Montag, 14. Februar 2022

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

 - "Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen" (192)

Leserunde auf whatchaReadin

Der Ich-Erzähler, Karsten Leiser, schickt die Leser*innen in seinem inneren Monolog auf eine Reise in die Vergangenheit, die von seiner Flucht in den Westen geprägt ist, welche ihn entwurzelt hat. Aus der fiktiven Stadt Plothow in der ehemaligen DDR flüchtet er als 10-Jähriger mit seiner Mutter nach Wildenburg und "sie hatte noch ein Jahr zu leben, auf den Tag genau, aber das wußte sie natürlich nicht, und der Junge auch nicht." (19)

Dieser Tag im Mai - Fluchttag und Todestag der Mutter - prägen ihn so, dass er jedes Jahr darauf zurückblickt  und jenem Tag eine besondere Bedeutung zumisst. 

"Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt es absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, daß mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre." (20)

Die Angesprochene ist Vera, seine Freundin (?), der er seine Geschichte erzählt, wobei diese zu Beginn assoziativ zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Auch verschiedenen Ortsnamen werden genannt, wie Anzio und Rom oder Inishmore (Irland). Diese kurzen Episoden verwirren zu Beginn, da man immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Erlebten erfährt, doch wie in einer Spirale tauchen alle Ereignisse wieder auf und wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen. Allerdings bleiben am Ende auch einige Fragezeichen offen.

Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Auftrag vom Redakteur des Ich-Erzählers, der fragt, "ob ich nicht einen Artikel schreiben wolle, einen Artikel über einen politischen Ort, er könne mir so viel Platz einräumen, wie ich brauchte." (10)

Sein Redakteur verwechselt ihn mit seinem Freund Götz, der durch die Welt reist und immer wieder zu seinem Dorf im Schwarzwald zurückkehrt, der im Gegensatz zum Ich-Erzähler eine Heimat hat, während Leiser ein "Entwurzelter" ist, der nicht mehr reisen kann und will. Stattdessen möchte er über die Landschaft seiner Kindheit schreiben und "daß sich diese Landschaft in mir festgefressen hatte wie eine Krankheit" (12).

Solange er noch reist, ist auf der Suche nach dieser Landschaft, nach Orten, die ihn an seine verlorene Heimat erinnern, aus der er abrupt gerissen wurde, weg vom Großvater und der Großmutter, dem "Breitschädel und der Eule".

Nach den ersten Assoziationen schildert der Ich-Erzähler ausführlich und in atmosphärischen Sprachbildern von der Zugfahrt mit seiner Mutter in den Westen, seiner Ankunft in Wildenburg, sein Wiedersehen mit dem Vater, der einen anderen Weg genommen hat, und sein vergebliches Bemühen eine neue Heimat zu finden. Und er erzählt von dem Tag, ein Jahr später, an dem die Mutter stirbt. Und von weiteren Tagen, die er in Anzio, Rom, Inishmore und Berlin verbracht hat.

Allerdings ist der Erzähler unzuverlässig, wie er selbst zu Beginn zugibt: "Log, lüge immer, wenn es um Wichtiges geht, dann ja." (19) So weiß man nicht immer, ob das, was erzählt wird, der Wahrheit entspricht. Befremdlich wirken einige Träume und auch Gewaltfantasien des Ich-Erzählers.

Obwohl der Roman sprachlich wirklich ein Genuss ist und Loschütz es meisterhaft versteht, atmosphärisch, fast lyrisch zu erzählen - "Ballade, vom Tag, der nicht vorüber ist" - hat er mich trotzdem nicht in seinen Bann gezogen. Das liegt einerseits an den vielen Sprüngen zu Beginn der Handlung, die ein Ankommen im Roman erschweren, andererseits am Protagonisten selbst, der zwar authentisch wirkt, mir aber in seiner Rückwärtsgewandheit, seinem ständigen Kreisen um sich selbst bis zum Schluss fremd geblieben ist. Es gelingt dem Autor nicht, mir diese Figur nahezubringen, daher erhält er von mir trotz der herausragenden Sprache, nur 3 Sterne.