Sonntag, 28. Oktober 2018

Jorge Bucay: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte

- Lebensweisheiten.

Lesen mit Mira

Das Buch ist kein Roman im eigentlichen Sinne, d.h. es wird keine Geschichte erzählt, sondern viele kleine Geschichten. Rahmenhandlung ist eine Therapiesituation: Demian, ein Student, sucht Hilfe bei Jorge, einem Gestalttherapeuten, den er wie folgt beschreibt:
"informell, unordentlich, chaotisch, warm, kunterbunt, unberechenbar, und warum es leugnen, ein bißchen schmuddelig."

Jorge ist speziell, wird von Demian "der Dicke" genannt und liebt

"Fabeln [...], Parabeln, Märchen, kluge Sätze und gelungene Metaphern. Seiner Meinung nach war der einzige Weg, etwas zu begreifen, ohne die Erfahrung am eigenen Leib machen zu müssen, der, ein konkretes symbolisches Abbild für das Ereignis zu haben."

Jedes Kapitel beinhaltet solch eine Geschichte, eine Art Gleichnis, das auf Demians Probleme Antworten geben soll. Gleich die erste Geschichte thematisiert, warum es sinnvoll sein kann, sich in der Therapie mit sich und seinen gelernten Verhaltensweisen auseinander zu setzen.

Ein Zirkuselefant, der seit ewiger Zeit an einen Pflock gebunden ist, wird nicht weglaufen, weil er von Anfang an gelernt hat, dass er sich nicht losreißen kann. Irgendwann hat er seine Gefangenschaft akzeptiert und glaubt, selbst wenn kein Pflock mehr da ist, dass er sich nicht mehr befreien kann.

"Wir bewegen uns in der Welt, als wären wir an Hunderte von Pflöcken gekettet."

"Ich kann nicht, und werde es niemals können", lautet die Prämisse, unter der wir unser Leben daraufhin gestalten.

Sowohl Mira und mir hat die Geschichte "Der wahre Wert des Rings" besonders gut gefallen:

"Du bist wie dieser Ring: ein Schmuckstück, kostbar und einzigartig. und genau wie diesem Ring kann deinen wahren Wert nur ein Fachmann erkennen."

Die einzelnen Geschichten bieten viele Denkanstöße und laden dazu ein, nachdem man sie gelesen, darüber nachzudenken. Allerdings geht es Jorge in der Therapie nicht darum, dass Demian seine Geschichten "richtig" interpretiert.

"Wenn sie überhaupt eine Aussage hat, dann nur die, die sie für dich hat."

Es ist ein Buch, das man immer wieder in die Hand nehmen kann, um die ein oder andere Geschichte, in der man sich wiedererkannt hat, erneut zu lesen.
Interessant fand ich die Erklärung zu den unterschiedlichen Therapierichtungen - klassische Psychoanalyse, psychoanalytische, Verhaltenstherapie und die Gestalttherapie, die sich mit der Gegenwart des Patienten beschäftigt und herausfinden soll,

"was in der Person, die sich an den Therapeuten gewandt hat, vor sich geht, und wozu sie in eine solche Situation hineingeraten ist."

Auch philosophische Fragen werden aufgeworfen, wie die nach der Zufriedenheit und der Vorstellung, dass uns immer irgendetwas zu unserem Glück fehlt.

"Wir haben gelernt, daß sich das Glück einstellt, sobald wir das fehlende Stück haben. Und da uns immer etwas fehlt, kehrt der Gedanke an seinen Ausgangspunkt zurück, und man kann niemals sein Leben genießen."

Die Geschichten sind kleine Kostbarkeiten, die man mit Muße lesen sollte, "in der Tiefe jeder Geschichte" kann man, wenn sie einen anspricht und zur eigenen Lebenssituation passt, einen "Diamanten" findet.

Hier geht es zu Miras Rezension.

Donnerstag, 25. Oktober 2018

Nino Haratischwili: Die Katze und der General

- Schuld und Sühne.

Da ich vor ca. zwei Jahre von Haratischwilis Roman "Das achte Leben" trotz des immensen Umfangs (1280 Seiten!) begeistert war, wollte ich unbedingt auch ihren neuen Roman, der es auf die Short-List für den deutschen Buchpreis in diesem Jahr geschafft hat, lesen. Ich habe mich schließlich für das Hörbuch entschieden - trotz einiger negativer Kritiken, die in Blogger-Kreisen und der Presse kursieren. Glücklicherweise habe ich mir selbst ein Bild gemacht ;)

Worum geht es?
Alexander Orlow, "Der General" genannt, hat sich während des Tschetschenien-Krieges Mitte der 1990er, obwohl er nie in diesen Krieg wollte, wie der Rückblick aus der Sicht des jungen Malish (=Alexander Orlow) verrät, eines Kriegsverbrechen schuldig gemacht.
Eine junge Frau wird vergewaltigt und ermordet. Mit ihr beginnt der Roman, denn Nura lebt in einem Tal bei Grosny. Doch bevor sie das ihr vorbestimmte Leben in der Enge des Dorfes verlassen kann, hält der Krieg Einzug und setzt ihrem Leben brutal ein Ende.
Ein Fall, für das die Autorin ein reales Geschehen vor Augen hatte. (vgl. Rezension beim Deutschlandfunk)

Lange erfahren wir nichts über Nura und den jungen Alexander, sondern die Handlung springt in die Gegenwart, ins Jahr 2016 - zur Katze.
Katze ist eine junge Schauspielerin, Sesili, Georgierin, die in Berlin lebt. Sie gleicht der ermordeten Nura so sehr, dass der General sie engagieren möchte, um das zu Ende zu führen, was in der Mitte der 90er Jahre misslang - er will für Gerechtigkeit sorgen.
Mithilfe des Journalisten Onno Bender, der seit Jahren versucht, mehr über die Lebensgeschichte des Generals und vor allem über seinen märchenhaften Aufstieg nach dem Krieg herauszufinden, will Orlow sie überreden, ein Video zu drehen.
In diesem Video soll sie die tote Nura verkörpern. Alexander Orlows Plan ist es, die damaligen Verantwortlichen an dem Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen. Er selbst hatte sich nach dem Tod der jungen Frau angezeigt, doch das Verfahren wurde abgebrochen, nachdem der Rechtsanwalt, der die Familie Nuras vertrat, ermordet wurde. Daraufhin lässt sich Malish (Alexander) auf einen faulen Kompromiss ein. Inzwischen hat der General das Geld und die Macht, diejenigen, die damals beteiligt waren, zur Rechenschaft zu ziehen.

„Nun war er mächtig genug, brauchte keine Gerichte und keine Staatsanwälte, keine Richter und keine Zeugen mehr, er war jetzt sein eigenes Gericht. All das, was damals versäumt wurde, hatte er nun selbst in der Hand. Aus jetziger Sicht erschien es ihm nahezu kindlich naiv, dass er sich einmal an die Illusion von Gerechtigkeit geklammert hatte.“

Welche Rolle spielt Onno, der den Spitznamen "Die Krähe" hat, dabei? Onno war einst mit Orlows Tochter Ada liiert, die jedoch inzwischen tot ist. Selbstmord? Auch sie wollte die Wahrheit über das in Erfahrung bringen, was wirklich in Tschetschenien geschehen ist, wollte wissen, ob ihr Vater der Mörder Nuras ist.

Die Handlung springt zwischen den Zeitebenen und den Perspektiven der einzelnen Figuren: die Katze, der General, der junge Alexander (Malish), die Krähe und Nura. Aber auch Nebenfiguren werden sehr ausführlich vorgestellt, so dass die Kritik, die Geschichte ufere aus, berechtigt scheint.
Andererseits eröffnet der Einblick in verschiedene "Köpfe" mögliche Antworten auf die Frage, wie dieses furchtbare Verbrechen geschehen konnte. Die Frage, die die Autorin umtreibt ist: Wer kann eine solche Tat begehen, wie kann man mit der Schuld leben und kann es eine Form von Gerechtigkeit für Nura geben?

Bewertung
Haratischwili lässt sich Zeit beim Erzählen, die einzelnen Figuren haben Platz sich zu entfalten und gerade beim Hören ist mir am Anfang schwer gefallen, die losen Fäden zusammenzuspinnen. Doch nach einiger Zeit entwickelt sich ein Sog, so dass ich die fast 24 Stunden Hörzeit insgesamt als sehr kurz empfunden habe, wozu auch die hervorragenden Sprecher beigetragen haben.
Sehr eindringlich fand ich die Szenen aus Tschetschenien, die der junge Malish erzählt. Seine Wandlung zum General sowie Katzes Identifikation mit Nura sind psychologisch am schwierigsten nachzuvollziehen. Haratischwili bezieht zu dieser Kritik im Deutschlandfunk Stellung:

„Was mich eigentlich viel mehr interessiert hat, war erstmal: Was passiert, wenn man Menschen in rechtsfreie Räume schickt? Was ist da möglich? Was sind das für Mechanismen? Sind alle Menschen gleich? Kann jeder potenziell zu einem Mörder werden? Kann jeder all das tun, was sie da in Tschetschenien tun? Oder gibt es auch Ausnahmen?“ 

Die Antwort in ihrem Roman ist eindeutig. Krieg "entmenschlicht" und letztlich gibt es keine Gewinner, sondern nur Verlierer.

Lese- bzw. Hör-Empfehlung!

Mittwoch, 24. Oktober 2018

Marion Bischoff: Heidelbeerfrau

Historischer Roman

"Heidelbeerfrau" ist die Fortsetzung von "Heidelbeerkind" und erzählt die Geschichte Elises, die in Clausen während des 2.Weltkrieges einen Deserteur - Julius- gesund gepflegt hat und sich in ihn verliebte, weiter. Julius musste, da sie verraten wurden, fliehen, so dass er nicht weiß, dass er Vater eines kleinen Jungen, Reinhard, ist.

Im Prolog erfahren wir, dass Julius auf der Flucht in französische Kriegsgefangenschaft geraten ist, in der er von einem Bauer misshandelt wird. Er traut sich nicht Elise von seinen Sorgen zu schreiben, so dass diese in Ungewissheit lebt, ob er noch am Leben ist.

Die Handlung, die aus der personalen Perspektive Elises erzählt wird, setzt am 20. August 1945 ein. Elise arbeitet inzwischen in Heimarbeit für einen Schuhfabrikanten in Pirmasens, dessen Fabrik zwar in Schutt und Asche liegt, der aber sein Material hatte retten können. Aus dem Leder, das sie von ihm erhält, nähen sie und ihre Mutter Schuhe. Gleichzeitig versorgt sie Ferdinands Hof samt dessen Kühe. Als ehemaliger Nationalsozialist, der sich hat blenden lassen, ist er auf der Flucht vor den französischen Machthabern. Von der Milch ernährt sie ihren kleinen Reinhard und stößt heimlich Butter, obwohl sie die gesamte Milch eigentlich abgeben müsste. Die Butter wiederum tauscht sie gegen zusätzliches Leder, die Schuhe dienen als Tauschmittel auf dem Schwarzmarkt.
Obwohl der Krieg zu Ende ist, geht es den Menschen in der Pfalz weiterhin schlecht.

"Mutter kam einfach nicht darüber hinweg, dass sie es nach wie vor kaum schafften, den Hunger der ganzen Familie zu stillen" (14),

zu der noch Elises kleiner Bruder Hans sowie der Großvater gehören. Hinzu kommen die Verleumdungen gegenüber der jungen Frau, die das uneheliche Kind eines Deserteurs groß zieht.

Auf Ferdinands Hof, der im Krieg einen Holzhandel betrieben hatte, findet Elise plötzlich einen Brief, in dem er sie auffordert, die Kühe zu verkaufen, damit er neue Papiere bekommt.
Wie soll sie dann ihren Sohn ernähren? Da scheint das Angebot des Schuhfabrikanten Weber verlockend, der Schuhe an die Franzosen liefern will und dafür jemanden braucht, der die Schuhe übergibt. Eine gefährliche Aufgabe, da dies verboten ist - allerdings könnte Elise neue Aufträge gut gebrauchen.

Ein weiteres Problem taucht in Gestalt ihrer ehemaligen Freundin Gerda auf, die Elise am Felsen bei den Heidelbeerbüschen völlig aufgelöst findet.

"Vor Elises innerem Auge tauchten verstörende Bilder auf, als Gerdas Vater zu ihnen nach Hause gekommen war und Elise hatte verhaften wollen. Weil sie einen Deserteur versteckte. [...] Unwillkürlich verkrampften sich ihre Muskeln, wenn sie daran dachte, dass dieser Nazi völlig unbehelligt geblieben war. Sogar als Bürgermeister tat er jetzt seinen Dienst." (40)

Dass überzeugte Nationalsozialisten auch nach dem Krieg Karriere gemacht haben, ist inzwischen hinreichend untersucht und belegt. Bischoff zeigt jedoch eindrucksvoll auf, wie auch im Kleinen die Einstellung bewahrt wird, der verlorene Krieg nicht automatisch zur Läuterung geführt hat. So äußert ein ehemaliger Frontsoldat, der früher für Ferdinand gearbeitet hat:

"Wir haben alle Dinge getan, die wir besser nicht getan hätten. Aber es war ja auch nicht alles schlecht" (198),

und verweist darauf, man habe sich ja gegen die Polen wehren müssen. Damit übernimmt er die Lügen des nationalsozialistischen Regimes und trägt sie auch nach dessen Untergang weiter.

Bischoff deckt diese Verdrängungsmechanismen auf und zeigt eindrücklich die desolaten Lebensbedingungen in Clausen nach dem Krieg, die Verdrängung dessen, was der Nationalsozialmus in Deutschland angerichtet hat und am Beispiel von Gerdas Vater auch, die mangelnde Aufarbeitung bzw. Bestrafung derer, die aktiv daran beteiligt waren.
Dass die Autorin für ihre Recherche mit vielen Zeitzeugen gesprochen hat, wie sie im Nachwort verrät, wird in der authentischen Schilderung des Alltags in der harten Nachkriegszeit deutlich. Darin liegt meines Erachtens die Stärke des Romans, wobei die sympathische Protagonistin als Identifikationsfigur und moralischer Kompass dient und viele Schicksalsschläge hinnehmen muss.

Wird sie ihren Julius wiedersehen und ihrer Freundin Gerda, die in einer ähnlichen Situation ist wie Elise im "Heidelbeerkind" helfen können?

Eine gelungene Fortsetzung, die die Alltags-Geschichte in den Vordergrund stellt und sie spannend, wenn auch sehr konventionell, erzählt.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

Der Roman ist im Rhein-Mosel-Verlag erschienen und umfasst 234 Seiten.

Donnerstag, 18. Oktober 2018

Christian Rupprecht: Die zwei Gesichter der Mona Lisa

- rasante Krimi-Komödie.

Im Mittelpunkt der amüsanten Geschichte steht die attraktive 37-jährige Restauratorin Maria Felicella, die seit Jahren ihrem Ex-Freund Paolo nachtrauert. Laut Aussage ihrer besten Freundin Emma ein nicht zu ertragender Zustand.

"Doch während Emma sich scheinbar spielerisch durchs Leben treiben, sich mal hier, mal da pflücken ließ und dabei ihren Spaß hatte, herrschten in Marias Leben Regeln und Moralvorstellungen, die von ihrer kalabresischen Großmutter hätten stammen können. Und in ihrem Leben somit die Vergnügungs-Dauer-Ebbe." (13)

Im Rahmen einer Ausstellung plant die Galeria Borghese in Rom eine Ausstellung der Werke Leonardo da Vincis, dazu soll aus Paris die Mona Lisa ausgeliehen werden - allerdings weigert sich der Chef des Louvres Henry Nemours in letzter Sekunde sie nach Italien zu schicken. Sowohl Maria, die die Mona Lisa untersuchen wollte, als auch Signoria Antonia Garibaldi, die die echte Mona Lisa heimlich durch eine Kopie ersetzen will, sind außer sich.

Statt das berühmteste Lächeln der Welt zu erforschen, reist Maria nach New York, wo sich bei Richard Shepard Studien zum berühmten Porträt befinden, gleichzeitig könnte er für die Galeria Borghese eine gutes Wort bei Nemours einlegen, da sich beide kennen. Zudem hat Shepard kürzlich das berühmte Gemälde Narziss von Caravaggio gekauft, das die Galeria aus finanziellen Gründen veräußern musste. Ausgerechnet der Narziss, Marias Lieblingsgemälde, denn

"der Narziss, dieser schöne, unglückliche Junge, der in sich selbst verliebt ist und daran zugrunde geht, dieses Meisterwerk von Caravaggio war für Maria etwas ganz Besonderes. [...] dieser verschlossene, autistische, verlorene, tödlich in sich selbst verdrehte Jüngling schien Sinnbild, Parabel und Allegorie auf ihr Denken, Fühlen und Handeln zu sein. Auf sie selbst, die hoffnungslos Ausgeschlossene, hoffnungslos Betrachtende, für immer unglücklich Liebende." (25)

In New York stellt sich das Gemälde als Fälschung heraus, wie soll Maria damit umgehen, vor allem da die Tochter der Garibaldi es für Richard Shepard eingekauft hat? Und dann lernt sie noch einen äußerst attraktiven Mann kennen, der in der Lage zu sein scheint, sie endlich von der Trauer um Paolo befreien zu können.

"Der Traummann. Ihr Traummann. Den es für sie natürlich gar nicht gab. Sie gab sich die gefühlte Ewigkeit einer Traumsekunde dieser Wahnvorstellung von Kitsch und Künstlichkeit hin, einem Bild, das jedem kleinen Mädchen als das Glück auf Erden eingetrichtert wird und das jedes kleine Mädchen, so es eines Tages zur freienden Maid herangewachsen ist, verarbeiten muss." (101)

Während Maria in New York ist, zieht in Paris die Garibaldi die Fäden. Über einen Mittelsmann - "Und ja, er war das Böse in dieser Frauengeschichte" (103) -  will sie erreichen, dass die Mona Lisa doch noch nach Italien gelangt.

"So. Mal überlegen. Was bisher geschah: "Die Mona Lisa kommt nicht nach Italien. So weit, so gut. Aber so soll es nicht bleiben. Ich, Flavio Malandrolo, muss und werde also dafür sorgen, dass sich das ändert. Und wen darf ich dafür etwas bearbeiten?" (70)

Über den Sicherheitschef des Louvre, Gustave Dupont, der Flavio erstaunlicherweise gleicht, will er an Henry Nemours und schließlich an die Mona Lisa gelangen. Ob es ihm gelingt, sie der Garibaldi zu bringen?

Bewertung
Der Roman kommt genauso locker-leicht daher, wie es sein Cover verspricht. Eine überaus amüsante Kriminal-Geschichte, bei deren Lektüre ich oft herzhaft lachen musste. Skurrile Szenen, unerwartete Wendungen, herrlich überzeichnete Figuren und das Spielen mit gängigen Klischees sorgen für Spaß beim Lesen.
Glücklicherweise hat sich Rupprecht, der Tür an Tür mit dem Louisoder-Verlag wohnt, entschieden sein Manuskript dort abzugeben.

Vielen Dank an den Louisoder-Verlag für das Lese-Exemplar!

Sonntag, 14. Oktober 2018

Besuch auf der Frankfurter Buchmesse 2018


In der Hoffnung, dass am Donnerstag etwas weniger los sein würde als freitags, traf ich mich mit meiner Lesefreundin Mira, um gemeinsam die Buchmesse zu erkunden - im Schlepptau vier Mädchen, meine eigenen und zwei Freundinnen. Langweile sollte also nicht aufkommen.

Nachdem wir durch Halle 3.1 geschlendert waren, der Hobbit Press des Klett-Cotta Verlages unseren Besuch abgestattet hatten, stand um 11.00 Uhr das Interview mit der diesjährigen Buchpreis-Gewinnerin Inga-Maria Mahlke, die von Takis Würger vom Spiegel befragt wurde, auf dem Plan.

Gefragt danach, wie es ihr ginge, gab sie zu, das alles sei wie ein unglaublicher Film, erst nächste Woche werde sie wahrscheinlich realisieren, was es bedeute, den Deutschen Buchpreis gewonnen zu haben.
Für ein Porträt hatte Würger sie bereits in Teneriffa besucht, gerade zu der Zeit, als bekannt wurde, dass ihr Roman es auf die Longlist geschafft hat, deshalb duze er sie, erklärte Würger den Zuschauer*innen, um immer wieder ins "Sie" zu verfallen - der offizielle Anlass ;)

Der Roman erzählt anhand dreier Familien die Geschichte Teneriffas  - rückwärts.
Mahlke erklärte, sie misstraue Kausalitäten und dem Bestreben im Rückblick Erinnerungen glätten zu wollen, um Kohärenz herzustellen. Sie interessiere sich aber gerade für die Brüche, diese wolle sie sichtbar machen, daher das Erzählen in die Vergangenheit hinein. Dieser erzähltechnische Ansatz macht mich neugierig, die Entscheidung den Roman zu lesen, fiel genau in diesem Moment und spätestens nach der Lesung einiger Seiten - denn Mahlke beschreibt gekonnt minutiös eine einzelne Szene, so dass sie sofort vor dem inneren Auge entsteht.
Ihre Figuren ergeben sich aus dem Schreibprozess, ein Satz steht zunächst allein, dann folgen weitere...sie stellt sich vor, wie ihre Figuren in Alltagsszenen agieren. Die Art und Weise, wie jemand sein Bett mache, sage viel über die Person aus, erklärt sie.
Warum Teneriffa? Ihre Mutter stamme von dort und nein, ihr Vater habe keine Eingeborene geheiratet, wie sie oft gefragt werde, sondern ihre Mutter kam nach Deutschland und lernte hier ihren Mann kennen. Obwohl sie in ihrer Kindheit jede Ferien auf der Insel verbracht habe, habe sie erst in den Recherchen zu dem Roman diese neu kennen gelernt -  sei sich ihrer Historie bewusst geworden. Sie habe viele Fotos von den gleichen Orten betrachtet und kleine Details, die sich im Lauf der Zeit verändert hätten, bemerkt.
Sie liebe diese Insel, das anarchische Element. Oft gebe es eine Reihung absurder Ereignisse, wie ein flatterndes Huhn im Wohnzimmer, das von einem Hund gerissen werde. Wie bekommt man Hühnerblut aus dem Perser?
Ihre Figuren seien fiktiv, sie empfinde es als übergriffig, wenn man reale als Vorbilder nehme und nach Abschluss der Geschichte müsse man sie loslassen. So brutal es klinge, sie müssten sterben. Trotz dieser Aussage wirkte die Buchpreisgewinnerin sehr sympathisch und hat mich mit dem, was sie erzählte, überzeugt, ihren Roman zu lesen.

Währenddessen hörten sich die Mädels einen Vortrag vom kleinen Verlag "Traumfänger" über die Darstellung von Indianern in der Literatur. Da sie die einzigen Kinder waren, wurden sie anschließend von einem Redakteur der FAZ interviewt, ich bin gespannt, ob ein Artikel daraus wird.

Im Anschluss daran nutzte ich die Zeit den kleinen, aber sehr feinen unabhängigen Louisoder-Verlag aus München zu besuchen, dessen Neuerscheinungen sich im Frühjahr und Herbst auf jeweils zwei beschränken. Schwerpunkt sind einerseits Romane aus der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, die in Deutschland weitestgehend unbekannt geblieben sind, wie zum Beispiel die amüsanten Romane von Wilson Collison, "Die Nacht mit Nancy" und "Tod in Connecticut", die ich mit großem Vergnügen gelesen habe.

Ein Roman gegen das Vergessen
Aber auch aktuelle Literatur und Newcomer werden verlegt. Jakob Schön (Presse) erzählte mir, wie der Roman "Die zwei Gesichter der Mona Lisa" ins Verlagsprogramm gelangt ist. Der Autor, ein promovierter Theologe, wohnt Tür an Tür mit dem Louisoder-Verlag, der nichts von den schriftstellerischen Ambitionen seines Nachbarn gewusst hat. Eines Tages stand Christian Rupprecht vor der Tür und bot sein Manuskript an. Glücklicherweise entschied sich der Verlag es herauszugeben, demnächst gibt es hier eine Rezension dazu.
In den Buchhandlungen erfährt der Verlag, 2012 von Gerdt Fehrle gegründet, selbst Autor, kontinuierlich mehr Beachtung, obwohl oder gerade weil er außergewöhnliche Bücher jenseits des Mainstreams verlegt.

Auf der ARD-Bühne bekam ich noch den Rest von Volker Kutschers Interview über "Der nasse Fisch" und die Serie "Babylon Berlin" mit, die Suchtfaktor hat - wie ich bestätigen kann. Viel Recherche stecke in seinen Romanen, ein neuer sei in Arbeit. Das freut mich natürlich, denn ich habe die ganze Reihe um Gereon Rath verschlungen.

Im Anschluss stand Bodo Kirchhoff auf der Bühne und wurde zu seinem neuen Roman "Dämmer und Aufruhr" befragt, in dem er seine frühe Kindheit und Jugend thematisiert. Erst nach dem Tod seiner Mutter habe er über diese Zeit schreiben können. Um eine Distanz zum Geschehen herzustellen, gebe es drei Erzählebenen. Das erlebende Ich - die kindliche Perspektive -, den erinnernden Autor und ein Gespräch zwischen der 90-jährigen Mutter und dem Erzähler. Die Erinnerungen folgen alten Fotos, wie das mit Max Schmeling, mit dem Kirchhoff gemeinsam einen Film gedreht hat, wobei er selbst nur eine kleine Rolle innehatte. Da die Erinnerungen lückenhaft sind, werden fiktive Elemente hinzugefügt - die eigene Geschichte wird funktionalisiert - genau das, was Mahlke in ihrem Roman durch das Rückwärts-Erzählen vermeiden will. Allerdings erzählt sie nicht ihre eigene Geschichte, wie Bodo Kirchhoff, der als 10-Jähriger in ein Internat abgeschoben wurde, wo er von einem Lehrer "erwählt" wurde. Im Nachhinein müsse man von Missbrauch sprechen, allerdings möchte er die Geschichte dahinter berücksichtigt sehen. Kirchhoff erklärt, wenn eine Frau im Krieg von Soldaten vergewaltigt werde, sei dies ein eindeutiger Fall, in anderen müsse man die Geschichte dahinter berücksichtigen. Leider hat die Moderatorin an diesem Punkt nicht nachgehakt, wo zieht er die Grenze? Ein sensibles Thema, für das Kirchhoff meiner Meinung nach nicht die richtigen Worte gefunden hat. Mira und ich überlegen noch, ob wir seinen Roman lesen sollen.

Gemeinsam mit den beiden älteren Mädchen (14 und 13) besuchte ich das Interview mit Reiner Engelmann zu seinem Roman "Der Buchhalter von Ausschwitz". In seinem Jugendbuch erzählt er die Geschichte Oskar Grönings, der sich mit Anfang 20 freiwillig zur SS gemeldet hat. Seine Aufgabe in Ausschwitz, für die er eine Verschwiegenheitsklausel unterschreiben musste, bestand darin, das Geld der "Häftlinge" zu verwalten und Dienst an der Rampe zu tun, wo das Gepäck abgegeben werden musste. Gröning hat nach dem Krieg über seine Tätigkeit geschwiegen, Anfang der 80er Jahre stellte er sich jedoch gegen die Holocaust-Leugner, ohne jedoch eine persönliche Schuld einzugestehen. Anfang 2015 wurde er wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, betonte jedoch in der Verhandlung, er habe nur seine Pflicht getan. Engelmann sagte, dass er Jugendliche weniger die Frage stellen möchte, wie sie sich in dieser Situation verhalten hätten, sondern wichtiger sei, wie verhalte ich mich in der aktuellen politischen Lage, in der ein Rechtsruck durch die Gesellschaft geht. Im besten Fall könne man aus der Geschichte lernen - sein Roman leistet einen wichtigen Beitrag dazu.

Zum Abschluss besuchte ich gemeinsam mit Mira den Diogenes-Talk im neuen Pavillon. Befragt wurden neben Verleger Philipp Keel die Krimiautor*innen Katrine Engberg  und Mike Herron. Ihre Romane "Krokodilwächter" und "Slow Horses" habe ich beide gelesen und so war es besonders interessant zu erfahren, wie sie auf die Idee zu diesen Geschichten gekommen sind.
Engberg unternahm vor 5-6 Jahren einen Spaziergang mit ihrer Familie, zu der Zeit, als der Meteoritensturm Laurenzi gerade am Himmel zu sehen war. Gleichzeitig entdeckte sie ein Klingelschild: Familie Laurenti und plötzlich war die Protagonistin ihres Romans, Esther de Laurenti, da. Sie wusste, sie mag dicke, kleine Hunde und Rotwein und zog bei Katrine Engberg ein. Entstanden ist ein sehr spannender Krimi, der mit der Meta-Ebene spielt. Laurenti schreibt nämlich einen Krimi, der dann Wirklichkeit wird. Was war zuerst da? Der Mordfall oder das Manuskript? Inzwischen sind zwei weitere Fälle des sympathischen Ermittler-Duos Jeppe Körner und Anette Werner im Dänischen erschienen, hoffentlich werden sie ins Deutsche übersetzt.
Beim Agententhriller "Slow Horses" entschied sich der Verleger gegen den deutschen Titel, "Langsame Pferde" verkauften sich nicht. Angesprochen darauf, warum das Cover von den üblichen bei Diogenes abweiche, verriet Philipp Keel, die Buchhändler hätten gefordert, ein Thriller müsse anders verpackt sein. Inzwischen beschwerten sie sich, er sähe ganz anders als die anderen Diogenes-Bücher aus ;)
Mike Herron gab zu, dass er Recherche-Arbeit hasse, trotzdem sei ihm von einem ehemaligen Spion bescheinigt worden, seine Romane seien sehr realistisch - das habe ihn zutiefst beunruhigt. In all seinen Antworten scheint der trockene britische Humor durch, der auch seinen Roman durchzieht. Insgesamt scheint die Stimmung beim Verlag locker und gelöst zu sein, schenkt man den dreien Glauben, in ihren Gesprächen werde viel Wein getrunken. Leider konnte ich die zweite Runde mit Anne Reinecke, Benedict Wells und Chris Kraus aus Zeitgründen nicht mehr hören. Schade, denn Reineckes Roman "Leinsee" gehört bisher zu meinen Lieblings-Büchern in diesem Jahr. Und auf Benedict Wells, den ich vielleicht in einer Leserunde auf whatchaReadin lesen kann, freue ich mich besonders - genauso wie auf meinem Besuch im nächsten Jahr.




Dienstag, 9. Oktober 2018

Nina George: Die Schönheit der Nacht

- die Gewordene und die Werdende.

Lesekreis in der Bücherhütte Wadern


Im Mittelpunkt dieses Romans stehen zwei Frauen: Claire und Julie, die sich zufällig in einem Hotel in Paris begegnen, in dem Claire eine Nacht verbringt und ihren Mann Gilles betrügt - als Ausgleich für sein Fremdgehen.

"Wenn ein Fremder sie umfasste und nichts davon wusste, nichts erwartete, und ihn das Fehlen jener Claire, die andere in ihr sahen, nicht mal irritierte, dann löste sich alles auf" (16)

- Erwartungen, die an Madame le Professeur, an die Verhaltensforscherin, Ehefrau und Mutter gestellt werden.

Julie arbeitet in jenem Hotel und während sie ein Zimmer reinigt, singt sie heimlich, was sie jedoch gegenüber Claire leugnet, als sie im Flur aufeinander treffen.

"Als sich die Tür der 22 öffnete, der Gesang abbrach, stellte Claire fest, dass Stimmen nur eine akustische Umrandung der inneren Beschaffenheit nachzeichnen und das Äußere meist unvermutet anders ist. [...]
Zwei Ertappte, dachte Claire, die entblößt voreinanderstehen und die andere am liebsten dafür ohrfeigen würden." (13-14)

Die Überraschung ist groß, als sie sich anschließend zum Abendessen in Claires Zuhause  wiederbegegnen. Denn Julie ist die Freundin von Claires und Gilles´ Sohn Nicolas - doch Julie tut so, als sähen sie sich zum ersten Mal, während Claire ihr zu verstehen gibt, sie müsse weder Nicolas noch Gilles anlügen.

Gilles, ein Künstler, der Filmmusiken schreibt, das Kochen liebt und ein Genussmensch zu sein scheint, betrügt ebenfalls seine Frau, wofür diese sogar Verständnis zu haben scheint.

"Sie wusste, dass Gilles´Geliebte nichts mit ihr zu tun hatten. Sondern nur mit ihm. Darüber je zu sprechen, ihr Wissen preiszugeben, hätte bedeutet, dass es in diese Küche gelangt wäre. In dieses Leben, in ihr Bett, in ihren Kopf. Ressourcenverschwendung. Sie hasste es, zu viel Kraft für Emotionen auszugeben, die nichts an der Vergangenheit änderten." (29)

Sie glaubt, er bräuchte die Affären, weil er in einer beruflichen Krise stecke und frustriert sei, dass sie das Geld verdient. Ob sie wirklich so rational damit umgeht, wie sie die Leser*innen in ihren Reflexionen Glauben macht?

Die Ehe zwischen Claire und Gilles ist an einem Punkt angelangt, an dem das Ungesagte, das Schweigen permanent greifbar ist, aber keiner ausspricht, ob noch etwas übrig bleibt, wenn das Verbindende, der gemeinsame Sohn auszieht, um in Straßburg zu studieren.

Vielleicht aus Angst, die "Geister in einer Flasche" (39) kämen heraus, lädt Gilles Julie spontan ein, den Sommer gemeinsam mit ihnen in der Bretagne zu verbringen. Dort hat Claire von ihrer Großmutter väterlicherseits, der Schriftstellerin Jeanne Le Du, ein Haus geerbt. Jeanne Le Du hatte sich bereit erklärt, nachdem die Mutter der Kinder in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen wurde, sich um die Kinder zu kümmern. Claire findet am Meer, im Beisein ihrer Großmutter, endlich Ruhe und kann die Verantwortung für ihre Geschwister, die sie bereits als 6-Jährige übernommen hat, obwohl diese älter sind, teilweise abgeben. Nur im Meer fühlt sie sich im Einklang mit sich selbst und frei - das hat sie Jeanne zu verdanken.

Claire ist geworden - eine Verhaltensbiologin, die sich jederzeit unter Kontrolle hat und alles stets zu analysieren scheint - sich selbst und das Verhalten der anderen. Wann ist sie versteinert und hat nach außen keine Gefühle mehr zugelassen, obwohl sie in ihr brodeln? Seit sie als Elfjährige die Verantwortung für ihre Geschwister übernommen hat? Warum hat sie sich zusammengefaltet statt sich zu entfalten?

Julie hingegen ist im Werden, eine Frau, die noch nicht weiß, wer sie ist. Die leidenschaftlich singt, aber niemandem davon erzählt - Angst hat, laut zu singen.

"Dieses Gefühl, ein Niemand zu sein. Während alle um einen herum ein Jemand waren." (54)
"Sie sehnte sich voller Unruhe nach jemandem oder nach etwas, über dem sie ihre Hitze ausgießen konnte. Sie sehnte sich nach Blut, nach Rausch, nach Lebenslust, nach Grenzen, die sich verschoben, so dass sie endlich sehen konnte, wo ihr Leben hinführte, sie wollte Farben und Wahrheit und Intensivität und leben, satt werden, mehr als satt! Nur: wie?" (98)

Ob Nicolas dieses Verlangen stillen kann?

Abwechselnd aus der Sie-Perspektive der beiden Frauen, an deren Gedankenstrom die Leser*innen teilhaben, erzählt der Roman von der Begegnung dieser beiden Frauen, die an einer Wegkreuzung stehen. Ihre Annäherung führt dazu, dass sich ihrer beider Leben verändert.


Bewertung und Diskussion im Lesekreis

"Beeindruckender Roman", das war der Tenor im Lesekreis. Die Figuren sind "glaubwürdig" und ihre Entwicklung ist nachvollziehbar. Claire - eine starke Protagonistin, die als Verhaltensforscherin für interessante Erkenntnisse während des Lesens sorgt.

Warum finden Männer nie etwas im Kühlschrank?
"Weil es sich nicht bewegt. Würde der Abwasch tanzen oder die Wäsche sich von allein auf die Maschine zubewegen, dann würden die Objekte über jene Reizaufmerksamkeitsschwelle steigen, die das testosterongesättigte Gehirn benötigt, im eine Aktion einzuleiten, wie etwas Jagd oder erhöhte Wachsamkeit. [...]
Das war natürlich vulgär-populistischer Genderquatsch, aber hatte zumindest zu einem gewissen Verständnis von visuellen Reizschwellenmustern beigetragen." (169)

Nina Georges Roman spricht meines Erachtens Frauen an, vielleicht vor allem die im mittleren Alter, die "geworden" sind und sich nun fragen, ob sie den eingeschlagenen Weg weiter gehen wollen oder doch eine neue Richtung einschlagen möchten. Die Reflexionen Claires laden dazu ein, sich mit dem eigenen Leben auseinander zu setzen, genauso wie die Gedanken Julies, deren Lebensweg erst eine Richtung finden muss. Damit wird es auch eine spannende Lektüre für Frauen Anfang 20, denn auch Julies Leben erfährt eine Entwicklung.
Die Begegnung der beiden Frauen führt dazu, dass Julie sich ihrer selbst bewusst wird und auch Claire ihren bisherigen Lebensentwurf in Frage stellt. Von der Thematik her ein Roman, der mich angesprochen hat, auch deshalb, weil Claire in ihren Gedanken die gängigen Verhaltensstereotype von Frauen und Männern seziert.
So beschreibt sie treffend, wie Mädchen und Jungen sich an einem Strand tummeln, den Erwachsene meiden.
"Die Mädchen lagen in Grüppchen zusammen, unter der Düne, die Jungen weiter vorne, näher am Meer. Nie zu nah beieinander, nicht am Tag, auf keinen Fall, das konnte alles verderben, alles. Es gab Regeln an diesem Strand, und sie waren gleichsam unausgesprochen und voller Verheißung." (113)

Eine Situation, die Nina George, wie sie im Nachwort schildert, selbst beobachtet hat. Junge Menschen, die "sehnsüchtig [warteten], dass es endlich losging. DAS LEBEN! sie warteten, dass ihnen jemand geschah. Oder etwas." (309)

Eine Beobachtung, die sie dazu gebracht hat, über ihr eigenes Leben nachzudenken, und so entstand die Idee, über Claire und Julie zu schreiben. Eine gewordene Frau und eine werdende, die sich gegen die gängigen Klischees wenden und einen Weg jenseits betretener Pfade einschlagen.

"Metaphernreich", ein Roman, in dem eine Vielzahl "rhetorischer Mittel gekonnt und funktionell eingesetzt werden" - waren im Lesekreis Stimmen zur Sprache Georges. Gegen Ende war es einigen von uns "too much" der Bilder, im Bestreben die Gedanken und Gefühle Figuren besonders anschaulich darzustellen.

Kann man darüber hinwegsehen, wenn die Bildsprache ein wenig ausufert, dann wartet eine interessante Geschichte auf die Leser*innen und dazu ein Angebot, das eigene Leben zu reflektieren - meisterhaft angeregt von Nina George mit ihrem klugen Blick auf Menschen und deren Interaktionen.

Buchdaten:
Gebundene Ausgabe, 320 Seiten
Knaur Verlag, Mai 2018


Mittwoch, 3. Oktober 2018

T.C. Boyle: Das wilde Kind

Kurzrezension

Meine bisherigen Erfahrungen mit Boyle beschränken sich auf seinen Erstling "Wassermusik", zu dem ich thematisch wenig Zugang gefunden habe, während mich die Sprache begeistert hat. Ein Freund hat mir, um mich weiterhin zu motivieren, Boyle zu lesen, "Das wilde Kind" empfohlen. Es scheint, seine Rechnung ist aufgegangen - der nächste Boyle liegt schon auf meinem Stapel und wird "América" sein.

Worum geht es?
In der Novelle erzählt Boyle von einem "Wolfskind", das tatsächlich gelebt hat. Victor von Aveyron wurde um 1788 geboren und um die Jahrhundertwende gefangen genommen.

Zunächst haben Jäger den Jungen im Wald entdeckt.

"Es schien sich um ein Kind zu handeln, um einen vollkommen nackten Jungen, dem Kälte und Regen offenbar nichts ausmachten." (5)

Dann begegnet ihm wenige Zeit später ein Bauer, so dass die Legende vom wilden Kind entstehen kann:

"Eine unnatürliche Stille lag über dem Land: Die Vögel in den Hecken hielten den Atem an, der Wind erstarb, ja selbst die Insekten verstummten. Dieser unverwandte Blick- die Augen, so schwarz wie frisch gebrühter Kaffee, das Fletschen bräunlich verfärbter Zähne - war der Blick eines Wesens aus dem Spiritus Mundi: fremd, gestört, hassenswert." (6)

Boyle gelingt es, nicht nur die Perspektive der Bauern und Jäger zu schildern, sondern auch sich der Sicht des Jungen zu nähern, der, als er schließlich gefangen wird, von der Situation völlig überfordert ist.
"Man stelle sich ihn vor, denn er selbst war dazu nicht imstande. Er kannte nur das Unmittelbare, spürte nur was seine Sinne ihm mitteilten." (7)

Er ist fünf Jahre alt, als er aufgegriffen wird. Der Versuch seiner Stiefmutter ihn im Wald zu töten, ist fehl geschlagen, so dass er sich alleine durchschlagen musste - ohne die menschliche Sprache zu lernen und die Regeln des Zusammenlebens erfahren zu haben.

Er wird zum Spielball von Wissenschaftlern, die herausfinden wollen, ob er sich zivilisieren lässt.

"Hier, dachte er, bot sich die Gelegenheit - sofern es sich nicht um eine Monstrosität oder einen aus irgendeiner privaten Menagerie ausgebrochenen afrikanischen Affen handelte-, Rousseaus Hypothese vom edlen Wilden auf die Probe zu stellen." (25)

Von Abbé Pierre-Joseph Bonnaterre, Professor für Naturgeschichte, gelangt er zu Abbé Roch-Ambroise Sicard vom Taubstummeninstitut in Paris, da man annimmt, er könne nicht hören.
Während Sicard aufgibt, versucht sich ein junger Arzt, Jean-Marc Gaspard Itard, daran, Victor, so wird er inzwischen genannt, etwas beizubringen - ohne Erfolg.

"Er wollte die Thesen von Locke und Condillac überprüfen: War der Mensch bei seiner Geburt eine tabula rasa, ungeformt und ohne Ideen, bereit, von der Gesellschaft beschrieben zu werden, erziehbar und imstande, auf dem Weg zur Vervollkommnung voranzuschreiten?" (53)

Bewertung
Dass Itard scheitert, aus Victor ein Mitglied der Gesellschaft zu machen, deutet der Erzähler zu Beginn an. Die Fragen, die sich stellen, sind:

  • warum gelingt es ihm nicht, dem "wilden Kind" das Sprechen beizubringen,
  • warum kann er den Jungen nicht zu einem sozialen Wesen erziehen, das die Bedürfnisse anderer Menschen erkennt und respektiert.
Liegt es an seinen Methoden - am System von Belohnungen und Bestrafungen oder an der mangelnden Intelligenz Victors, oder daran, dass er, um überleben zu können, von Anfang an nur auf sich selbst gestellt ist?

Die Novelle gibt keine Antworten, sie erzählt einfühlsam davon, wie die Wissenschaftler sich die Zähne ausbeißen. Nur Madame Guérin, die sich im Taubstummen-Institut um ihn kümmert - eine Art Mutterersatz - findet einen Zugang zu ihm. Sie ist die Einzige, die nach seinem Verschwinden die Suche nicht einstellt, denn, indem sie sich seiner angenommen hat, hat sie die Verantwortung für ihn übernommen - eine Verantwortung, die Itard gerne abgeben würde, da er gescheitert ist. Aber darf man den Jungen, nachdem man ihn aus dem Wald herausgeholt hat und ihn an die Zivilisation gewöhnt hat, einfach wieder sich selbst überlassen?

Die Novelle bietet viel Diskussionsstoff und für mich den Anreiz, weitere Romane von Boyle zu lesen.

Buchdaten
Taschenbuchausgabe, 108 Seiten
dtv, 2012