wird die Freiheit im kommunistischen System mit Füßen getreten und Gegner willkürlich verhaftet. In wenigen Sätzen fächert Iris Wolff die Konsequenzen auf, wenn man aus der Reihe tanzt.

"Es brauchte keine Beweise, die meisten Gerichtsverhandlungen waren Schauprozesse, die Strafen standen schon vorher fest." (109)

"Sie kannten die Spielregeln: Du weißt von nichts, es geht geht dich nichts an, die Partei hat recht. Drei einfache Regeln, mit denen man auch im Kommunismus ein gutes Leben führen konnte." (110)

Heddas Geschichte spielt Anfang des neuen Jahrtausends auf La Gomera, wo sie Buchempfehlungen verfasst, selbst schreibt, vor allem träumt und so tut, "als ob es regnet". Auch sie ist auf der Suche nach dem richtigen Platz im Leben, während ihr Vater Vicco mit der alten Heimat abgeschlossen hat. 

Es sind die existentiellen Fragen nach dem Glück, nach den vermeintlich wichtigen Entscheidungen im Leben, die im Vordergrund der Erzählungen stehen - genauso wie die Frage nach der Heimat.

"Vielleicht war es zuletzt lächerlich gleichgültig. Jedes Ziel, jeder Wunsch diente dazu, irgendwo anzukommen, und wenn man nicht aufpasste, versäumte man den Moment, in dem man mit allen Sinnen spürte, wo man war." (162)

"Es war einmal und ist doch nie geschehen" (162) - in wunderbar poetischer und bilderreicher Sprache, die doch niemals überladen wirkt, erzählt uns Iris Wolff auf wenigen Seiten eine vier Generationen umfassende Familiengeschichte.

Samstag, 21. Mai 2022

Stefan Hertmans: Der Aufgang

Leserunde auf whatchaReadin

Die Frage, ob man dieses Buch als Roman bezeichnen könne, wurde in der Leserunde zunächst diskutiert. Im Anhang erklärt der Autor, dass die Geschichte auf "historischen Fakten und einer ausführlichen Dokumentation, ergänzt durch die Fantasie des Autors" (467) basiert. Also doch ein Roman, der die Biographie des flämischen Kollaborateurs und SS-Mannes Willem Verhulst mit der Lebensgeschichte des Autors verknüpft.

Die Verbindung besteht in einem Haus im Genter Stadtviertel Patershol, in dem der Autor 20 Jahre gelebt hat und das auch der Wohnsitz Willem Verhulsts gewesen ist. Stefan Hertmans schildert zunächst sehr lebhaft, wie der das verwunschene Haus im Spätsommer 1979 entdeckt hat.

"Um die verrosteten Gitterstäbe eines der Zäune wanden sich die dicken, fast schwarzen Äste eines Blauregens. Schwer von Staub hingen späte Blütentrauben herab, dennoch rührte mich ihr Duft - er führte mich zurück in den verwilderten Garten meiner Kindheit;" (8)

Er kontaktiert den Notar De Potter, Besitzer des Hauses, und besichtigt das heruntergekommene Haus und kauft es aus einem Impuls heraus. Anfang des neuen Jahrtausend, als er das Haus gerade wieder verkauft hat, fällt ihm dann das Buch seines ehemaligen Geschichtsprofessors Adrian Verhulst in die Hände: "Sohn eines >>falschen<< Flamen". Bevor er den Professor besuchen kann, stirbt dieser, worauf sich Hertmans vornimmt, "nicht die Geschichte eines SS-Mannes (zu) erzählen; solche Geschichten gibt es ohnehin zuhauf. Ich werde die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen." (12)

Zu Beginn weicht er jedoch von diesem Vorsatz ab und schildert zunächst die Kindheit Willems, erzählt von seiner ersten Ehe mit einer jüdischen Frau, die für ihn ihren Ehemann verlassen hat. Nach deren Tod gründet er eine 2.Familie. Wir erfahren auch, dass er ein Frauenheld und seine politische Gesinnung zunächst sehr wechselhaft ist. Geprägt hat ihn der flämisch-wallonische Konflikt und dessen Politisierung nach dem 1.Weltkrieg. Daraus resultiert auch, dass er als patriotischer Flame mit den Deutschen, die Belgien im 2.Weltkrieg besetzt haben, kollaboriert.
Seine Frau Mientje hingegen erscheint als friedliebend und freundlich. Zudem ist sie eine gläubige Protestantin, die sich dem Haushalt und dem Aufziehen der drei Kinder Adrian, Letta und Suzy widmet. Sie ist die stille Heldin, die heimlich Widerstand übt.
Ab dem zweiten Teil des Romans wechseln die Szenen, in denen der Autor das Haus besichtigt, mit denen aus der Vergangenheit ab. Sehr interessant, wie sich der Autor auf Spurensuche begibt und z.B. den Ort in Deutschland aufsucht, an dem die Kinder Verhulst den Sommer 1942 verbracht haben. Es wird immer deutlicher, dass er seine Biografie auf viele Quellen stützt, auf Interviews mit den beiden noch lebenden Töchtern und den Hinterlassenschaften der Familie: „die Tagebücher der Mutter, ihre eigene (Lettas) Lebensgeschichte, ein Heft mit einem Läufer, auf dessen Umschlag in der väterlichen Handschrift Wils Kindheit und Jugend geschrieben steht.“ (157)

Der Autor erklärt auch implizit seine Vorgehensweise:
„Symphonein bedeutet zusammenklingen, gemeinsam einen Klang hervorbringen, dessen komplexes Ganzes mehr ist als die Summe seiner Teile.“ (157)

Sein Bestreben ist es, aus den verschiedenen Quellen die Lebensgeschichte Willem Verhulst und seiner Familie zusammenzusetzen, so dass ein Bild jenes Mannes entsteht, der als SS-Mann viele Menschen verraten, seine Taten jedoch niemals bereut hat, und das seiner Familie, die sich zunehmend um Distanzierung bemüht. Gleichzeitig wird auch die Geschichte des Drongenhofer Haus erzählt, in dem Mientje Menschen versteckt hat, auch Kollaborateure, und das auf den Autor eine besondere Faszination ausübt. Auch der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen wird thematisiert, ein Thema, das in Belgien sicherlich größere Aufmerksamkeit erlangt als in Deutschland.

Insgesamt eine interessanter Roman mit dokumentarischem Charakter, da er eine Vielzahl an Bildmaterial bietet und Zitate der Kinder und Enkelkinder eingeflochten sind. Trotz einiger Längen lesenswert.

Sonntag, 27. März 2022

Dagmar Schifferli: Meinetwegen

- Monolog einer Psychopathin (?)

Leserunde auf whatchaReadin

Katharina ist ein 17-jähriges Mädchen, das sich in einer geschlossenen Einrichtung für Jugendliche befindet, weil sie straffällig geworden ist. Der kurze Roman ist ausschließlich aus ihrer Sicht in der Ich-Perspektive verfasst. Als Leser:innen hören wir ihr zu, wie sie einmal in der Woche mit ihrem Psychiater spricht, der selbst ins Gespräch nicht eingreifen darf. Das ist ihre Bedingung, damit er alles über ihre Tat erfährt.

Gleich zu Beginn gibt sie zu bedenken:

„Es wäre nicht willentlich gelogen, wenn ich etwas erzählte, dass ich gar nicht so erlebt habe oder mir jemand erzählt hat, dass es so gewesen sei. Ohrfeigen, wenn sie heftig genug sind, verletzen das Gehirn. Die, die ich gekriegt haben, waren heftig. Darum bin ich mir unsicher, ob ich mich an alles korrekt erinnere. Obwohl ich möchte.“ (5)

Kann man ihr trauen? Ist sie eine zuverlässige Erzählerin? Will sie sich wirklich ihrer Tat stellen? Und was hat sie getan? Das sind die Fragen, die durch den Roman tragen und kontinuierlich die Spannung hochhalten. Katharina erzählt nur das, was sie wirklich will. Vieles bleibt ausgespart und nachfragen darf der Psychiater zunächst nicht.

„Eines aber müssen Sie wissen: Sie dürfen mich nie unterbrechen, niemals. Auch keine Fragen stellen, keine Töne, keinen Pieps von sich geben, wie etwa hm, oder sich räuspern. Das würde meine Gedanken durcheinander bringen.“ (5)

Von ihrem Leben selbst erfahren wir wenig. Ihre Mutter ist an MS erkrankt und verstorben. Ihr Vater hat ein Verhältnis mit der Pflegekraft gehabt und hat Katharina laut ihrer Aussagen geschlagen und auch verbal Schaden zugefügt. Nach eigenen Aussagen lebt sie in „der ständigen Angst vor Prügel und Beschimpfungen. Ich habe nicht mitgezählt, wie oft mir mein Vater den Tod gewünscht hat.“ (24)
Katharina macht ihn auch für den Tod ihrer Mutter verantwortlich.

„Nein, ich weiß, dass er schuld war,
schuld ist,
am Tod meiner Mutter. Schauen Sie mich nicht so an. Es stimmt. Er hat ihren Rollstuhl nicht arretiert, sie saß drin, der Rollstuhl fuhr immer schneller,
kippte um.“ (19)

Eine Zeitlang hat sie bei ihrer Tante gelebt und war auch in einem katholischen Internat, woraus sie geflohen ist. Ihre Tante wollte sie jedoch auch nicht aufnehmen.

„Keine Ahnung, warum micht ihre Kinder…Man sieht sich ja nie von außen. Das habe ich schon mal gesagt. Jedenfalls haben sie mich ziemlich gemieden.“ (36)


Der Psychiater lässt sich darauf ein und erst nach ein paar Sitzungen darf er mithilfe von Karten mit ihr interagieren. Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass das Geschehen im Jahr 1970 spielt. In diesem Jahr ist erstmals die Psychopathy Checklist von R. Hare erschienen ist, so dass der behandelnde Psychiater diese noch nicht gekannt haben kann. Damit gibt uns die Autorin einen Hinweis darauf, dass Katharinas Charakter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung aufweisen könnte, d.h. dass sie eine Psychopathin ist, die ihr Gegenüber manipuliert.
(Vielen Dank an unser Leserundenmitglied @Gaia, die uns darüber aufgeklärt hat)

Allerdings legt auch die Erzählweise dies nahe, denn ausgerechnet bei der Sitzung, in der sie ihre Tat erzählen will, muss der Psychiater eingreifen.

„Helfen Sie mir, sagen Sie etwas!
WAS?
Etwas, das mir weiterhilft, bitte!
JA
Ich habe im Bericht Folgendes gelesen, Katharina: (…)" (92)

Dadurch, dass sie sonst die Fäden in der Hand behält und nur beim Geständnis ihrer Tat auf Hilfe angewiesen ist, zeigt meines Erachtens, dass sie keine echte Reue empfindet und den Psychiater dahingehend manipuliert, dass er ihr hilft in den offenen Strafvollzug zu gelangen und ihr ein gutes „Zeugnis“ auszustellen. Auch die intertextuellen Bezüge, z.B. zur Todesfuge von Paul Clean könnten ein Hinweis darauf sein, dass sie sich als Opfer stilisiert, um selbst in einem besserem Licht zu erscheinen.

Allerdings könnte man den Roman auch anders lesen. Katharina befreit sich von ihrer Tat mithilfe der Gesprächstherapie, empfindet Reue, entwickelt sich und will neu anfangen. Beim ersten Lesen erscheint sie durchaus sympathisch, man empfindet aufgrund ihrer Kindheit Mitleid mit ihr. Es bleibt am Ende tatsächlich offen, jedoch bleibt das ungute Gefühl, Katharina meine es nicht ernst, sondern wähle ihre Worte mit Kalkül. Ein Eindruck, der sich beim 2.Lesen bestätigt.

Ein interessanter Roman, der zum Diskutieren einlädt und die Leser:innen herausfordert.

Samstag, 12. März 2022

Dirk Kurbjuweit: Der Ausflug

Eine Parabel?

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Geschichte von vier Freunden, Amalia, Bodo, Josef und Gero, wobei Amalia die ältere Schwester Bodos ist. Die Vier haben schon in der Schule eine verschworene Gemeinschaft gebildet. Inzwischen sind sie Anfang 30 und unternehmen regelmäßig gemeinsam Ausflüge, dieses Mal geht es an ein entlegenes Flussdelta.
Bevor sie zum Kanuverleih fahren, übernachten sie in einem Gasthof, in dem es zu einem rassistischen Angriff kommt. Josef, der schwarz ist, wird daran gehindert auf die Toilette zu gehen und mit dem N-Wort beschimpft.
Die Szenerie wirkt zwar einerseits bedrohlich, andererseits aber auch unglaubwürdig, was auch daran liegt, dass die Figuren nicht authentisch wirken. Weder die vier Freunde noch die Rassisten im Dorf. Die Schikanen setzen sich fort, beim Kanuverleih, sogar bei den Schleusen, und die bedrohliche Stimmung legt sich auch auf die Vierer-Gruppe. 
Im Rückblick wird Amalias Leben aufgefächert, wir erfahren von ihrer Beziehung zu einem Ralleyfahrer, mit dem sie nach der Trennung von Josef zusammengekommen ist. Auch die schwierige Beziehung zu ihren Eltern wird herausgestellt. Sie ist die einzige Figur, deren Vergangenheit und Hintergründe beleuchtet werden, während alle anderen Figuren kaum Tiefe haben.
Da es bereits auf dem Klappentext steht, kann ich verraten, dass die Vier per Drohne eine Pistole erhalten. Sie sollen damit Josef erschießen, andernfalls werde Amalia von allen vergewaltigt und alle getötet.
Kurbjuweit unterwirft seine Protagonisten einem sozialen Experiment. Wie weit geht ihre Freundschaft? Sind sie selbst unterschwellig rassistisch? Halten sie zu Josef, sind sie bereit, sich selbst zu opfern?

Trotz dieser interessanten Konstellation und der damit verbundenen Fragen, hat mich die Handlung kalt gelassen, da sie völlig unglaubwürdig daherkommt. Die Vier haben durchgehend keinen Handyempfang, die Bedrohen wissen immer genau, wo sie sich aufhalten, machen regelrecht Jagd auf sie, während die Vier orientierungslos herumpaddeln. Das Ganze wirkt wie ein Kammerspiel, das trotz seiner Brutalität zumindest bei mir keine echte Betroffenheit auslösen kann.

In der Leserunde wurde diskutiert, ob man diesen kurzen Roman als Parabel lesen könnte. Meines Erachtens passt die Textsorte nicht, weil hier alles offen liegt und man letztlich überhaupt nicht nachdenken muss. Die Frage, wie hätte man selbst in der Situation gehandelt, ist natürlich berechtigt und auch wichtig. Dadurch, dass alles jedoch so unglaubwürdig geschildert wird, fällt es schwer, sich darauf einzulassen. Es wäre schön, wenn die Story subtiler erzählt worden wäre.
Doch leider ist die Handlung plakativ, holzschnittartig, die Figuren bleiben bis auf Amalia blass und wäre es keine Leserunde gewesen, hätte ich nach der Hälfte aufgehört zu lesen. Es hat mich nicht gepackt weder emotional noch intellektuell. Schade um die verlorene Lesezeit.


Freitag, 11. März 2022

Jon McGregor: Stürzen Liegen Stehen

"Lean Stand Fall"

Leserunde whatchaReadin

Ein Rätsel vorneweg, das wir auch in der Leserunde nicht lösen konnten, ist die deutsche Übersetzung des englischen Originaltitels, die die Reihenfolge der Verben abgeändert hat. Seltsamerweise passen die deutschen Verben jeweils besser zu den drei Abschnitten als das englische Original - vielleicht hat man es aus inhaltlichen Gründen vertauscht.

Zum Inhalt:

"Als der Sturm unerwartet losbrach, wurde Thomas Myers auf die Knie geworfen." (9)

Thomas befindet sich gemeinsam mit Luke Adebayo in der Antarktis. Die beiden sind Geoinformationswissenschaftler und sollen Fehler in der Vermessung des Küstenverlaufs beheben und das mit modernster Technik. Ihnen zur Seite steht Robert Doc Wright, der seit vielen Jahren Campleiter in der eisenoxidroten Station K ist. Zwei junge Hüpfer ein alter Hase.

"Robert >>Doc<< Wright hatte den Sturm kommen sehen, aber keine Zeit gehabt, die andern zu warnen. Der Nachmittag war nach Beendigung der GPS-Messungen des Tages Freizeitaktivitäten gewidmet gewesen. Die Abfahrt von der Schutzhütte Station K. war um 1300 erfolgt, und sie waren mit zwei Motorschlitten hinunter zur Küste gefahren, vorwiegend mit der Abschied, Thomas´ fotografischem Hobby nachzugehen." (21)

Weil man die Dimensionen in der Antarktis kaum auf Bildern festhalten kann, klettert Doc auf den Priestley Head, ein Unterfangen, das in der Art und Weise im Protokoll so nicht vorgesehen ist. Zudem befindet sich Luke, als der Sturm losbricht, an den Motorschlitten, so dass jeder auf sich allein gestellt ist.

Aus der jeweiligen personalen Perspektive der drei Figuren erleben die Leser:innen zu Beginn mit, wie unbarmherzig der Sturm die Männer an ihre Grenzen bringt. Im Bestreben das Richtige zu tun, fällt ihnen auf, dass es Widersprüche in der Ausbildung gibt. So ganz eindeutig sind die Routinen nicht, wenn ein Ernstfall Eintritt.

"Unterschlupf finden oder bauchen, sich nicht vom Fleck rühren, mit den Teamkollegen Kontakt aufnehmen, in Bewegung bleiben, Ruhe bewahren." (10)

Verzweifelt versuchen sie untereinander Funkkontakt aufzubauen und Station K wieder zu erreichen. Als Leser:innen tauchen wir jeweils in die Gedanken der Protagonisten und das so intensiv, dass man beim Lesen eine warme Wolldecke braucht. Gleichzeitig beschreibt McGregor aber auch die unglaubliche Schönheit der endlose, weißen Stille.

Innerhalb des ersten Abschnittes "STÜRZEN" wird auch im Rückblick von der gemeinsamen Zeit in Station K. erzählt. Die Männer vertreiben sich mit Kinderspielen die Zeit und Robert erzählt Anekdoten aus vergangenen Zeiten. Immer wieder wird deutlich, dass sich verschiedene Generationen gegenüberstehen. Erhellend ist der Dialog über die Manfood Box. In Roberts Augen sind Frauen nur dann akzeptabel, wenn man keinen Unterschied merke, sie seien dann „Männer ehrenhalber“ (58). Da spricht die alte Generation.

Während Luke und Thomas Fehler in der Vermessung korrigieren möchten, hatte Doc "ihnen mitgeteilt, das Wort Fehler gefalle ihm nicht. Jeder gibt hier sein Bestes, hatte er gesagt. Die Arbeitsbedingungen sind nicht die einfachsten." (56)

Statt dessen will er den Begriff Anomalien verwenden, der im 2.Abschnitt "LIEGEN" seine eigene Beziehung beschreibt. Seine Frau Anna, eine Professorin für Klimaforschung, sieht in ihrer Ehe ebenfalls eine statistische Anomalie, denn sie geht nach der Heirat und mit Kindern weiter ihrem Beruf nach und bewältigt den Alltag überwiegend alleine, während Robert die meiste Zeit des Jahres in der Antarktis verbringt.

Im 2.Abschnitt ändert sich der Fokus und erzählt wird aus Annas Sicht, die mitten in der Nacht vom Institut angerufen wird.

"Es geht um Robert. um Ihren Mann. Es tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Sie müssen bitte kommen."(101)

Wir erfahren, wie sie nach Santiago fliegt, Robert vorfindet, der nicht mehr sprechen kann und dessen motorischen Fähigkeiten stark eingeschränkt sind. Seltsamerweise hält sich das Institut sehr bedeckt, was die Ereignisse in der Antarktis betrifft und ein Teil des Romans geht der Frage nach, was wirklich dort geschehen ist und ob jemand Schuld an den Ereignissen trägt. Der Fokus verschiebt sich jedoch hin zu Roberts Unfähigkeit zu kommunizieren, sich verständlich zu machen. Es gelingt McGregor dies sprachlich so umsetzen, dass man förmlich selbst nach Worten ringt. Beeindruckend schildert er, wie auch Anna versucht mit den veränderten Lebensumständen zurecht zu kommen. Den letzten Abschnitt "STEHEN" fand ich zwar schwächer als die vorherigen, auch aufgrund der häufig wechselnden Perspektiven.
Insgesamt jedoch ein lesenswerter Roman, der als Abenteuergeschichte beginnt und dann völlig die Richtung ändert. Die Protagonisten sind authentisch und sensibel gezeichnet, ihre Handlungen nachvollziehbar, ihr Charakter differenziert ausgestaltet. Man leidet mit ihnen.

Ein echtes Lesehighlight, das neben der grandios erzählten Geschichte vor allem aufgrund der außergewöhnlichen Sprachvirtuosität begeistert.


Samstag, 26. Februar 2022

Gerard Donovan: In die Arme der Flut


 - Leserunde auf whatchaReadin

Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich zu Beginn völlig begeistert hat (1), dann jedoch stark abgefallen ist (2). Daraufhin leitet ein unerwarteter Twist ein geniales Zwischenspiel ein (3). Das Ende hingegen ist völlig unglaubwürdig und hinterlässt viele Fragezeichen (4).

Doch der Reihe nach:

(1) Luke Roy steht auf einer Brücke bei Ross Point in Maine und möchte hinunter in den Fluss springen, der direkt ins Meer mündet. Er ist 37 Jahre alt, lebt allein auf einem Hausboot, nachdem seine Eltern ihn, als er volljährig geworden ist, allein zurückgelassen haben, um eine Weltreise anzutreten, von der sie nie zurückgekehrt sind. Er arbeitet bei Enterprise Cheese, einer Fabrik, die Käse für Flugreisen portioniert und der einzige große Arbeitgeber in der heruntergekommenen Stadt ist.

Mit 14 Jahren ist er in einen Teich gefallen und fast ertrunken.

"Er beschloss, hier unten zu bleiben, weit weg von der Hektik dort oben. Das Leben war so nah, dass er loslassen konnte. Urplötzlich ergab sich die Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden, solange er noch glücklich war." (26)

"Am ersten sonnigen Tag des Sommers 1991 war Luke Roy dem Tod genauso nah gewesen wie dem Leben. Etwas Altes hatte ihn mit einem Traum angesteckt, der schwerelos war. Und dieser Traum würde ihm überallhin folgen." (30)

Diese Todessehnsucht verhindert, dass Luke sein Leben gestaltet. Er fristet sein Dasein in der Fabrik, hat fast keine Freunde und beschäftigt sich mit dem Thema Selbstmord. Als Jugendlicher versucht er sogar, sich an der Badezimmertür zu erhängen, was sehr intensiv beschrieben wird. Als Leser:in bekommt man förmlich keine Luft mehr beim Lesen. Wie genau der personale Erzähler die körperlichen Folgen des Sauerstoffmangels beschreibt und dann die Vorstellung, dass ein Urinstinkt, der Überlebensinstinkt ihn rettet. Das ist großartig erzählt. Ebenso wie die Situation auf der Brücke, in der die Landschaft viel Raum einnimmt, der aufsteigende Nebel, der nicht nur die Sonne verdeckt, sondern auch den Leser:innen eine klare Sicht nimmt, so dass man kaum trennen kann, was Realität ist und was sich in den Gedanken des Protagonisten abspielt.

Dieses zeitdehnende Erzählen beendet ein Unfall. Nachdem Luke gesprungen ist, sich jedoch am Geländer festgehalten und wieder hoch gehangelt hat, beobachtet er, während er sich von der Brücke entfernt, wie ein Boot kentert und ein Junge regungslos im Fluss treibt.

"Luke musste an diesem Morgen nur eines tun - sich umbringen, indem er von einer Brücke in einen Fluss sprang. Auch um den Jungen zu retten, muss er jetzt von der Brücke in den Fluss springen." (75)

Die Rettung gelingt und was daraufhin folgt ist gleichsam ein Possenspiel und eine unterhaltsame Satire auf die heutige Medienlandschaft.

+++ Spoiler +++

(2) Im weiteren Verlauf der Handlung trifft Luke zufällig auf Elena, deren Mann beim Versuch ein junges Mädchen aus dem gleichen Teich zu retten, in den auch Luke gefallen ist, ums Leben gekommen ist. Die darauffolgende Liebesgeschichte ist einerseits unglaubwürdig, andererseits nahe am Kitsch und will überhaupt nicht zum ersten Teil des Romans passen. 

(3) Der darauffolgende Twist hingegen verleiht der Handlung neuen Schwung, da Luke auf der Brücke vom Vater des Jungen erschossen wird, den Luke gerettet hat. Der religiöse Mann glaubt, Luke wolle sich umbringen und indem er ihn tötet, verhindert er, dass Luke in die Hölle kommt. Eine irre Logik, die dazu führt, dass der Roman im letzten Teil neue Protagonisten erhält und eine weitere Geschichte erzählt. Von Paul und seinem psychisch kranken Vater Bryce Fowler, der nach der Tat seinen Jungen, der in der Obhut seiner Großeltern lebt, aufsucht, um ihn zu "entführen". Er möchte, dass Paul sich seinem Vagabundendasein anschließt, ihn begleitet und der Dialog zwischen Vater und Sohn bilden eine Geschichte im Roman, die für sich gesehen, sehr eindrucksvoll ist. Auf wenigen Seiten entwirft Donovan das Porträt eines gescheiterten Mannes, der in seinen Wahnvorstellungen gefangen ist und keinen Ausweg mehr findet - hin- und hergerissen zwischen Zuneigung und Aggression, der jedoch dann völlig überraschend seinen Sohn gehen lässt. Warum bleibt offen.

(4) Natürlich findet ausgerechnet Paul die Leiche Lukes, was dann folgt, ist ärgerlich, unglaubwürdig und gleicht einer Komödie. Am Ende stirbt Paul, weil er in das Boot steigt, in dem Lukes Freunde ihn bestatten möchten. Mit der Strömung wird das Boot mit Paul und Lukes Leiche ins Meer gezogen...

+++

Der Roman hat einen starken Beginn - die ersten 70 Seiten bilden für sich eine gelungene Erzählung über einen gescheiterten Selbstmordversuch, sprachlich dicht und teils kafkaesk. Auch andere Teile des Romans, wie der Vater-Sohn-Dialog, sind überzeugend. Allerdings fehlt mir der rote Faden, was hält diese Teile zusammen? Der Todeswunsch, die Todessehnsucht? Welche Botschaft will mir Donovan vermitteln? Die Kritik an der Macht der Medien, die aus einem Menschen einen Helden formt, den dieser nicht spielen will? Wie passt das alles zusammen mit der Liebesgeschichte? Zu viele Fragen, die offen bleiben und die mich am Ende ratlos zurücklassen.

Fazit: Einige gute Teile ergeben zusammen nicht zwangsläufig ein stimmiges Ganzes.

Montag, 14. Februar 2022

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

 - "Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen" (192)

Leserunde auf whatchaReadin

Der Ich-Erzähler, Karsten Leiser, schickt die Leser*innen in seinem inneren Monolog auf eine Reise in die Vergangenheit, die von seiner Flucht in den Westen geprägt ist, welche ihn entwurzelt hat. Aus der fiktiven Stadt Plothow in der ehemaligen DDR flüchtet er als 10-Jähriger mit seiner Mutter nach Wildenburg und "sie hatte noch ein Jahr zu leben, auf den Tag genau, aber das wußte sie natürlich nicht, und der Junge auch nicht." (19)

Dieser Tag im Mai - Fluchttag und Todestag der Mutter - prägen ihn so, dass er jedes Jahr darauf zurückblickt  und jenem Tag eine besondere Bedeutung zumisst. 

"Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt es absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, daß mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre." (20)

Die Angesprochene ist Vera, seine Freundin (?), der er seine Geschichte erzählt, wobei diese zu Beginn assoziativ zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Auch verschiedenen Ortsnamen werden genannt, wie Anzio und Rom oder Inishmore (Irland). Diese kurzen Episoden verwirren zu Beginn, da man immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Erlebten erfährt, doch wie in einer Spirale tauchen alle Ereignisse wieder auf und wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen. Allerdings bleiben am Ende auch einige Fragezeichen offen.

Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Auftrag vom Redakteur des Ich-Erzählers, der fragt, "ob ich nicht einen Artikel schreiben wolle, einen Artikel über einen politischen Ort, er könne mir so viel Platz einräumen, wie ich brauchte." (10)

Sein Redakteur verwechselt ihn mit seinem Freund Götz, der durch die Welt reist und immer wieder zu seinem Dorf im Schwarzwald zurückkehrt, der im Gegensatz zum Ich-Erzähler eine Heimat hat, während Leiser ein "Entwurzelter" ist, der nicht mehr reisen kann und will. Stattdessen möchte er über die Landschaft seiner Kindheit schreiben und "daß sich diese Landschaft in mir festgefressen hatte wie eine Krankheit" (12).

Solange er noch reist, ist auf der Suche nach dieser Landschaft, nach Orten, die ihn an seine verlorene Heimat erinnern, aus der er abrupt gerissen wurde, weg vom Großvater und der Großmutter, dem "Breitschädel und der Eule".

Nach den ersten Assoziationen schildert der Ich-Erzähler ausführlich und in atmosphärischen Sprachbildern von der Zugfahrt mit seiner Mutter in den Westen, seiner Ankunft in Wildenburg, sein Wiedersehen mit dem Vater, der einen anderen Weg genommen hat, und sein vergebliches Bemühen eine neue Heimat zu finden. Und er erzählt von dem Tag, ein Jahr später, an dem die Mutter stirbt. Und von weiteren Tagen, die er in Anzio, Rom, Inishmore und Berlin verbracht hat.

Allerdings ist der Erzähler unzuverlässig, wie er selbst zu Beginn zugibt: "Log, lüge immer, wenn es um Wichtiges geht, dann ja." (19) So weiß man nicht immer, ob das, was erzählt wird, der Wahrheit entspricht. Befremdlich wirken einige Träume und auch Gewaltfantasien des Ich-Erzählers.

Obwohl der Roman sprachlich wirklich ein Genuss ist und Loschütz es meisterhaft versteht, atmosphärisch, fast lyrisch zu erzählen - "Ballade, vom Tag, der nicht vorüber ist" - hat er mich trotzdem nicht in seinen Bann gezogen. Das liegt einerseits an den vielen Sprüngen zu Beginn der Handlung, die ein Ankommen im Roman erschweren, andererseits am Protagonisten selbst, der zwar authentisch wirkt, mir aber in seiner Rückwärtsgewandheit, seinem ständigen Kreisen um sich selbst bis zum Schluss fremd geblieben ist. Es gelingt dem Autor nicht, mir diese Figur nahezubringen, daher erhält er von mir trotz der herausragenden Sprache, nur 3 Sterne.

Freitag, 4. Februar 2022

Sofi Oksanen: Hundepark

Leserunde auf whatchaReadin

Die Handlung des Romans setzt im Jahr 2016 in Helsinki ein. Im Prolog lernen wir die Ich-Erzählerin und Protagonistin Olenka kennen, die im "Hundepark" sitzt und eine Familie mit zwei Kindern beobachtet. Dabei gesellt sich eine weitere Frau zu ihr, die zunächst anonym bleibt.

"Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich sie gleich erkannt hätte und so klug gewesen wäre, das Weite zu suchen." (5)

Im Rückblick erfahren wir zunächst, dass Olenka im Jahr 2006 in das Dorf Oblast Mykolajiw (im Süden der Ukraine) zurückkehrt, in dem ihre Mutter, inzwischen Witwe, zusammen mit ihrer Schwägerin wohnt und dort vom Verkauf von Rohopium lebt. Olenkas Traum im Westen Model zu werden, ist gescheitert, so dass sie nun mittellos festsitzt und verzweifelt Arbeit sucht. Schließlich nimmt sie einen Job in einer Agentur an, die Frauen als Leihmütter und Eizellenspenderin an reiche, kinderlose Ehepaare vermittelt.  Ihre Herkunft aus einer Stadt, in der Kohle abgebaut wird, also einem "verschmutzten" Gebiet verhindert fast ihre "Benutzung" als Eizellenspenderin. Doch ihre Biographie wird, wie üblich in solchen Fällen, geschönt. Es gelingt ihr zur Koordinatorin aufzusteigen, so dass sie selbst Mädchen als Spenderinnen aussucht und dadurch die Wünsche kinderloser reicher Ehepaare zu erfüllen.

Die Handlung wechselt zwischen den Zeitebenen 2016 und den Rückblenden in Olenkas altes Leben. Nebenbei erfährt man im Roman einiges über die Geschichte der Ukraine und auch den Konflikt mit Russland.

In der Zeitebene 2016 stellt sich heraus, dass die Frau, die sich neben Olenka im Hundepark gesetzt hat, eines der Mädchen ist, die Olenka als Eizellenspenderin "aufgebaut" hat. Ihre enge Verbindung besteht darin, dass Darias und Olenkas Vater Freunde waren.

Inzwischen ist sie für Olenka, die ihr altes Leben hinter sich gelassen hat und als Putzfrau arbeitet, eine Bedrohung.

"Sie könnte mich, die Agentur, ihre alten Kunden, euch, überhaupt alle erpressen. Wollte sie mich an meine alte Chefin verkaufen? Würde das ihre letzte Rache sein?" (43)

"Ich wusste nicht, wer sich als Erster auf mich stürzen würde: meine ehemalige Chefin, du oder dein Laufbursche oder ihre alle zusammen als eine gemeinsame Front." (50)

Olenka richtet sich oft an ein "Du" - wer ist gemeint? Was hat sie getan, dass sie sich ein neues Leben in Finnland aufbauen musste? Warum ist sie geflohen, womit kann Daria sie erpressen? Was hat die Familie, die sie im Hundepark beobachtet, damit zu tun? Warum steht der "Hundepark" auf ihrer Liste der guten Dinge, für die es sich noch lohnt zu leben, an erster Stelle? Zahllose Fragen, die schrittweise beantwortet werden, wobei die Spannung bis zum Schluss hin aufrecht erhalten bleibt - ein echter Pageturner, der jedoch aufgrund der unterschiedlichen Zeitebenen und wechselnden Orte sehr komplex aufgebaut ist. Nicht immer leicht den Überblick zu behalten.

Den Roman jedoch nur als Thriller zu lesen, würde ihm nicht gerecht. Schonungslos schildert die Ich-Erzählerin, wie Frauen als Ware behandelt, regelrecht verkauft und ausgebeutet werden. Ein Thema, das mir in diesem Ausmaß überhaupt nicht bewusst war und das Oksanen eindrucksvoll in all seinen Facetten darstellt.

"Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde mir den Finger in den Mund stecken, um den Zustand meiner Zähne zu prüfen." (43)

Genau diese Untersuchung führen die zukünftigen Eltern durch, um die Tauglichkeit einer potentiellen Eizellenspenderin zu prüfen. Welche Folgen das für die Frauen hat, spielt keine Rolle. Sie werden benutzt, solange sie funktionieren. Am Beispiel Darias wird das besonders deutlich, während Olenka auch als Mittäterin auftritt. Trotzdem hat sie aufgrund ihrer Biographie und den Umständen, unter denen sie aufgewachsen ist und dem, was sie erlitten hat, meine Sympathie gewonnen. 

Ein brisanter Thriller, brillant geschrieben und absolut lesenswert!




Sonntag, 16. Januar 2022

Damon Galgut: Das Versprechen

Booker Prize 2021

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman spielt in Südafrika und die Handlung setzt im Jahr 1986 ein, in der Zeit, in der es allmählich zu einer Wende in der Apartheidspolitik kommt.
Doch auf der Farm, zu der die 14-jährige Amor, weil ihrer Mutter nach längerer Krankheit gestorben ist, zurückkehrt, sind die Schwarzen "offenkundig unsichtbar. Und auch was Salome empfindet, ist unsichtbar. (...) Aber Amor kann sie durchs Fenster sehen, also ist sie wohl doch nicht unsichtbar." (31)
Salome arbeitet seit Jahren für die Familie, hat die drei Kinder Anton, Astrid und Amor großgezogen und wohnt in einem windschiefen Haus, dem Lombard-Haus. Amor erinnert sich, während sie Salome im Zimmer ihrer Mutter Rachel sieht, daran, dass diese kurz vor ihrem Tod ihrem Mann Manie das Versprechen abgenommen hat, dass Salome das Haus erhalten soll - etwas, was rechtlich zu dieser Zeit noch nicht möglich ist.
Und doch erzählt Amor Lukas, Salomes Sohn davon und erinnert auch ihren Vater an "Das Versprechen".

Im Mittelpunkt des ersten Kapitels ("Ma") steht die Beerdigung Rachels, die zu ihrem jüdischen Glauben zurückgekehrt ist, worüber es in der christlichen Familie des Vaters Streit gibt.

Im Verlauf der Handlung begegnen wir der Familie Swart jeweils im Abstand von ca. zehn Jahren, das letzte Kapitel spielt im Jahr 2018. Anlass ist jeweils eine Beerdigung - so viel sei hier verraten. Neben Amor stehen vor allem ihr älterer Bruder Anton im Fokus sowie ihre Schwester Astrid. Von Amor selbst hätte ich gern mehr gelesen. Sie wird zu einer aufopferungsvollen Krankenschwester, die, so scheint es, eine Opferrolle einnimmt, jedoch zu schwach ist, um selbst aktiv gegen das Unrecht anzukämpfen.

Galgut erzählt vom Niedergang einer Familie, die stellvertretend für die weiße Gesellschaft Südafrikas steht. Beladen mit Schuld gegenüber denjenigen, die sie ausgebeutet haben, unfähig, sich mit den neuen Gegebenheiten zu versöhnen und Unrecht wieder gutzumachen.
Die Handlung bleibt jedoch bruchstückhaft, vieles wird angedeutet, Fäden aufgenommen, aber nicht zu Ende gesponnen, so dass man als Leser:in permanent die Lücken füllen muss. Trotzdem entfaltet die Erzählweise einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte.
Und das ist auch das Außergewöhnlichste an diesem Roman:

die Erzählstimme,
- die permanent in die Gedanken der unterschiedlichen Figuren schlüpft
"Amor will aber keine rusks. Sie hat keinen Appetit. Tante Marina backt ständig irgendwelche Sachen und will einen damit füttern. Ihre Schwester Astrid sagt, das macht sie nur, damit sie nicht als Einzige so fett ist, und es stimmt, ihre Tante hat zwei Kochbücher mit Teatime-Leckereien veröffentlicht, die bei einer bestimmten Sorte älterer weißer Frauen recht beliebt sind, wie man allenthalben deutlich sieht.
Naja, sinniert Tante Marina, wenigstens kann man mit der Kleinen vernünftig sprechen." (14)

- die auch Geister und Tiere berücksichtigt:
"Tojo, der Schäferhund, beobachtet ihr Kommen und Gehen (Rachels Geist) ohne Mühe, denn er hat nie gerne, dass das nicht möglich ist." (60)

- von für das Geschehen unbedeutender Nebenfiguren erzählt, z.B. von Bob, einem Obdachlosen, der vor einer katholischen Kirche lebt.
"Ich kann es dir nicht beweisen, aber er hatte einmal einen hochgezahlten Job und eine Existenz, die Achtung und Respekt verlangte." (252)
Wir begleiten Bob drei Seiten lang, "doch es gibt keinen Grund, ihn zu begleiten, und seien wir ehrlich es hat nie einen gegeben." (255)

Die Erzählstimme macht uns mit Ironie und Sarkasmus darauf aufmerksam, dass auch Menschen wie Bob gesehen werden wollen, ebenso wie jene, die vor den Beerdigungen die Leichen herrichten und diejenigen, die sich nach der Trauerfeier um sie kümmern.
Galgut stellt uns die Welt in ihrer Diversität vor - auch die unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen haben ihren Platz, indem diverse Priester und auch ein Yogalehrer zu Wort kommen.
Auch in skurrilen Situationen von denen man üblicherweise in Romanen nichts liest:
"Seltsam, dass die Leute kaum je über ihre Notdurft spreche, obwohl sie nämliche doch tagtäglich verrichten. Das Gehirn würde sie am liebsten ausblenden, trotz der Grundwahrheiten, die dann unten geäußert werden. Keine Romanfigur tut je, was er (der katholische Priester Timothy Batty) jetzt tut, sprich die Hinterbacken spreizen, um sich seiner Drangsal leichter entledigen zu können." (251)

Interessanterweise beschreibt Galgut am Ende seinen eigenen Roman implizit, indem er uns Antons Roman vorstellt, den dieser auf der Farm geschrieben hat.
"Namen und Details ändern sich von einem Absatz zum anderen (...) Ist das eine Familiensaga oder ein Farmroman? (...) Die verschiedenen Lebensphasen des Mannes, erzählt im Abstand von jeweils ungefähr 10 Jahre, sollen seine Entwicklung zum erwachsenen Mann nachzeichnen." (S.347)

Will Galgut die Geschichte Antons erzählen? Ist der Roman eine Familiensaga im Spiegel der politischen Entwicklung in Südafrika von 1986 bis heute, wobei wir die Familie immer nur anlässlich einer Beerdigung begleiten. Will er von den tiefen Gräben in der südafrikanischen Geschichte erzählen? Von verlorenen Träumen und verpfuschtem Leben? Ein Kaleidoskop aus allem, wobei die Leser:innen gefordert sind, sich die einzelnen Teile selbst zusammenzusuchen. 

Für mich ein Lesehighlight, ein ungewöhnlicher Roman, den ich nicht nur wegen der besonderen Erzählweise gerne weiter empfehlen möchte.




Donnerstag, 6. Januar 2022

F.Scott Fitzgerald: Die Schönen und Verdammten

 - eine Gesellschaftssatire.

Leserunde auf whatchaReadin

Der redselige auktoriale Erzähler stellt uns gleich zu Beginn den männlichen Protagonisten des Romans vor:

"1913 war Anthony Patch fünfundzwanzig, und bereits zwei Jahre zuvor hatte ihn - zumindest theoretisch - die Ironie, der Heilige Geist unserer Tage, berührt. (...) In dem Moment, da wir er ihn kennenlernen" (7).

Anthony ist ein klassischer Dandy. Während sein Großvater zu Reichtum gekommen ist, lebt sein Enkel von seinem Vermögen, ist also nicht gezwungen zu arbeiten, auch wenn er nicht wirklich über die Runden zu kommen scheint. Aber er kann auf ein beträchtliches Erbe vertrauen, das sein Großvater, der das "alte Amerika" verkörpert, ihm hinterlassen wird. Seine Eltern sind früh verstorben, so dass Anthony im Alter von 11 bereits Waise ist.
Der Erzähler schildert uns im Überblick seine Jugend, seine Zurückgezogenzeit, sein Studium, seine Reise nach Europa und seinen Aufenthalt in Rom.
1912 kehrt er nach Amerika zurück, da sein Großvater schwer erkrankt ist, und bleibt.

"Im Jahre 1913 war Anthony Patch Anpassung an die Welt nahezu vollzogen. "(16)

Wir erfahren, wie er seine Wohnung eingerichtet hat, mit besonderem Augenmerk auf seinem Badezimmer.
Im ersten Dialog zwischen Anthony und seinem Großvater beschreibt der auktoriale Erzähler dessen Alterungsprozess genial. Das Leben wird als Blasebalg geschrieben, das zunächst pralles Leben gewährt und dann "Wangen und Brust, Arme und Beine leergesogen (hat). Er hatte gebieterisch seine Zähne gefordert, einen nach dem anderen, seine kleinen Augen in dunkel-bläuliche Säcke gebettet, ihm die Haare geraubt, an manchen Stellen Grau zu Weiß, an deren Rosa zu Gelb verfärbt, rücksichtslos Farben tauschend wie ein Kind, das einen Malkasten ausprobiert." (23)

Während sein Großvater ihn auffordert etwas zu tun, gaukelt Anthony ihm vor, er schreibe ein Buch über das Mittelalter, obwohl er tatsächlich kaum ernsthaft daran arbeitet. Statt dessen verbringt er seine Tage und Abende mit seinen Freunden Dick Caramel, der tatsächlich einen Roman schreibt, und Maury Noble, der sich ebenfalls im Müßiggang übt.
Ihr erster Dialog ist wie ein Theaterstück gesetzt - ungewöhnlich, sogar mit Regieanweisungen.
Ungewöhnlich ist auch das Kapitel "Rückblende ins Paradies", in dem die Schönheit auf die Erde geschickt wird (nebenbei eine Satire auf die USA) und wahrscheinlich in der Gestalt von Gloria auftaucht,  Gloria Gilbert, Dicks Cousine, deren Bekanntschaft Anthony macht und die ihn bezaubert. Sie ist die weibliche Protagonistin des Romans und künftige Ehefrau Anthonys.

Gloria ist eine Narzisstin, die um sich selbst kreist, und von Männern Bewunderung verlangt. Nichtsdestotrotz verliebt sie sich in Anthony und beide erliegen der Illusion der perfekten Liebe.

"Sie waren die Stars auf dieser Bühne, von denen jeder nur für zwei Zuschauer spielte: Die Leidenschaft ihrer Gleisnerei schuf Tatsachen. Dies war die Quintessenz der Selbstverwirklichung doch war es wohl eher Gloria, die sich in dieser Liebe verwirklichte, während Anthony sich häufig vorkam wie ein gerade noch geduldeter Gast auf einem von ihr gegebenen Fest." (180)

Das 2.Buch beschreibt die Ehe der beiden, während im 3.Buch Anthony als Gefreiter eingezogen wird. Die Handlung ist insgesamt dürftig. Im Mittelpunkt stehen die beiden Protagonisten und deren ausschweifendes Leben. Zudem hat der Roman starke autobiographische Züge, im Nachwort von Tilman Höss stellt dieser fest, Fitzgerald "behandelte in (seinem) zweite(n) Roman, "The Beautiful and Damen" (1922), die ersten Jahre seiner Ehe.

Tragischerweise scheint der Roman eine Art selbst erfüllende Prophezeiung zu sein, wie es im Nachwort heißt. Die Probleme, mit denen das junge Paar konfrontiert wird, ereilen auch Fitzgerald und seine Frau Zelda - Alkoholismus, psychische Erkrankungen, Geldnot. Er zeigt "wie zwei Menschen im Überfluss ihr Leben vergeuden" (Nachwort, 614). Sie verkörpern einerseits das "neue" Amerika und andererseits gelingt es ihnen nicht, einen alternative Gegenentwurf zum "alten"Amerika zu leben. Ihr Lebensentwurf, der auf Konsum, Egoismus und Narzissmus basiert, ist nicht tragfähig.

Einen überraschenden Twist am Ende des Romans erwartet die Leser*innen, die sich durch eine beträchtliche Anzahl von Seiten gelesen haben. Kürzungen hätten diesem Klassiker gut getan. Insgesamt hat der Roman mich nur teilweise überzeugt, da er schlicht und ergreifend viel zu viele langatmige Passagen hat, zu wenig geschieht und die Figuren keine Entwicklung durchlaufen - das wiegt auch die Sprache nicht auf.

Vielen Dank dem Penguin Verlag für das Lese-Exemplar.