Mittwoch, 28. Dezember 2016

Mein Lesejahr 2016

- Leserunden, Lesen mit Mira, Lesevorlieben, Lieblingsliteratur.


Mein Lesejahr 2016 war besonders ereignisreich und das aus vielerlei Gründen. Einer davon ist meine Mitgliedschaft bei whatchareadin, die jetzt ein Jahr alt ist und die mein Leseverhalten maßgeblich beeinflusst hat und das sicherlich auch weiterhin tun wird.

Und das mit seinen Leserunden, angefangen mit Sam Millars "True Crime", an der der Autor sogar selbst teilgenommen hat, um unsere Fragen zu beantworten. Oder mit der großartigen Leserunde zu "Widerfahrnis", in der heftig über Sprache und Handlung diskutiert wurde.

Auch einen Roman wie "Hool" hätte ich sicherlich nicht ohne Weiteres lesen wollen, habe im Rahmen einer weiteren Leserunde dann doch zugegriffen und es nicht bereut. Für mich die größte Überraschung in diesem Jahr.
Der Austausch beim Lesemontag, die Genre- und Themenleserunden sorgen für immer neue Buchtipps und eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Lektüre.
So habe ich Ian McEwan, den ich den letzten Jahren etwas aus den Augen verlor, dank whatchareadin wiederentdeckt, sowohl durch die Tipps der anderen als auch in der Leserunde zu "Nussschale".

Nicht zu vergessen sind jedoch diejenigen, die dieses Forum am Leben halten, wie Helmut Pöll, den Adminstrator, und die vielen Blogger/innen, die ihre Leidenschaft fürs Lesen leben. Mit einigen von ihnen tausche ich mich regelmäßig aus, lese und teile ihr Blogs und folge ihren Bewertungen:

Renie´s Lesetagebuch, die mich erst zu whatchareadin geführt hat und mit der ich meine Vorliebe für den Louisoder-Verlag teile.

Annes Lesetagebuch, die meinen Fokus wieder stärker auf die Bücher gegen das Vergessen gelenkt hat.

Anne Parden, die Kriminalromane und Jugendromane gerne liest und deren Rezensionen mich schon sehr oft inspiriert haben, den entsprechenden Roman zu lesen.

Inas Bücherkiste, deren Rezensionen ein Lesegenuss sind.

Eine besondere Freundschaft hat sich mit Mira ergeben, mit der ich seit August auch gemeinsam lese, Lesen mit Mira, und die ich dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse getroffen habe. So war dieses Ereignis in zweierlei Hinsicht ein Highlight in meinem Lesejahr.


Lesevorlieben
Im letzten Lesejahr hat sich herauskristallisiert, dass ich meine Liebe für die Gegenwartsliteratur wieder gefunden habe - seit dem Studium habe dieses Genre berufsbedingt sträflich vernachlässigt. Inzwischen machen aber Romane aus diesem Bereich einen Großteil dessen aus, was ich lese, daneben bleibe ich den Krimis treu und habe ein Faible für Romane entwickelt, die eine Familiengeschichte über mehrere Generationen erzählen und dabei einen Einblick in die politische Geschichte gewähren - dazu gehören auch die Romane gegen das Vergessen, die ich besonders in unserer Zeit wieder und immer noch wichtig finde.
Da ich selbst zwei Kinder habe, bleibe ich der Kinder- und Jugendliteratur verbunden, etwas vernachlässigt habe ich dieses Jahr die Fantasyliteratur, aber der Tag hat eben nur 24 Stunden und leider verdiene ich mit dem Lesen kein Geld.
Seit gut einem Jahr habe ich auch ein Abo bei Audible, eine gute Gelegenheit unliebsame Tätigkeiten mit Literatur zu versüßen, so dass ich neben dem Lesen immer auch ein Buch höre - und manchmal gewinnt ein Roman auch durch die guten Vorleser/innen.



Lieblingsbücher 2016


Gegenwartsliteratur

Da ich aus diesem Genre so viele Bücher gelesen habe, fällt es mir wirklich schwer meine Favoriten zu benennen. Doch drei sehr unterschiedliche möchte ich besonders hervorheben.

1. Das Ende der Einsamkeit von Benedict Wells

Jules hatte einen Motarradunfall und liegt im Krankenhaus. In Rückblicken erfahren wir schrittweise sein bisheriges Leben. Seine Eltern sind früh verunglückt, so dass er mit seinen unterschiedlichen Geschwistern- Marty und Liz- als Jüngster zurückbleibt. Dieser Verlust prägt ihn. Während Marty ein erfolgreicher Geschäftsmann wird, verfällt Liz den Drogen und Jules findet keinen Weg ins Leben, bis er wieder auf seine große Liebe Alva trifft.
Eine Familien - und Liebesgeschichte, gefühlvoll ohne kitschig zu sein, die berührt und lange nachhallt.

2. "Widerfahrnis" von Bodo Kirchhoff
- Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016
Dem alternden Verleger Reither widerfährt eine unerwartete Reise mit Leonie Palm, die in der gleichen Wohnanlage für Senioren lebt wie er. Gemeinsam unternehmen sie eine Fahrt bis nach Sizilien und reisen letztlich in ihre eigene Vergangenheit.
Der Plot ist handlungsarm, trotzdem berichtenswert, aber die besondere Sprache Kirchhoffs, der das eigene Erzählen ironisch kommentiert, machen das Besondere dieser Novelle aus.

3. "Hool" von Philipp Winkler
Heiko ist ein Hooligan aus Hannover und im Roman erhält man als Leser/in einen Einblick in seine Welt. Da aus der Ich-Perspektive erzählt wird, ist man inmitten der Schlägerei, der unglücklichen Familienkonstellation, der Ausweglosigkeit und der Tragödien in Heikos Leben.
Trotz der ungefilterten Sprache mit Fäkal- und Kraftausdrücken besticht der Roman dadurch, dass er nachfragt, wie Heiko in diese Situation geraten ist, indem seine Vergangenheit schrittweise aufgedeckt wird.



Romane aus anderen Kulturkreisen

Eine überflüssige Frau von Rabih Alameddine
Ob sie eine überflüsslige Frau sei, diese Frage stellt sich die 72-jährige Aaliya Saleh, die allein in Beirut lebt. Im Roman reflektiert sie über ihr Leben - die Schwierigkeiten mit ihrer Familie, ihre misslungene Ehe, ihre Einsamkeit. Sie arbeitet in einer Buchhandlung und übersetzt jedes Jahr ein literarisches Werk, ohne dieses zu veröffentlichen - aus Liebe zur Literatur.
Ein großartiger Roman - eine psychologische Studie, ein Buch über Bücher, ein Einblick in das Leben im Libanon.

Zeitgeschichtliche Romane

Ab heute heiße ich Margo von Cora Stephan

Der Roman erzählt die Geschichte Deutschlands beginnend mit der NS-Zeit über die Wiedervereinigung hinaus am Beispiel zweier unterschiedlicher Frauen: Margo und Helene, die jedoch zeitlebens (ungewollt) verbunden sind.
Während Margo nach dem Krieg im Westen eine erfolgreiche Geschäftsfrau wird, tritt Helene in den Dienst der DDR, bis diese untergeht.
Der Roman erzählt sehr feinfühlig das Leben dieser beiden Frauen, von Margos Naivität während der Nazi-Zeit, von Helenes Erfahrungen in Ravensbrück, von den Wunden, die beide aus dem Krieg tragen und wie sie den Rest ihres Lebens damit umgehen.
Zeitgeschichte, die man miterleben darf, spannend und unterhaltsam präsentiert.

Kriminalromane

Die Nacht mit Nancy von Wilson Collison

Ein Landhaus, ein älteres Gastgeberpaar, zwei Ehepaare, eine alleinstehende Frau - Nancy- und ein Anwalt und ein Verbrechen?
Die junge, hübsche Nancy schreit des Nachts in ihrem Zimmer auf, als die Gastgeberin zu ihr eilt, findet sie dort die beiden Ehemänner und den Anwalt - ein Skandal in den 30er Jahren an der Ostküste der USA.
Akribisch rekonstruiert der Anwalt Jimmie Landon die Geschehnisse der Nacht und deckt dabei viele Geheimnisse auf, die nicht ans Licht hätten kommen sollen.
Eine ironisch erzählte Kriminalgeschichte, die mir beim Lesen viel Spaß gemacht hat und mit einer echten Überraschung am Ende aufwartet.

Fantasyromane und Lesen mit Mira

Der Zauberer von Oz von Frank L.Baum

Ein zauberhaftes Märchen über ein kleines Mädchen, das mit einem Sturm ins geheimnisvolle Land Oz getragen wird, dort treue Freunde findet und das Geheimnis des Zauberers von Oz aufdeckt.
Ein fantastisches Abenteuer, das Mira und mir sehr gut gefallen hat.

Dystopie

Mirror von Karl Osberg

Mirror ist ein Gerät, eine Art Smartphone, das dich begleitet. Der MirrorBrain, das Hauptelement, ist mit einem Clip im Ohr verbunden, der zuhören und auch sprechen kann. Eine Kamera umfasst dein Umfeld, ein Armband misst deine Körperfunktionen, auf dem Bildschirm der "Brille", erscheint dein eigenes Gesicht. Der Mirror sammelt Daten über dich und ist vernetzt im MirrorNet.
Entworfen, um dir das Leben angenehm zu machen, dir Ratschläge zu geben, dich zu begleiten, entwickelt sich die Technik schnell zu einem Alptraum, wie der Protagonist Andy feststellen muss.
Eine erschreckend realistische Dystopie, die sehr nachdenklich macht.

Romane gegen das Vergessen

Manja von Anja Gmeyner

Der Roman erzählt von fünf Kindern aus unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und spielt zu Beginn der Nazi-Herrschaft in Berlin. Vier Jungen - Heini Heidemann, ein sensibler Arztsohn, Harry Hartung, ein zarter Junge, dessen Vater ein erfolgreicher jüdischer Bankier ist, Karl Müller, Sohn eines Kommunisten, und Franz Meißner, dessen Vater ein Nazi ist - freunden sich mit dem jüdischen Mädchen Manja an. Sie ist es, die alle zusammenhält, und in ihrem gemeinsamen Spiel an einem geheimen Treffpunkt gehen die Kinder vollständig auf. Doch die politischen Verhältnisse zerstören ihre Idylle und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.
Ein sensibler Roman über eine außergewöhnliche Freundschaft in schrecklichen Zeiten.


Zum Schluss noch Statistik
Gelesene Bücher 2016: 85 Bücher






Sonntag, 25. Dezember 2016

Eugen Ruge: Follower

- Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel.

Gebundene Ausgabe, 320 Seiten
Rowohlt Verlag, 26. August 2016


Vielen Dank an den Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
Gelesen habe ich diesen Roman gemeinsam mit Mira und Anne, die jedoch abgebrochen hat. Mira hat fast bis zum Schluss durchgehalten.

Fünf Jahre nach seinem Erfolg "In Zeiten des abnehmenden Lichts", das die Geschichte der Familie Umnitzer parallel zum Untergang der DDR erzählt, hat Eugen Ruge nun einen Roman vorgelegt, der in der Zukunft spielt - im September 2055.
In 14 Kapiteln, die jeweils nur aus einem langen Satz bestehen, erzählt Ruge aus der personalen Perspektive Nio Schulz von dessem Verschwinden in einer medial überwachten Welt, was die Leser/innen mittels Ermittlungsprotokollen erfahren.

Nio ist der Enkel Alexander Umnitzers, der im Mittelpunkt des vorherigen Romans steht und der im Verlauf dieses Romans als bekannter Schriftsteller stirbt, wobei er sich dieser neuen vernetzten, kommerzialisierten Welt verweigert - ähnlich wie sein Vater Kurt den veränderten politischen Verhältnissen im wiedervereinigten Deutschland kritisch gegenübergestanden hat.

Inhalt

Nio Schulz weilt in HTUA-China, das wie der Rest der Welt in kommerzielle Sektoren eingeteilt ist, um die neueste Geschäftsidee seines Konzern anzupreisen: true barefoot running. Er wacht in seinem Hotelzimmer auf und stellt sich die Frage, ob er sich tatsächlich in der Realität befinde,

"besonders die unfarbenen Gardinen kamen Schulz auf einmal unecht vor, als gäbe es gar kein Fenster dahinter, schlimmer noch: als wären sie in Wirklichkeit gar nicht zu öffnen, Nachbildungen aus einem unbeweglichen Material, und dieser Eindruck wurde ihm so unangenehm, dass er das Licht gleich wieder ausschaltete, (...)" (S.8)

Nio greift nach seiner Glass, eine Art Brille, die das Smartphone ersetzt und vielfältige Informationen liefert: Gesundheitsdaten, Posts, Nachrichten, Anrufe, Informationen zur Umgebung.
Sie muss über den persönlichen Fingerprint aktiviert werden. Als die Aktivierung misslingt, spielt sich in Nios Kopf

"das komplette Horrorszenario der Totalsperrung seines Accounts ab(...), und dabei ging es nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um die konkreten Konsequenzen, (...) sondern um den Account selbst, um alles was verlorenginge, und das waren nicht nur ein paar tausend E-Mails und Fotos und Seminarmitschnitte, nicht nur sein Kalender und seine Kontakte sondern es war ein hochkomplexes und persönliches System, alle Apps und Settings, vom Begrüßungsjingle bis zur Nachrichtenübersicht, alle Playlists, Profile, Filter, Favoriten, seine Links zu Lieblingsseiten oder zu Lieblingsclips oder zu Lieblingsirgendwas (...) (S.39)

Die Glass entspricht seiner Identität - ohne diese hat er keine Ich. Nio selbst fällt auf, dass er, wenn er an vergangene Ereignisse wie einen Schulausflug oder einen Urlaub denkt, sich nur an die Fotos erinnern kann, aber nicht mehr an das Erlebte selbst.
Erinnert er sich jedoch an die Zeit, die er aus seiner offiziellen Biographie gelöscht hat - er hat eine Zeitlang die Band "Anderdok" gehört, die angeblich "Hate-Texte" produzierten, kann er sich plötzlich wieder an die Liedtexte erinnern:

"Ich bin jemand, der ich nicht bin
ich gehe, aber ich weiß nicht, wohin,
ich fühle, aber ich weiß nicht, was
ich will lieber tot sein als DAS" (S.45)

Nach dieser Vorausdeutung erfahren die Leser/innen, dass nach Nio gefahndet wird, da er verschwunden ist- Ruge streut "offizielle" Dokumente und Persönlichkeitsprofile von Nio und seinen sozialen Kontakten ein. Diese ermitteln aufgrund vielfältiger gesammelter Daten, wie Mobilität und Vernetzung einen Personen-Typus. Die totale Überwachung - selbst die Teile seiner Biographie, die Nio glaubt, gelöscht zu haben, sind den Behörden bekannt.

Auch die aktuelle Flüchtlingskrise findet Einzug in den Roman, denn die europäischen Grünen stimmen der Erweiterung des Transit-Schutzwalls zu, worüber Schulz erleichtert ist,

"denn seit irgendwelche Restwelt-Migranten, pardon, exzonale Asylbegehrende begonnen hatten, den Wall mit schwerem militärischem Gerät zu durchbrechen, war auch er insgeheim für die sogenannte technische Erweiterung gewesen" (S.55).

Nio selbst scheint in einer Krise zu sein. Seine Chefin hält ihn für "negertief", so spricht sie "negativ" aus und hat offenkundig ein Verhältnis mit seinem Geschäftspartner "Jeff", der über jenen Killerinstinkt und das positive Denken verfügt, das Nio abgeht, der von ständigen Zweifeln geplagt wird. Er ist einer Selbsthilfegruppe für besonders maskulin denkende Männer, denn die Welt wird beherrscht von politischer Korrektheit - political correct, "kurz p.c. oder, wie es in Schulz´ Kopf klang: pisi" (S.28).
So gibt es er/sie/trans und getrennte Fahrstühle für Männer und Frauen, statt zu sagen, sie habe ein "Sinti-und-Roma-Nase" müsste es eigentlich heißen "Nase der Sinti, der Roma, der Jenischen oder anderer ursprünglich zur Daueremigration gezwungenen Bevölkerungsgruppen Europas" (S.81).

Seine "Freundin" Sabena arbeitet für eine Dessous-Firma und sitzt in Minneapolis am Flughafen fest. Sie kann sich vorstellen - nach einem entsprechenden Gentest - mit Nio ein Kind zu bekommen, dass sie selbst austrägt, in einer Welt der Leihmütter und Männern, die Kinder gebären, eine neuer Trend. Eine Situation, die Nio offenkundig überfordert.

Es ist eine "schöne" , neue, aber gar nicht so unrealistisch erscheinende Welt, die Ruge vor uns ausbreitet und es gelingt ihm sehr überzeugend einen Eindruck zu vermitteln, wie sich ein Mensch unter der mulitmedialen Dauerberieselung fühlen muss:

"jetzt klingelt ihm eine Werbung für rezeptfreie Male-Power-Pillen in den Ohren, wieso wird das nicht als Spam identifiziert, fragt sich Schulz, @g-24 meldet, dass die Präsidentin der Weltbank Maxi Merkel-Shapiro jetzt wieder Max heißt, und @Fem Fatal sendet eine ihrer typischen Botschaften an @dpa Aboriginies = Ureinwohner = rassistisch, intoniert der Sprachassistent ein bisschen zu heiter, vergeblich um eine Satzmelodie bemüht, während Schul den riesigen Bildschirm betrachtet, der offenbar zu einem SB-Restaurant namens McBaker gehört (...) (S.158)

Sehr interessant ist das Genesis-Kapitel, in dem Ruge den Weg von der Entstehung des Universums bis hin zu Nio Schulz- mit detaillierten Angaben zu seinen Vorfahren, u.a. zu seinem Urgroßvater Kurt - schildert. In Kurzfassung, aber mit naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Fakten, die untermauern sollen, wie erstaunlich es ist, dass Nio überhaupt existiert.

Schulz versucht sich zunächst unbewusst dieser Welt zu entziehen, indem er einem für ihn erkennbaren Weg folgt (Follower), das 13.Kapitel gleicht einem apokalyptischen Szenario, wobei offen bleibt, ob das alles eben nicht nur ein (Alp-)Traum ist - ist Schulz nur ein fiktiver Enkel, wie es im Untertitel heißt - oder ob es ihm gelingen wird, in dieser total vernetzten, überwachten Welt einen eigenen Weg zu finden.

Bewertung
Der Roman ist eine echte Herausforderung beim Lesen, da man der Informationsflut, mit der Schulz konfrontiert wird, ausgeliefert ist. Hinzu kommen der innere Monolog Nios mit seinen teilweise sehr negativen Gedanken und Selbstzweifeln und die Tatsache, dass jedes Kapitel (mehrere Seiten) tatsächlich nur aus einem Satz besteht. Die Persönlichkeitsprotokolle sind mit Tabellen und Grafiken versehen, was den Lesefluss zusätzlich behindert.
Gleichzeitig vermittelt die Sprache diese neue Welt perfekt und offenbart Ruges genaue Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit exakt zu beschreiben - schließlich ist er diplomierter Mathematiker.
Die Handlung ist bis auf die Protokolle und das Genesis-Kapitel vollständig auf Nio konzentriert, so dass zwischenmenschliche Interaktionen eher dürftig sind, wir ganz in die Gedankenwelt Nios und seiner "Glass" eintauchen - was auch teilweise eine Herausforderung ist.
Andererseits scheint er teilweise aus dieser Zeit zu fallen, so trainiert er seinen Körper, statt Muskelimplantate zu verwenden. Er hat noch etwas Echtes. Sonst könnte er die Realität dieser Welt auch nicht anzweifeln. Aber ist er eine innerhalb des Romans reale Figur?
Interessanterweise erfährt Nio im Zusammenhang mit der Meldung über den Tod seines Großvaters, dass dieser einen Roman mit dem Titel "Follower" geschrieben habe. Und heißt es nicht im Untertitel - fiktiver Enkel? Der Roman - nur ein Gedankenspiel Alexander Umnitzers, seine Dystopie?

Für die dargestellte Welt spielt das jedoch keine Rolle - Ruge führt uns eine Realität vor Augen, wie sie in naher Zukunft möglich ist. Eine von Firmen beherrschte Welt, mit zerstörter Umwelt, so dass Klimabomben über dem entvölkerten Australien gezündet werden müssen. Einer Vernetzung und Informationsflut, die uns keinen Raum mehr lässt, zur Ruhe zu kommen. Selbst der Schlaf wird medikamentös eingeleitet, keine Natur nirgends. Ganz am Ende erinnert sich Nio an die vergangene Idylle zurück:

"er kann schlafen, schlafen,
Ferien,
die Tauben schweigen,
unten in der Küche klappert jemand mit dem Geschirr,
jetzt riecht es nach frisch gemähtem Gras,
und wenn man ganz still ist, 
wenn man die Luft anhält
dann hört man das leise Zing-Zing von Großvaters Sense." (S.320)

Ein Roman, der herausfordert, aber nachdenklich stimmt und eine mögliche Zukunft aufzeigt.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Tana French: Geheimer Ort

- ein spannender, psychologischer Krimi aus Irland.

Taschenbuch, 704 Seiten
Fischer Verlag, 29. Oktober 2015

Inhalt
Stephen Moran, der auch schon im 3.Fall der Dublin-Krimis ermittelt hat, ist inzwischen bei den ungelösten Fällen gelandet. Weil er damals selbst die Festnahme durchgeführt hat, statt das dem Morddezernat zu überlassen, hat sich dessen Tür für ihn verschlossen. Doch nun erhält er unerwartet die Chance, sie wieder zu öffnen.
Holly Mackey, die er im damaligen Fall als 11jährige Zeugin vernommen hat, Tochter des Undercover-Ermittlers Frank Mackey, besucht ihn, um ihm ein Bild zu geben, das an ihrer Schule am sogenannten Geheimnisort aufgehangen worden ist. Ein schwarzes Brett, an das die Mädchen des renommierten Mädcheninternats St.Kilda anonym ihre Geheimnisse heften können.
Das Bild zeigt den 16jährigen Chris Harper, der im Jahr zuvor im Park erschlagen wurde, darauf mit ausgeschnittenen Buchstaben: ICH WEISS, WER IHN GETÖTET HAT.
Trotz intensiver Ermittlungen ist es den Detectives im Morddezernat, Thomas Costello, inzwischen pensioniert, und Antoinette Conway nicht gelungen, den Fall aufzuklären. Ein Mauer aus Schweigen schlug ihnen entgegen.

Stephen gelingt es, dass Conway ihn zur Wiederaufnahme der Ermittlungen mit ans Internat nimmt und es scheint so, dass nur eine von acht Mädchen das Bild hätte aufhängen können.
Die erste Gruppe besteht aus dem Alpha-Weibchen Joanne, der hübschen Gemma, der verängstigten Alison und der dümmlich wirkenden Orla.
Zu der zweiten Vierergruppe gehören Holly selbst sowie ihre einstmals schüchterne Freundin Becca, die draufgängerische Julia und die sympathische, etwas abwesend wirkende Selena. Die vier Mädchen teilen sich jeweils ein Zimmer und sind beste Freundinnen.
Stephen versucht im Verhör jedem Mädchen gerecht zu werden, eine psychologische Studie der verschiedenen Typen - spannend und sehr unterhaltsam. Er macht seine Sache gut und beeindruckt Conway. Doch es fällt beiden auf, dass die Gruppe um Holly  ein Geheimnis umgibt, nach Aussage der anderen sind sie durchgeknallt. Doch ihr Verhalten hat eine andere Ursache, die hier nicht verraten werden soll.

Abwechselnd werden die Ermittlungen aus der Ich-Perspektive Stephens erzählt und aus der Sie-Perspektive die Erlebnisse der 4-er Gruppe um Holly, beginnend acht Monate vor dem Mord an Chris, der angeblich mit Selena verabredet war. Zu Beginn jedes Kapitels, das aus dem Leben der Mädchen erzählt, steht die Information, wie lange Chris noch zu leben hat, das erzeugt eine zusätzlich Dynamik und Spannung.So ergeben beide Handlungsstränge ein immer differenziertes Bild, wie es zu dem Mord gekommen ist.
Der Handlungsstrang der Ermittlung umfasst nur einen Tag im Internat und ist geprägt von den Mutmaßungen des Duos, das allmählich zu einem Team zusammenwächst. Immer wieder werden die einzelnen Mädchen verhört und es stellt sich heraus, dass einige von ihnen in einem engeren Verhältnis zu Chris gestanden haben, als sie bei den Ermittlungen vor einem Jahr zugegeben haben. Warum haben sie geschwiegen? Was ist in der Nacht wirklich geschehen? Der Kreis der Verdächtigen schrumpft immer weiter und mit Einbruch der Nacht gelingt es den Ermittlern den Fall zu lösen.

Bewertung
Tana French ist für mich eine Meisterin der Spannung, dabei geschieht überhaupt nicht viel. Im Mittelpunkt stehen die Gespräche mit den Zeugen und möglichen Verdächtigen, die Mutmaßungen der beiden Detectives, wobei wir auch Anteil an den Gedanken Stephen Morans haben und an seinem Bestreben unbedingt Teil der Morddezernates zu werden - also seinen Job im Internat gut zu machen. Dabei versucht er für sich einen Weg zu finden, seiner Partnerin gleichzeitig zu imponieren, gute Arbeit zu leisten, ihr gleichzeitig aber zu signalisieren, dass er gerne mit ihr zusammen arbeiten will, obwohl sie zunächst sehr unzugänglich scheint.
French hat eine Vorliebe für die Lebenssituation junger Heranwachsender, ihre Gedanken und Gefühle, ihre Sorgen und vor allem die erste Liebe und die Freundschaft, die eine ganz besondere Rolle in diesem Krimi spielt. Wie weit würde ich gehen, um meine Freundinnen zu beschützen? Wie wichtig ist unsere Freundschaft? Um diese Fragen kreist der Roman und er endet daher auch nicht mit der Verhaftung, sondern erzählt aus der Sicht der Mädchen auch von der Zeit nach Chris Tod bis zu Hollys Gang zum Polizeipräsidium.
Schon in den Vorgängerromanen, vor allem im 2.Fall beweist Tana French meisterhaft, dass sie sich in die Lage dieser jungen Mädchen und Jungen herein versetzen kann. Wenn Stephen die Gefühle während der ersten großen Liebe rekapituliert, die diese Mädchen umgibt, möchte man am liebsten sagen, genau so war es. So ist dieser Krimi auch eine psychologische Studie, die Motive für die Handlung stehen im Vordergrund - Aktion gibt es kaum, aber man vermisst sie auch nicht. Ein bemerkenswerter Roman, den ich unbedingt weiterempfehlen kann.


Montag, 19. Dezember 2016

Jane Gardam: Eine treue Frau

"Du darfst mich nicht verlassen."

Hörbuch
gelesen von Eva Mattes
7 Std. 1 Min.



Der zweite Teil der Edward Feathers Reihe, nach "Ein untadeliger Mann", den man nicht zwingend vorher gehört bzw. gelesen haben muss.

Inhalt
Stehen im ersten Teil vor allem Edward Feathers, genannt Old Filth, und die schrittweise Annäherung an seine Kindheit und das schreckliche Geheimnis in Wales im Mittelpunkt, ist es dieses Mal seine Frau Elisabeth (Betty).

Ausführlich wird geschildert, wie Edward die unkonventionelle Betty, die selbst in Fernost aufgewachsen ist und in einem Lager der Japaner war, in dem ihre Eltern gestorben sind, bittet, seine Frau zu werden. Zunächst schreibt er ihr, da ist er auf dem Weg von England nach Hong Kong, wo sie sich gemeinsam mit Isabelle Ingoldby, einer Schulfreundin, aufhält. Isabelle erzählt Betty von dem amourösen Abenteuer mit Edward, der erst nach Bettys Tod erfahren wird, dass sich die beiden kannten.
Als die beiden zusammentreffen, besteht Betty darauf, dass er ihr auch mündlich einen Heiratsantrag macht. Edward tut dies in seiner untadeligen Art auf einer Yacht (ein Empfang, auf dem er eingeladen ist) - ohne Leidenschaft und mit der ihm eigenen Sachlichkeit. Verknüpft an seine Frage ist das Versprechen, ihn niemals zu verlassen. Sein ganzes Leben sei bisher von Verlusten geprägt und er könne es nicht ertragen, noch einmal verlassen zu werden.
Betty willigt ein, seine Frau zu werden und lernt unmittelbar darauf Edwards beruflichen Rivalen Terry Veneering kennen. Eine Stunde zu spät, wie sie lakonisch feststellt.
Veneering ist mit einer Chinesin verheiratet und hat einen kleinen Sohn, Harry, mit dem sich Betty anfreundet. Als sie am nächsten Morgen erfährt, dass Harrys Flugzeug, das ihn nach England ins Internat zurückbringen sollte, abgestürzt ist, eilt sie panisch, fast schon hysterisch zu Veneerings Hotel, wo sie glücklicherweise erfährt, dass Harry das Flugzeug verpasst hat.
Da Edward sich  nicht meldet, nimmt sie Veneerings Einladung an und verbringt mit ihm eine unvergessliche Nacht. Erst ganz am Ende erfährt man, wo Feathers in dieser Zeit gesteckt hat.
Lange überlegt sie, ob sie Edwards Heiratsantrag nicht doch noch ablehnen soll, vor allem nachdem Albert Ross, Edwards bester Freund, ihr eröffnet, dass er von ihrem Abenteuer weiß.
Sie verbringt einige Zeit bei ihrer Schulfreundin Amy, die Missionarin geworden ist, und entschließt sich letztlich doch, Edward zu ehelichen.
Sie unternehmen eine lange Hochzeitsreise - quer durch Asien bis nach Europa und Betty ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. Erzählt wird ihre ersten Zeit in London, in einer winzigen Wohnung und wie Betty allmählich das Zepter der Familie in die Hand nimmt.
Nach einer Fehlgeburt stellt sich heraus, dass sie Krebs hat und in London die Gebärmutter entfernt bekommen muss. Gleichzeitig wird auch Harry dort operiert, er hat ein Tumor ein Bein. Betty kümmert sich um ihn und trifft erneut mit Veneering zusammen, der ihr jene Perlen daraufhin schenkt, die sie im ersten Teil schon ihre Schandperlen nennt und die im Tulpenbeet vergraben werden. Es klärt sich in diesem 2.Teil auf, ob Edward jemals den Unterschied der beiden Perlenketten bemerkt hat.
Die Zeit nach der Operation verbringt Betty lange allein in jenem Haus in Dorset, das sie später mit Edward kaufen wird. Ein Wendepunkt in ihrem Leben. Dort findet er sie und dieses Ereignis ist es auch, auf das er ganz am Ende des Romans wieder zurückblickt.
Die Zeit in Hong Kong wird in wenigen Episoden erzählt, statt dessen werden die Ereignisse in Dorset, wie sie auch im ersten Teil geschildert werden, nun aus Bettys Sicht erzählt. Der Anruf Veneerings, dass Harry gestorben ist, die gemeinsame Fahrt nach London mit Edward...
Das wirft auf einige Ereignisse ein neues Licht. Sehr bewegend ist ihre Todesszene.

Das witzige Zusammentreffen zwischen Feathers und Veneering wird dieses Mal aus der Sicht Terrys erzählt, was es nicht weniger komisch macht und den untadeligen Mann in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt.

Bewertung
Der Roman ist ebenso überzeugend wie der erste. Besonders interessant ist, dass einige Ereignisse noch einmal erzählt werden, allerdings aus einer anderen Perspektive. Dadurch erhalten sie eine neue Bedeutung und als Hörer/in erschließt sich manches aus dem ersten Teil, was offen geblieben ist. Standen im ersten Roman eher die Traumatisierung der Raj-Waisen und Feathers Kindheit im Mittelpunkt, so sind es jetzt die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Ehe und das Dreieck: Edward, Betty und Terry.
Die Entscheidung für Edward und immer wieder die Frage, ob sie ihn nicht doch verlassen soll, bestimmt Bettys Leben. Hat sie das Leben geführt, das sie wollte? War sie am Ende nicht nur ein Kopie einer Oberschicht-Lady? So wie sie an ihrer Hochzeit ihre Mutter kopiert hat? Hat sie ihren Traum gelebt?
Vielleicht liefert der letzte Roman weitere Antworten. Dass die vorsichtige Annäherung und Aussprache zwischen den beiden alten Rivalen am Ende steht, verweist wahrscheinlich schon auf den nächsten Band, "Letzte Freunde".
Definitiv mein nächstes Hörbuch!


Freitag, 16. Dezember 2016

Patrick Süskind: Die Taube

- eine psychologische Erzählung.

Taschenbuch, 100 Seiten
Diogenes Verlag, erschienen 1987

Vielen Dank an meine Lesefreundin Mira, die mir diese Erzählung geschenkt hat.

Inhalt

"Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, daß ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Welsentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod." (S.5)

Mit nur wenigen Sätzen umreißt der Erzähler das tragische Leben des Protagonisten, dessen Eltern als Juden im 2.Weltkrieg aus Frankreich deportiert wurden, so dass Jonathan gemeinsam mit seiner Schwester im Süden auf dem Bauernhof seines Onkels aufwächst. Anfang der 50er Jahre schickt ihn dieser zum Militärdienst, er wird nach Indochina verschifft und dort verletzt. Als er zurückkehrt, ist seine Schwester nach Kanada ausgewandert.
Er soll verheiratet werden, doch seine zukünftige Frau verlässt ihn vor der Hochzeit, da ist sie von einem anderen schwanger.
Diese tragischen Ereignisse werden in sachlichem Ton kurz und knapp zusammengefasst und gipfeln in Jonathans Erkenntnis:
"daß auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt." (S.8)

So trifft er seine erste eigene Entscheidung und zieht nach Paris. Dort mietet er sich eine winzige Mansarde, in der er heimisch wird und tritt eine Stelle als Wachmann einer Bank an. Täglich öffnet er dem Direktor der Bank das Tor, salutiert, während der Wagen vorüber fährt und verabschiedet ihn. In fünf Monaten kann er von seinem Ersparten endlich seine winzige Wohnung sein Eigentum nennen, alles verläuft nach seinem fatalistischen Plan - bis eines Tages jene Taube im engen Gang für seiner Tür sitzt:
"Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt und glotzte Jonathan mit ihrem linken Auge an. Dieses Auge, eine kleine, kreisrunde Scheibe, braun mit schwarzem Mittelpunkt, war fürchterlich anzusehen. Es saß wie ein aufgenähter Knopf am Kopfgefieder, wimpernlos, brauenlos, ganz nackt, ganz schamlos nach außen gewendet und ungeheuer offen; zugleich aber war da etwas zurückhaltend Verschlagenes in dem Auge" (S.15)

Die Taube und ihr Blick - ein Symbol für all das, was Jonathan sein Leben lang verdrängen will? Ein Blick in sein Inneres, auf das Verlassensein, seine tiefe Einsamkeit? Sie blickt ihn schamlos an, sieht ihn - erkennt ihn und sein Leben.
Fast traut er sich nicht mehr hinaus, ist nicht in der Lage sich seinem Leben zu stellen. Meisterhaft beschreibt Süskind in zeitdehnendem Erzählen und der ihm so eigenen Beobachtungsgabe, die alle Sinne umfasst, wie Jonathan sich durch seinen Tag quält. Wie plötzlich alle Selbstverständlichkeiten durcheinander geraten, wie das endlose Stehen vor der Bank, das gleichzeitig sein Leben widerspiegelt. Stillstand, keine Veränderung, Kontrolle und Disziplin gegen die Unwägbarkeiten des Lebens; der immer gleiche Tagesablauf als Schutz vor Verletzungen und dem erneuten Verlassen werden.
Doch die Taube hat seine Welt auf den Kopf gestellt:

"Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, so daß sie die Säule berührten. Dann ließ er sich sachte zurückfallen, gegen die eigenen Hände und gegen die Säule, und lehnte sich an, zum ersten Mal in seiner dreißigjährigen Dienstzeit. Für ein paar Sekunden schloß er die Augen. So sehr schämte er sich." (S.51)

Seine Panik geht so weit, dass er in einem Hotel übernachtet, bis ein reinigendes Gewitter, das großartig beschrieben ist, ihn rettet.

Bewertung
Auf der Rückseite des Buches ist eine Rezension des Rheinischen Merkurs abgedruckt:

"Ein rares Meisterstück zeitgenössischer Prosa, eine dicht gesponnene, psychologisch raffiniert umgesetzte Erzählung."

Treffender lässt sich die Erzählung nicht bewerten. Meisterstück für mich vor allem wegen der genauen Beschreibung der inneren und äußeren Vorgänge Jonathans. Sein körperliches Unwohlsein, seine Ängste beim Anblick der Taube, seine Unsicherheit, das ist als Leser/in unmittelbar erfahrbar. Alle Sinne werden angesprochen, das ist Süskind, so wie ich ihn auch aus dem Roman "Das Parfüm" kenne.
Der Schutzpanzer, den sich der Protagonist über Jahre aufgebaut hat, wird seziert und am Ende erfolgreich aufgebrochen.

Eine kurze Erzählung, die nachdenklich stimmt und beim Lesen viel Freude schenkt.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Angelika Felenda: Der eiserne Sommer

- ein historischer Kriminalroman.


Taschenbuch, 435 Seiten
Erschienen im Suhrkamp Verlag am 12. September 2016


Vielen Dank an den Suhrkamp-Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Inhalt
Der Roman spielt in München, am Vorabend des 1.Weltkrieges. Während in Sarajewo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie verübt wird, geschieht am Isarufer ein Mord.
Die Ermittlungen leitet der junge Kommissär Sebastian Reitmeyer, der ursprünglich Jura studiert hat, aufgrund des Todes seiner Eltern jedoch gezwungen war einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Er lebt bei seiner Tante und radelt immer zum Dienst.
Während seiner Ermittlungen stößt er auf seinen Jugendfreunde Sepp Leitner, Anwalt und politisch links aktiv, der ihn spontan zu einer Soiree im Haus von Dohmbergs einlädt.

"Zu den Dohmbergs? Nein. Auf gar keinen Fall! Er zog die Schultern hoch und ließ sie schwer ausatmend wieder sinken. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen. Früher einmal, als Gymnasiast und als Student der Jurisprudenz, war er in solchen Häusern ein und aus gegangen. So auch bei Ludwig von Dohmberg, einem hohen Tier im Justizministerium und mit einer englischen Adligen verheiratet. Damals war er mit den beiden älteren Kindern befreundet gewesen, mit Lukas, mit dem er gemeinsam Geigenunterricht hatte, und seiner Schwester Caroline (...)" (S.49)

Letztere trifft er in der Gerichtsmedizin, sie ist es, die ihm mitteilt, der junge Mann vom Isarufer sei einer seltsamen Stichverletzung - Medulla-Stiche genannt, zum Opfer gefallen. Eine Verletzung, die an der Halsschlagader zu sehen ist und nur von Kundigen ausgeführt werden kann.
Das Opfer Hubert Neugebauer hat offensichtlich hochrangige Offiziere und den bekannten Kunstmaler von Rager erpresst - mit brisantem Fotomaterial, auf dem homoerotische Akte zu sehen sind. Am liebsten würde das Polizeipräsidium den Fall verschwinden lassen, doch Reitmeyer und vor allem sein junger, recht eigenwilliger Polizeischüler Rattler lassen sich nicht ohne Weiteres von den Ermittlungen abhalten. (Rattlers visionäre Ansichten über zukünftige Polizeiarbeit treffen dabei meist ins Schwarze.)

Auch der zweite Tote, ein Masseur aus dem noblen Hotel Regina, das für entsprechende Zusammenkünfte bekannt ist, scheint in eine Erpressergeschichte verwoben zu sein.

Carolines und Lukas jüngerer Bruder Franz, der bei der Leibgarde dient, hat zumindest das erste Opfer gekannt und dem 2. Opfer Zahlungen geleistet. Somit gehört er zum Kreis der Verdächtigen...

Neben der Ermittlungsarbeit Reitmeyers erhält der Leser Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen eines Offiziers. Anscheinend hat das Kriegsministerium ihn angeheuert:

"Offensichtlich ist das Treiben gewisser Offiziere der militärischen Führung nicht verborgen geblieben. Da ich das Umfeld kenne, ist man von oberer Stelle an mich herangetreten. Nur aus Pflichtgefühl gegenüber meiner Nation habe ich mich bereit erklärt, den Aufrag anzunehmen. Ich soll beobachten und berichten. Meine Auslagen werden erstattet." (S.13)

Doch jener Offizier steckt selbst in finanziellen Schwierigkeiten und nutzt seine Erkundigungen dazu, diese zu minimieren. Dabei wird in den Aufzeichnungen immer so viel verraten, wie der Kommissär bereits herausgefunden hat.

Mit allen Mitteln will das Militär kurz vor der zu erwartenden Kriegserklärung Österreichs an Serbien verhindern, dass es in Misskredit gerät. Die Polizei darf per Gesetz nicht gegen das Militär ermitteln und soll möglichst seine Ermittlungsergebnisse für sich behalten - im Gegenteil, Reitmeyer wird geradezu ermutigt einen Mantel des Schweigens über alles zu breiten.
So viel sei verraten, mit unkonventionellen Methoden gelingt es ihm trotzdem den Fall zu lösen und das Ende wartet mit einigen Überraschungen auf.

Bewertung
Ein spannender Krimi, der gleichzeitig einen interessanten Einblick in die politisch angespannte Lage und das Leben in München kurz vor Ausbruch des 1.Weltkrieges bietet.
Faszinierend sind die Möglichkeiten und Methoden der Polizeiarbeit vor rund 100 Jahren, die ohne die technischen Errungenschaften des 20. und 21.Jahrhunderts auskommen mussten - keine Computer, keine DNA-Analyse, statt dessen Verbrecherkarteien und Fingerabdrücke. Auch die Pathologen hatten mit widrigen Umständen zu kämpfen, so beschreibt Kommissär Reitmeyer eindringlich den Gestank im Sommer, gelobt seien die heutigen Möglichkeiten der Kühlung.

Nichtsdestotrotz wird auch in diesem Krimi der Fall mit entsprechender Kopfarbeit gelöst und offenbart am Ende eine überraschende Lösung mit machtpolitischem Hintergrund.
Die Einbettung dieses brisanten Kriminalfalls - der heutzutage in der Klatschpresse landen würde - in seinen historischen Kontext zu einer Zeit, in der Homosexualität verboten war und gegen das Militär nicht ermittelt werden durfte, zeichnet diesen Krimi aus und bereitet ein besonderes Lesevergnügen.
Und weckt hohe Erwartungen an den Folgeband "Wintergewitter" , der bereits erschienen ist.


Buchtrailer


Erinnert hat mich der Kriminalroman an die Reihe von Volker Kutscher um seinen Kommissar Gereon Rath. Diese spielen jedoch in Berlin und sind angesiedelt in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus bis hin deren Machtergreifung. Beide Kommissare sind vom Charakter her recht eigenwillig angelegt, doch die Parallelitäten zeigen, dass die Verknüpfung von Kriminalroman und Geschichte eine erfolgreiche Kombination ist und entsprechendes Publikum findet.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Philipp Winkler: Hool

- eine aufschlussreiche Milieustudie und ein beeindruckender Debütroman.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 310 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
Erschienen am: 19.September 2016
ISBN-13: 978-3351036454

Vielen Dank an den Aufbau Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar im Rahmen der Leserunde auf Whatchareadin zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Heiko ist ein Hooligan, der unter der Führung seines Onkels Axel und gemeinsam mit seinen Jugendfreunden zu Matches fährt, um sich mit anderen Gruppen zu schlagen. Ziel ist es, dass möglichst viele der eigenen "Mannschaft" oben bleiben, wer am Boden liegt, hat verloren. Nachgetreten wird nicht, selbst unter den Hooligans scheint es so etwas wie einen Ehrenkodex zu geben. Verbindendes Element zwischen den Hooligans ist die Zugehörigkeit zu einem Fußballclub - Heiko gehört zu Hannover 96. Zuerst Stadion, wo jeder nach einer hierarchischen Ordnung einen Platz hat, dann Kämpfe, obwohl diese auch ohne entsprechende Fußballspiele abgemacht werden.

Wie gerät man in dieses Milieu? Heikos Mutter hat die Familie verlassen und seine ältere Schwester Manuela, ihn und ihren arbeitsunfähigen Mann Hans zurückgelassen, um eine neues Leben zu beginnen. Ein Verlust, der tief sitzt, über den Heiko aber nicht sprechen will.
In den regelmäßigen Rückblenden fächert sich allmählich Heikos Vergangenheit auf. Ist man zu Beginn noch angewidert von seiner Lust an der Gewalt und seiner derben Sprache, so empfindet man allmählich Verständnis für den Ich-Erzähler.
Heiko hat es wirklich nicht leicht gehabt: Der Verlust der Mutter, die Alkoholsucht seines Vaters, der ihn wohl auch geschlagen hat, die neue "Mutter" Mie, die Hans von einer Urlaubsreise aus Thailand "mitgebracht" hat und die ein Schattendasein im Haus fristet. Seine Freundin Yvonne, die er sehr mag, hat ihn wegen ihrer Drogenprobleme verlassen. Nur seine Schwester hat scheinbar den Absprung geschafft und versucht sich als Lehrerin mit Mann und Kind eine bürgerliche Existenz aufzubauen, auch wenn ihre Vergangenheit sie sehr belastet:

">Heiko. Ich hasse Mama dafür. Ich hasse sie dafür, dass sie einfach abgehauen ist. Ich hasse sie dafür, dass wir ihr so egal sind.< Ich wollte ihr sagen, dass es mir ähnlich geht. Dass das keine Familie ist. Und auch nie eine war. Jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte, war sie das nicht. Ich wollte Manuela sagen, dass sie meine Schwester ist. Ich meine; natürlich ist sie das. Aber eigentlich wollte ich damit noch etwas anderes sagen. Statt all dem und noch mehr, was ich vielleicht hätte sagen können, sagte ich aber gar nichts. Denn ich bekam die Schnauze mal wieder nicht auf." (S.54)

So muss sich Heiko eine Ersatzfamilie suchen. Er lebt bei Arnim, der wegen Mord im Gefängnis war und Kampfhunde sowie einen Geier hält und in einem heruntergekommenen Haus im Außenbereich der Stadt lebt. Mit den Tierkämpfen verdient er sein Geld, was Heiko anwidert. Gegenüber Tieren erlaubt er sich Fürsorglichkeit, auch wenn er die Tauben füttert, während sein Vater in der Reha-Klinik ist.
Sein Geld verdient Heiko im Wotan Boxing Gym, der seinem Onkel Axel gehört.

"Die Klientel besteht hauptsächlich aus mindererfolgreichen Kampfsportlern, Atzen aus dem Security-Bereich und Bikern. Und leider auch so einigem an rechtem Gesuchs. Muss man sich natürlich auch nicht wundern, wenn man sein Gym nach einem germanischen Gott benennt. Wenn ich das Sagen hätte, dann würde hier keiner von den Glatzen reinkommen. Nur hab ich hier so gut wie gar nichts zu melden, so als Mädchen für alles." (S.35)

Neben seinem Onkel bilden vor allem seine Freunde Kai, Ulf und Jojo seinen Rückhalt. Kai scheint aus gut situiertem Haus zu stammen und studiert, was ihn nicht davon abhält, zu trinken und koksen und sich zu schlagen. Ulf ist ein Bär von einem Mann, verheiratet und hat einen Sohn, während Jojo einen Job als Fußballtrainer hat.
Ursprünglich gehörte auch Jojos Bruder Joel zum Freundeskreis hinzu, doch ein tragisches Ereignis hat dem Fußballtalent ein Ende gesetzt, wie aus einem Rückblick ersichtlich wird.
Die Szene, als alle zum Todestag Joels Grab besuchen, zeigt, dass sie hinter der harten Fassade ihre Gefühle verbergen und Heiko durchaus sensibel ist.

"Ich wage den Blick zu Jojo neben mir. Er ist vollkommen still. Macht keinen Mucks. Aber sein Oberkörper ruckelt in zarten Stößen. Als hätte er Schluckauf. Ich sehe in sein Gesicht. Er hat die Augen zugekniffen. Seine Lippen sind in den Mund gerollt. Ich ertrag das nicht, also lasse ich ihm den Moment mit seinem kleinen Bruder." (S.61)

Im weiteren Verlauf der Handlung wird die Freundschaft der Kumpels auf die Probe gestellt, so ist Ulf der Erste, der die "Firma" wegen seiner Familie verlassen will. Dafür hat Heiko überhaupt kein Verständnis. Jojo hat seinen Trainerjob, den er sehr ernst nimmt, und Kai gerät in einen Hinterhalt, dessen Folgen ihn dazu veranlassen, neue Wege zu gehen. Heiko fühlt sich im Stich gelassen und seine Einsamkeit münzt er in Rache um - Rache für Kai, damit will er alles wieder gut machen...

Bewertung 
Der Roman bietet einen Einblick in eine - für mich - völlig fremde Welt der Hooligans, der fanatischen Fußballfans und damit verbunden in die Freude am Zuschlagen.
Heiko sucht bei Axel, nachdem seine Familie ihm keinen Halt geben kann, Selbstbestätigung. In den Kämpfen kann er seinen Aggressionen freien Lauf lassen, sie geben seinem Leben einen Sinn und strukturieren es gewissermaßen. Der Lebensbereich bleibt begrenzt und überschaubar - die Arbeit im Gym, die Fußballspiele, das Abhängen mit den Freunden, die Kämpfe.
Als sein Vater in die Reha muss und er sich um die Tauben kümmert, gerät sein Leben allmählich aus den Fugen. Erinnerungen werden wachgerufen und die Vergangenheit holt ihn ein. Als dann ein Freund nach dem anderen die "Firma" verlässt, verliert Heiko gewissermaßen seine Familie - sogar sein Onkel verrät ihn und nutzt ihn offenkundig nur aus.

Ohne diese Leserunde hätte ich sicherlich nicht nach dem Roman gegriffen, kühles Cover und eine Thematik, die mich eigentlich nicht interessiert - dachte ich, auch noch als er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises auftauchte.
Ich habe mich geirrt - trotz der abschreckenden Ausdrucksweise des Ich-Erzähler, die von Fäkalausdrücken durchzogen ist, gibt es ganz ungewöhnliche Bilder, die überraschen:

"Und ihre kleinen Glubscher, diese blaue Augen. Sehen aus wie Eiswürfel, in denen eine Fliege eingefroren wurde. (...) Ihr Lachen klang wie so ein Windspiel, oder wie die Dinger heißen. Wie ein Sommerregen, der auf mein entblößtes Hirn rieselt, mich beruhigt und mir das Gefühl gibt, das ganze Drecksleben wär doch irgendwie erträglich. Solange ich diesem Lachen zuhören könnte." (S.119)

Trotz der verherrlichten Gewalt und der abstoßenden Lebensweise Heikos gelingt es dem Autor tatsächlich, dass man für den Protagonisten immer mehr Sympathie empfindet. Dazu tragen die Rückblenden maßgeblich bei, die einen immer tieferen Blick in Heikos Vergangenheit werfen, bis hin zu seiner Zeit als Junge, als er das erste Fußballspiel gemeinsam mit seinem Vater und Onkel Axel besucht hat - quasi die Keimzelle seiner zukünftigen Existenz.
Obwohl diese Rückblenden Ereignisse und Handlungen erklären, bleiben auch Fragen offen.
Warum hat die Mutter die Familie verlassen? Warum hat sich Heiko so an seinen Onkel gehängt? Wie ist Kai in dieses Milieu hineingeraten - Zeitvertreib? Was ist aus Arnim geworden - Tigerfraß?
Auch das Ende (das mir sehr gut gefallen hat) lässt Raum für  Spekulationen, nur soviel - jetzt hat Heiko einen Gefährten, um den er sich kümmern muss, der ihn gewählt hat. Ein guter Anfang.

Ein beeindruckender Roman, der neugierig auf diesen jungen Autor und seine weiteren Werke macht.

Sonntag, 4. Dezember 2016

Anne Freytag: Mein bester letzter Sommer

- ein Hommage an das Leben und die Liebe.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
Verlag: Heyne Verlag
Erschienen am: 8.März 2018
ISBN-13: 978-3453270121



Inhalt
Die 17jährige Tessa aus München führt scheinbar ein perfektes Leben: Sie ist wunderschön, eine sehr gute Schülerin, spielt Geige und Klavier, hat ein Stipendium für Oxford und beste Freundinnen.
Doch all das war einmal, denn sie wird sterben, Seit ihrer Geburt hat sie einen inoperablen Herzfehler und ihr fehlt die Lungenschlagader - von zahlreichen Operationen hat sie eine große Narbe behalten, aber eine Heilung oder eine Lebensverlängerung ist nicht mehr möglich. Die Ärzte geben ihr wenige Wochen, vielleicht ein paar Monate.
Und dabei hat Tessa immer von einem perfekten Leben geträumt, auf den perfekten ersten Kuss gewartet, den richtigen Jungen, die erste große Liebe - und jetzt ist es zu spät.
Deprimiert schließt sie sich in ihrem Zimmer ein und wartet auf den Tod. Sie ist wütend auf ihre Mutter, die die Wahrheit schon lange kennt und ihr nichts davon gesagt hat - wie kann eine Mutter ihrer Tochter auch sagen, dass sie sterben muss - eine sehr emotionale Szene, der Streit zwischen Tessa und ihrer Mutter. Auch von ihrer Schwester Larissa, mit der sie einst ein Herz und eine Seele gewesen ist, hat sie sich entfremdet. Larissa, die stets in ihrem Schatten gestanden hat, geht inzwischen ihren eigenen Weg und bemüht sich das Gegenteil einer perfekten Tochter zu leben.

Doch dann lernt Tessa Oskar kennen. Einen gut aussehenden Jungen, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt - und dass nicht nur wegen seiner Erscheinung. Er vermag sie zu verstehen, in ihren Kopf zu schauen und ihrem Denken zuzuhören.
Mit ihm möchte sie ihre letzte Zeit verbringen, er wird ihr Freund zum Sterben. Spontan beschließen die beiden eine Reise durch Italien anzutreten und es wird Tessas bester letzter Sommer mit wunderschönen Momenten und sehr emotionalen Szenen, die jedoch nie kitschig sind.
Der größte Teil des Romans wird aus der Ich-Perspektive Tessas erzählt, wir hören ihr beim Denken zu und erleben gemeinsam mit ihr die erste große Liebe mit all ihren überwältigenden Gefühlen.
Gegen Ende kommt auch Oskar zu Wort und er schildert aus seiner Sicht, wie es sich anfühlt, eine große Liebe gefunden zu haben, um sie sogleich wieder zu verlieren.


Bewertung
Vom Thema her eigentlich ein Roman, der sehr belastend ist. Ein junges Mädchen, das weiß, dass es sterben muss und dass seiner Meinung nach noch nicht wirklich gelebt und geliebt hat.
Dann trifft sie diesen Jungen, verliebt sich und sie weiß, es wird nur für kurze Zeit sein.
Trotzdem ist es kein Roman, der nur traurig stimmt, sondern auch zum Lachen einlädt und uns bewusst macht, wie kostbar unser Leben ist. Er erinnert an die unvergleichlichen Momente, die so oft vorüber ziehen, weil wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Tessa genießt jeden Augenblick, weil sie weiß, dass es ihr letzter sein könnte. Das klingt jetzt ziemlich abgedroschen, aber der Autorin gelingt es, die Leser/innen auf Tessas Reise und in ihre Gedanken mitzunehmen. Man glaubt ihr diese großen Gefühle, über die wir, wenn wir ehrlich sind, als Erwachsene lächeln und sie nicht immer ernst nehmen. In diesem Roman jedoch ist diese Intensität stimmig, nichts wirkt kitschig oder sentimental.
Im Gegenteil, der Roman hat mich persönlich sehr berührt und ich muss zugeben, dass ich an der ein oder anderen Stelle weinen musste. Wenn Tessa den Aufsatz ihrer Schwester liest, oder sie sich von ihren Eltern verabschiedet....
Auch die Liebesszenen sind sehr einfühlsam erzählt, weder peinlich noch voyeuristisch.

Ein Roman, der mich an "Die Unwahrscheinlichkeit von Liebe" erinnert und den ich Jugendlichen und auch Erwachsenen empfehlen möchte, auch wenn er - wie der Titel es andeutet - nicht mit einem glücklichen Ende aufwarten kann, der aber trotz allem eine Hommage an das Leben ist.