Donnerstag, 29. März 2018

Anja Marschall: Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal

- ein historischer Kriminalroman.

An den Roman bin ich über die Empfehlung einer Bekannten gekommen, die wahrscheinlich auf dem Blog meine Vorliebe für historische Krimis entdeckt hat. Kutschers Romane, die die Zeit Ende der 1920er bis in die 1930er beleuchten, oder der Roman "Der eiserne Sommer", der am Vorabend des 1.Weltkrieges, interessieren mich deshalb, weil man neben guten Kriminalfällen auch immer einen Einblick in die historischen Ereignisse erhält. Unterhaltsamer Geschichte-Unterricht sozusagen.

Der Roman "Verrat am Kaiser-Wilhelm-Kanal" spielt, wie der Titel bereits verrät, in der Zeit Kaiser Wilhelm II., im Jahr 1896. Im Mittelpunkt steht Kommissar Hauke Sötje, der im Kommissariat im Martensdamm 12/14 in Kiel bereits seinen 3. Fall löst.

"Die Kriminalpolizei im Kaiserreich hatte man vor Jahren nach englischem Vorbild erstmals in Berlin eingerichtet, im dem immer besser organisierten Verbrechen begegnen zu können. In gleicher Weise wurde vor Kurzem nun auch in Kiel ein Kriminalpolizei eingerichtet. Eine Handvoll Männer, die inkognito ermittelten, sich mit dubiosem Gesindel umgaben und in dunklen Straßen umtreiben sollten." (S.17)

Worum geht es?
Ein Matrose entdeckt vom Deck des Frachtewers "Berta" im Kaiser-Wilhelm-Kanal eine junge Frau. Der Schipper Ernst Meuser, sein Vorgesetzter, weigert sich, die Tote an Bord zu nehmen. Statt dessen wird sie vom Kommissar in Zivil Hauke Sötje ans Ufer gezogen. Alles deutet auf einen Selbstmord hin - ein junges Dienstmädchen, das sich aus irgendeinem Grund ins Wasser gestürzt hat. Doch ihre Verletzungen passen nicht zu einem Sturz von der Brücke, zudem fehlt im Rock ein Stück Stoff und um den Arm hat sie einen Streifen feiner Spitze gewickelt.
Während der Schreiber Levi Bloch Hauke Glauben schenkt, will sein Vorgesetzter Kommissar Kleinschmidt den Fall zu den Akten legen. Doch so schnell will Hauke nicht aufgeben.

Er "beauftragt" seine Verlobte Sophie Struwe, die beim Konsul Winter als Lehrerin arbeitet und für die damalige Zeit sehr emanzipiert erscheint, herauszufinden, was es mit der Spitze auf sich hat.

Über Haukes Vergangenheit erfahren wir, dass er Kapitän war, sein Schiff "Revenge" jedoch gesunken ist - alle Männer tot - außer ihm. Die Befragungen nach dem Unglück brachten jedoch die Wahrheit nicht ans Licht, denn Hauke Sötje hat keine Erinnerungen an die Nacht des Unglücks, er weiß jedoch, wer den Tod seiner Männer verursacht hat - ein gewisser Max von Sülau. Das hat ihm der Graf von Lahn verraten,

"dessen Geschäft Heimlichkeiten, Intrigen, Spitzelei und Verrat waren. Jeden Gefallen, den dieser Mann anbot, ließ er sich mit Zins und Zinseszins zurückzahlen." (S.42)

Er ist Leiter des Narichtenbüro, "ein weit weniger militärisch ausgerichteter Dienst im Kaiserreich" (S.299), der in Konkurrenz zur Sektion IIIb steht, einem rein militärischen Spionagedienst.
Beides hat es tatsächlich gegeben.

Hauke soll eben jenen Max von Sülau beschützen, der sich inzwischen als Geheimagent in der Nähe des russischen Zaren aufhält und nun Wolnikov nennt. Eine russische Delegation wird Kiel besuchen und Wolnikov wird als Sekretär des Fürsten Gregorijn mitreisen, um einen russischen Agenten beim deutschen Kaiser zu enttarnen. Da es bereits Anschläge auf sein Leben gegeben hat, soll Hauke ihn während des Besuches im Kieler Schloss bewachen, bis er den Verräter geliefert hat.
Im Gegenzug darf Hauke nach der Enttarnung den Mörder seiner Männer - Wolnikov - töten, ein verlockendes Angebot, das er annimmt. Er beantragt eine Beurlaubung - höchst ungewöhnlich - und beauftragt dazu noch den Schreiber Bloch im Fall der Toten weiter zu ermitteln. Dabei geraten alle Beteiligten in ernsthafte Gefahr und am Ende stellt sich heraus, dass beide Fälle zusammenhängen.

"Es war schon erstaunlich, wie oft unterschiedlichste Vorkommnisse, von denen man niemals gedacht hätte, dass sie etwas miteinander zu tun haben könnten, sich am Ende als die Seiten ein und derselben Medaille, als Zwillinge eines gemeinsamen Schicksals, herausstellten." (S.274)


Bewertung
Sehr interessant in den Kriminalfall eingebettet, sind die historischen Hintergründe - wie die Französisch-Russische Allianz oder das Aufrüsten der deutschen Kriegsflotte. Besonders gut gefallen haben mir die authentischen Auszüge aus den Kieler Neuesten Nachrichten oder der Kanalzeitung aus dem Jahre 1896, die jedem Kapitel vorangestellt sind und inhaltlich einen Hinweis auf das Geschehen geben.

"Zur Vorsicht bei Benutzung von Bleistiften wird gegenwärtig in verschiedenen Lehrerzeitungen gemahnt. Und zwar wird namentlich die größte Sorgfalt beim Anspitzen der Bleistifte empfohlen sowie vor dem Anfeuchten mit den Lippen gewarnt.
Originalauszug: Kanalzeitung, 1896" (S.73)

Gleichzeitig bieten sie einen Einblick in eine längst vergangene Zeit und lassen sie wieder auferstehen. Gerade zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20.Jahrhundert bahnt sich eine neue Zeit an, hervorgerufen durch eine Reihe technischer Errungenschaften, die die Vertreter der alten Zeit gerne rückgängig machen würden.

"Dieser Zwist wurd em ganzen Reich geführt. Er teilte die Menschen in zwei Gruppen: jene, die die Moderne begrüßten, und jene, die alles so behalten wollten, wie es früher einmal war. Hauke war klar, dass es die Errungenschaften von Lokomotive, Telefonapparaten, elektrifizierten Untergrundbahnen oder Maschinengewehren waren, die diesen Streit zugunsten der Moderne entscheiden würden." (S.18f.)

Im Mittelpunkt stehen jedoch die beiden Fälle - das tote Mädchen und der Spionagefall - die beide mit Spannung erzählt werden und eine nicht vorhersehbare Auflösung erfahren. Der Protagonist steht in der Tradition eigenwilliger, aber sympathischer Ermittler, die auf ihren sechsten Sinn vertrauen und Regeln großzügig missachten. Mit der Verlobten Sophie kommt eine junge Dame ins Spiel, die einen Ausblick auf eine moderne Frau gewährt. Ich bin auf den nächsten Fall des Ermittlers gespannt und überlege, ob ich die beiden Vorgänger auch noch lesen soll.

Eine klare Lese-Empfehlung!

Buchdaten
Taschenbuch, 304 Seiten
Emons Verlag, 2018

Vielen Dank an den Verlag für das Lese-Exemplar.

Sonntag, 25. März 2018

Jojo Moyes: Eine Handvoll Worte

- eine Liebesgeschichte.

Lesen mit Mira

Mein Pseudonym Querleserin verrät, dass ich neben anspruchsvoller Literatur zwischendurch gerne auch anderes lese: Fantasy-, Kriminalromane und seltener ein Liebesroman. Man lehnt sich auf dem Sofa zurück, taucht ein in eine simpel konzipierte Welt aus Herz - Schmerz, kehrt nach einem voraussehbaren Happy End entspannt in den Alltag zurück. Gerade in beruflich stressigen Zeiten erlaube ich mir auch mal ein "anspruchsloseren" Roman und dazu gehören die von Jojo Moyes. Traditionell erzählt, recht einfach gestrickt, spinnen sie einen rosaroten Faden und nehmen die Leserin mit ins Happy End - Ausnahme "Ein ganzes halbes Jahr", das sich mit dem Tetraplegiker, der seinem Leben ein Ende setzen will, einem sehr kontroversen Thema widmet.
Daher war gespannt, als Mira für unser gemeinsames Lesen "Eine Handvoll Worte" vorgeschlagen hat.

Worum geht es?
Am Beginn jedes Kapitels ist ein Abschiedsbrief, -SMS oder E-Mail abgedruckt, die Jojo Moyes auf eine Anzeige in der Zeitung erhalten hat oder sie wurden ihr von Verwandten zur Verfügung gestellt. Manche stammen aus der Literatur und einer davon gehört zur Handlung - es sind jeweils "Eine Handvoll Worte", die ein Liebesbeziehung beenden.

Prolog
Einen solchen Brief findet Ellie Haworth im Archiv der Zeitung Nation, für die sie einen Artikel schreiben soll, in dem das Leben der Frauen von 1960 mit dem heutigen (2003) verglichen wird. Anlass ist der Umzug der Redaktion in ein neues Gebäude und die Umstrukturierung des Archivs.
Ellis Aktien in der Redaktion stehen gerade auf Absturz, da ihr Privatleben ein strukturiertes, zielorientiertes Arbeiten unmöglich macht. Seit einem Jahr hat sie eine Affäre mit einem verheirateten Autor - John Armour (!), der nur selten Zeit für sie - oder besser gesagt für Sex mit ihr hat. Als ihre besten Freund*innen sie darauf hinweisen, dass er sich nie von seiner Frau trennen wird, weist sie dies brüsk zurück. Sie lebt in ihrer "Liebesblase", unfähig zu sehen, dass es eine auf Zeit ist.
In dieser Situation gerät ihr der Liebesbrief von "B" vom 4.10.1960 in die Hände, der sich in einer Aktenmappe mit Lungenkrankheiten, ausgelöst von Asbest, befunden hat. Fasziniert von der Sprache des Briefes beginnt sie zu recherchieren.

Teil 1 - 1960
Jennifer Sterling (die Adressatin des Briefes) wacht im Krankenhaus auf und kann sich an nichts mehr erinnern. Ein schwerer Verkehrsunfall hat eine Amnesie ausgelöst, sogar ihren Mann erkennt sie nicht.

"Er war ein gutaussehender Mann, vielleicht zehn Jahre älter als sie, mit hoher, gewölbter Stirn und ernstem Blick. Tief im Innern wusste sie, dass er wohl derjenige war, der zu sein er behauptete, dass sie tatsächlich mit ihm verheiratet war, aber es war verblüffend nichts zu empfinden, obwohl alle ganz offensichtlich eine andere Reaktion von ihr erwarteten." (S.36)

Doch sie spielt die von ihr erwartete Rolle der reichen Unternehmensgattin - ihr Mann ist im Asbestgeschäft, 1960 galt es noch als "Wunderbaustoff". Ihre Meinung ist nicht gefragt und sie hat schmückendes Beiwerk ihres Mannes zu sein. Ihre Freundin Yvonne beschreibt ihr, wie sie früher gewesen ist:

"Du bist reizend und lustig und voller joie des vivre. Du hast das perfekte Leben, einen reichen, gutaussehenden Mann, der dich anhimmelt, und einen Kleiderschrank, für den jede andere Frau sterben würde. Deine Frisur sitzt immer perfekt. Du hast eine Wespentaille. Bei jedem gesellschaftlichen Anlass stehst du im Mittelpunkt, und unsere Ehemänner sind alle in dich verliebt." (S.58)

Perfektes Leben? Aus unserer heutigen Perspektive sicherlich nicht - aber wir sind im Jahr 1960, fehlen nur noch Kinder zum Glück...

Im 3.Kapitel wechselt die Perspektive zum Journalisten Anthony O´Hara, der lange als Auslandskorrespondent für die Nation gearbeitet hat, zuletzt im Kongo, in dem es 1960 Unruhen gab. Da es ihm zurzeit nicht gut geht - Alkoholprobleme, überstandenes Gelbfieber - wird er an die Rivera geschickt, um ein Porträt über Laurence Stirling, Jennifers Mann, zu schreiben. O´Hara ist geschieden und hat einen kleinen Sohn, den er aber kaum sieht und natürlich ist auch er gutaussehend. Im Verlauf des Kapitels wird deutlich, dass das Interview zeitlich vor dem Unfall Jennifers liegt und die Vermutung, dass O´Hara jener Mann ist, der den Liebesbrief an Jennifer geschrieben hat, bestätigt sich. Man erfährt, wie die beiden sich kennen lernen und Jennifer davon überwältigt ist, dass jemand ihr zuhört und sie ernst nimmt. Gut gemacht ist der Perspektivwechsel, da aus Anthonys Sicht der Beginn der Liebesgeschichte erzählt wird und aus Jennifers Sicht die Zeit nach dem Unfall, in der sie auf einen der Briefe Anthonys stößt. Verzweifelt macht sie sich auf die Suche nach ihrem Liebhaber, in den Briefen finden sich kaum Hinweise, bis sie endlich die Wahrheit erfährt - eine Wahrheit, die ihr Mann gekannt hat, was teilweise sein Verhalten erklärt und auch, warum ihr niemand die Umstände ihres Unfalls erklären wollte.

Im zweiten Teil springt die Handlung ins Jahr 1964 und wir erfahren, wie es Jennifer inzwischen ergangen ist und wie die Akte, die Elli in der Gegenwart findet, im Archiv gelandet ist.

Teil 3 widmet sich Elli und ihrer komplizierten Beziehung zu John. Ihr Drang jede SMS und Mail zu sezieren und Bedeutung hineinzulegen, erinnert mich an die Zeit als Teenager. Allerdings ist sie 32 Jahre alt. Inspiriert von den Liebesbriefen beleuchtet sie ihre eigene Beziehung, die "Handvoll Worte" und die Suche nach den Protagonisten der Liebesgeschichte verändern auch ihr Leben.
Und am Ende - wie nicht anders zu erwarten - gibt es ein Happy End, wenn auch einige unerwartete und tragische Wendungen dazwischen liegen.

Bewertung
Obwohl die gesellschaftlichen Einschränkungen der Zeit, in der Jennifer sich trotz ihrer Ehe in einen anderen Mann verliebt hat, wesentlich strikter gewesen sind, ist auch Elli weit davon entfernt frei zu sein. Ist Jennifer gefangen in den Konventionen, die eine Scheidung nicht vorsehen, und in ihrer Unfähigkeit selbst für ihr Leben finanziell aufzukommen, ist Elli in ihren romantischen Vorstellungen gefangen. Während Jennifer erstaunlich mehrdimensional gezeichnet ist, gibt Elli das Bild einer kindlichen 32-Jährigen, deren Traum so aussieht:

"Sie hat einen Job als Journalistin bei einer der wichtigsten Zeitungen des Landes, beneidenswert unkompliziertes Haar, einen Körper, der im Grunde an den richtigen Stellen kurvig oder schlank ist, und ist hübsch genug, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, wobei sie immer noch so tut, als wäre ihr das unangenehm. (...) Sie hat noch nicht das Alter erreicht, in dem es als persönliches Versagen betrachtet werden könnte, wenn man weder Mann noch Kinder hat." (S.377)

Willkommen im Jahr 2003 - bis auf den beruflichen Erfolg scheint sich zu 1960 wenig geändert zu haben. Nach dem Traum einen Job zu haben, kommt sofort das gute Aussehen. Unverheiratet, keine Kinder zu haben, gilt als persönliches Versagen. Hat sich unser Bild vom erfolgreichen Leben so wenig verändert? Laut Moyes scheint es so zu sein - Elli verkörpert zwar eine Frau, die sich in ihrem Beruf behaupten kann und Erfolge aufweisen kann, doch ihre Gedanken kreisen ausschließlich um ihre Liebesaffäre und den Wunsch in einer festen Beziehung zu leben.

Während der Roman recht gut die gesellschaftlichen Umstände der 60er Jahre aufzeigt, mit der Doppelmoral und den Schwierigkeiten für Frauen, sich selbst zu verwirklichen, ist der Blick auf unsere Zeit erschreckend altmodisch.

Was bleibt? Eine schöne Liebesgeschichte - auch wenn die Liebesszenen für meinen Geschmack "too much" sind, eine interessante Erzählstruktur, "Eine Handvoll Worte", die zeigen, wie sich die Abschiedsbriefe im Lauf der Zeit verändert haben und die Erkenntnis, dass ich in Zukunft die Hände von Moyes Roman lasse ;)

Hier geht es zu Miras Rezension.

Buchdaten
Taschenbuch, 590 Seiten
Rowohlt, Oktober 2013


Donnerstag, 22. März 2018

Ulrich Ritzel: Nadjas Katze

- ein Stofftier führt in die Vergangenheit.

Ulrich Ritzels Kriminalromane mit dem eigenwilligen Kriminalkommissar Hans Berndorf sind Garanten für intelligente Fälle, die - wie in "Der Schatten des Schwans" - in die dunkelste Vergangenheit unserer Geschichte führen. So auch dieses Mal.

Worum geht es?
Die pensionierte und geschiedene Lehrerin Nadja Schwertfeger entdeckt in einem Antiquariat ein dünnes Heftchen.

"Über den verblichen-gelben Umschlag zieht sich in schwarzer Flammenschrift der Titel Die Nachtwache des Soldaten Pietzsch, als Autor ist ein Paul Anderweg angegeben." (S.7f.)

1947 im Selbstverlag erschienen und in Nördlingen gedruckt.

Nadja sammelt Bücher, Erzählungen und Veröffentlichungen vergessener Autoren und aus einem unbestimmten Grund nimmt sie dieses Heftchen mit.
Beim Lesen bleibt sie an einem Absatz hängen,

"Haben schwarze Katzen rosa Tatzen und eine rosa Schnauze?" (S.10)

Ihre altes Schmusetier, Maunz, sieht genauso aus, wie in der Erzählung beschrieben. Sie ist das einzige, was Nadja von ihrer leiblichen Mutter mit auf den Weg bekommen hat. Sie wurde als vier Wochen altes Baby im Februar 1946 von Roswitha Schwertfeger, wohnhaft in Ravensburg, und deren Mann adoptiert. Ihr richtiger Name lautet Nadeshda Helena, ihre Mutter, eine Polin oder Russin, habe Roswitha das Kind anvertraut.

Voller Neugier liest Nadja die Erzählung Anderwegs, die aus der Perspektive des Soldaten Pietzsch das Geschehen in der Nacht vom 19.April 1945 in einem kleinen Dorf in Württemberg schildert. Im Schulhaus, das sehr genau beschrieben wird, lebt eine Flüchtlingin mit ihrem 4jährigen Sohn Lukas, es gibt einen russischen Militärarzt und eine Truppe SS-Männer, die auf der Flucht vor den Alliierten sind. Im Schulhaus wird in dieser Nacht getanzt und besonders ein Akkordeon-Spieler sorgt für gute Stimmung. Pietzsch ist in der Nacht im Haus des Dorfbürgermeisters, dessen Schwiegertochter eben jenes Stofftier-Unikat näht, das sich in Nadjas Besitz befindet.

Aufgerüttelt von der Erzählung beschließt Nadja, jenes Dorf zu suchen und stellt fest, dass der Gauleiter Murr von Württemberg sich am 19.April über das Kloster Urspring ins Große Walsertal abgesetzt hat. Es ist also durchaus möglich, dass die Erzählung wahre Erlebnisse schildert.
Gemeinsam mit einer Freundin landet sie schließlich in Wieshülen und wird mit einer Mauer aus Schweigen konfrontiert.
Über den neuen Besitzer des Schulhauses geraten sie an Carmen Weitnauer, die wiederum ist eine alte Schulfreundin von Hans Berndorf, der seine Kindheit in Wieshülen verbracht hat. Inzwischen ist er Privatdetektiv in Berlin und Nadja beschließt ihn zu kontaktieren.
Nachdem Berndorf die Erzählung gelesen hat, ist sein persönliches Interesse geweckt - doch er offenbart seine Motive zunächst nicht.
Er schlägt Nadja vor, etwas über den Autor Paul Anderweg herauszufinden - gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Nördlingen und stoßen auf einen Journalisten, der für die Zeitung gearbeitet hat.
Langsam aber sicher entschlüsseln Berndorf und Nadja die Figuren aus der Erzählung, decken dunkle Geheimnisse des Ortes auf und nähern sich der Antwort, wer Nadjas Eltern gewesen sein könnten, während ihr Verhältnis sehr unterkühlt bleibt - beide sind Einzelgänger.

Zwei weitere Erzählungen Anderwegs führen in dunkle Kapitel deutscher Geschichte und geben einen Einblick, welche Rolle die Russische Befreiungsarmee ROA am Ende des 2.Weltkrieges gespielt hat. Im Gespräch mit seiner Lebensgefährtin Barbara äußert Berndorf auf die Frage, wo sie in ihren Recherchen hingeraten seien:

"In den Wald der Erinnerungen. (...) Da darf man keinen Schritt zur Seite tun. Und das Gebüsch am Wegrand nicht zur Seite schieben. Nicht in diesem Land. Überall liegen noch Skelette herum." (S.250)

Bewertung
Obwohl es in der Vergangenheit, im April 1945 einen Mordfall gegeben hat, ist der Roman kein Krimi im klassischen Sinn. Das Aufdecken der Tat geschieht sozusagen nebenbei - während der Suche nach Nadjas Mutter. Die vielen Figuren in der Gegenwart und der Vergangenheit verwirren zunächst, glücklicherweise findet sich am Ende eine Übersicht, so dass man den Faden nicht verliert.
Der verschlungene Weg zur Wahrheit ist dennoch recht verworren und man darf nicht querlesen - sonst ist er doch wieder weg, der rote Faden.
Nadjas Wunsch herauszufinden, wer ihre leibliche Mutter gewesen ist, steht für mich gar nicht so sehr im Vordergrund der Geschichte, sondern eher die Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte. Es sind viele Verbrechen, die im Roman aufgedeckt und bewusst gemacht werden. Sei es die Beteiligung der Musiker an der Erschießung von Juden oder die Vergewaltigung der Nichte durch den Onkel, der Installateur in einem Heim für behinderte Kinder gewesen ist, die bis zu Beginn der 1940er Jahre ebenfalls vergast wurden. Berndorf, der unsentimentale, nüchterne Ermittler deckt längst vergangenes Verbrechen auf, auch solches, das nicht verjährt.
Dabei gerät seine eigene Kindheit in den Fokus und auch er erfährt Überraschendes über seine Mutter - jene Flüchtlingin aus Paul Anderwegs Geschichte.

Ein lesenswerter, spannender und interessanter Krimi gegen das Vergessen.

Buchdaten
Taschenbuch, 442 Seiten
btb, 2016

Vielen Dank an das Bloggerportal für das Lese-Exemplar.

Freitag, 16. März 2018

Wilson Collison: Tod in Connecticut

- Mord in der High Society.

Im Mittelpunkt der Romane von Wilson Collison stehen unkonventionelle junge Frauen in den 20er und 30er Jahren in New York, wie Nancy in "Die Nacht mit Nancy" oder wie die Millionenerbin Nolya, deren zweifelhafter Ruf ihr vorauseilt - zu Recht?


Worum geht es?
Wir treffen die Protagonistin Nolya Noyes beim berühmten Arzt Doktor Banfield, sie ist ernsthaft krank - viel mehr erfahren wir nicht darüber. Sie reflektiert über ihr bisheriges Leben und kommt zu dem Schluss, dass Freunde versuchen,

"einen Kreis um sie ziehen, eine Mauer zu errichten, die ihr Leben darauf beschränken würde, einem endlosen Kreislauf der Konventionen zu folgen. Sie verlangte doch lediglich, ihre Intelligenz frei nutzen zu dürfen, mehr nicht. Menschen und Freunde wurden mit einem gewissen Status geboren und veränderten sich so wenig. Sie standen fest zu ihren Moralvorstellungen und eingefahrenen Denkmustern. Und Nolyas Unwille, solche vorgegebenen Verhaltensmuster zu akzeptieren..." (S.12f.)

Eine junge, sehr attraktive Frau, die ihre Leben selbst bestimmen will und sich nicht an den ihr vorgeschriebenen Lebensweg hält. Hinter ihr liegt eine Affäre mit einem verheirateten Mann, Arthur Raymond, der seine Frau verlassen hat, um mit ihr zu leben - bis sein Vater, ein bekannter Anwalt, eingegriffen hat. Nolya musste ihm versprechen, seinen Sohn in Ruhe zu lassen und weil sie ihn liebt, will sie dieses Opfer bringen.

"Arthur gehörte der Vergangenheit an. Die Asche war verstreut, und verstreute Asche konnte man nicht einfach einsammeln und zu einer neuen Wirklichkeit aus Fleisch und Blut zusammensetzen. Arthur war nicht ihr Liebhaber gewesen. Er war Liebe." (S.41)

In ihrer Gegenwart bemüht sich der Künstler Neil um sie, mit dem sich vor einigen Jahren schon verbandelt gewesen ist.

"Wie lange war das her, seit die Leidenschaft sie in diesen Strudel mit Neil Rendon gezogen hatte? Vier Jahre, sie war einundzwanzig gewesen. Er fünfunddreißig. Jetzt war sie fünfundzwanzig, und Neil ging auf die vierzig zu. Mit einundzwanzig hatte die Leidenschaft sie zerstört. Die Liebe versuchte, sie mit fünfundzwanzig wieder aufzurichten. Aber die Liebe hatte kaum eine Chance." (S.47)

Obwohl sich Nolya nur dieses eine Mal von ihrer Leidenschaft hat hinreißen lassen, hängt ihr der Ruf nach, sie sei ein leichtes Mädchen, ein Flittchen. In den dekadenten 20er Jahren in New York wird sie dafür bewundert und begehrt, gleichzeitig gilt sie als persona non grata der gehobenen Gesellschaft, auch wenn ihr das niemand offen ins Gesicht sagt.

Sie selbst ist unglücklich, denn Neil liebt sie, sie liebt Arthur, kann diesen aber nicht haben. Ihre Zeit vertreibt sie sich mit teuren Vergnügungen - als reiche Millionenerbin kann sie sich das leisten. Sie erwägt sogar aus New York weg zu ziehen, doch ihre Gedanken drehen sich im Kreis - um Arthur, um Neil...

"Gedanken hatten etwas sehr Unbefriedigendes an sich. Sie waren zweifelhafte, flüchtige Gesellen, die umherflitzen und zaghafte Vorschläge machten, raffinierte, aber halbgare Pläne schmiedeten, aufrührerische Vorhaben und aufmüpfige Ideen unterbreiteten. Aber fast immer verscheuchte man die hinterlistigen kleinen Gesellen und blieb letztlich mit einem Gefühl des Scheiterns zurück." (S.108)

Schließlich ringt sie sich Mitte Dezember durch, im Januar nach Paris zu reisen - mit dem Schiff.
Doch zuvor gerät sie zusammen mit dem jungen, reichen Bobby Brandon auf die Silvesterparty der Raymonds, auf der sie erneut auf Arthur und dessen Vater trifft und auf der ein Mord geschieht, der die Beteiligten zum schnellen Handeln zwingt.
Ein furioses Finale beginnt, das ein überraschendes Ende bereit hält.

Bewertung
Im Roman gibt es ein sehr interessantes Gespräch zwischen Arthurs Vater und Bobbys Vater, einem renommierten Psychologen. Während Mr Raymond Nolyas Verhalten scharf kritisiert und die gängige Meinung der Gesellschaft vertritt, die Nolya wider besseren Wissens als Flittchen tituliert und ihr alle möglichen Geschichten andichtet, verteidigt Mr Brandon sie.

"Weil ich sie verstehen kann. Überschuss an Gefühlen. Ein ungewöhnliches Gehirn. Eine Rebellin gegen die Gesellschaft." (S.154)

Er ist der Überzeugung, dass die Gesellschaft Schuld an ihrem Ruf trägt, denn sie hat es gewagt, diese gesellschaftlichen Regeln zu übertreten. Ein Umstand, den Arthurs Frau Betty ihrem Mann, mit dem sie sich wieder versöhnen will, vor Augen hält.

"So sind die gesellschaftlichen Spielregeln, Arthur. Wir müssen sie lernen und uns daran halten. Wir müssen so große Angst davor haben, dass jemand uns und unser Leben bloßstellt, dass wir das Gesetz gar nicht erst brechen." (S.189)

Nolya, die ihr Leben als Sonate empfindet:
"Leidenschaft und Reue, rastloses Umhereilen, erschöpfte Passivität" (S.141),

passt nicht in dieses Bild und hält sich auch nicht an die Spielregeln, auch wenn sie am Ende, genau wie Nancy, nicht so rebellisch handelt, wie man es vielleicht erwarten würde.
Collison hält mit Humor der Gesellschaft der 1920er den Spiegel vor und hinter dem Spiegel entsprechen die Menschen nicht den (Vor-)Urteilen, die wir über sie gefällt haben.

Ein Roman mit interessanten Figuren, spannend und geistreich.

Vielen Dank für das Lese-Exemplar.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 305 Seiten
Louisoder, 2018

Sonntag, 11. März 2018

Gerbrand Bakker: Jasper und sein Knecht

- Tagebuch aus der Eifel.

Momo mit "Jasper und sein Knecht"
Beim Stöbern auf der Suhrkamp-Verlagsseite ist mir dieser Titel deshalb ins Auge gesprungen, weil ein Hund darauf zu sehen ist. Wer meinen Blog kennt, weiß, dass ich selbst einen schwarzen Labrador und daher eine große Affinität zu Hunden habe. Als ich dann noch in den Informationen zum Buch gelesen habe, dass der niederländische Autor Gerbrand Bakker seinen Alltag in der Eifel, die nur eine Autostunde vom Hochwald - meiner Heimat - entfernt liegt, beschreibt, dachte ich, das könnte etwas für mich sein, obwohl ich zugegebenermaßen von Bakker noch keinen Roman gelesen habe - bis jetzt. Das muss und wird sich ändern.
Die vorliegende Autobiographie ist ein Tagebuch, das Bakker am 3. Dezember 2014 in Schwarzbach (Eifel) beginnt und am 14.März 2016, den Epilog eingeschlossen, beendet.

Bakker plaudert zunächst über seiner Familiengeschichte, erzählt von seinem Opa Bakker, den er sehr geliebt hat, aber auch von seinem Alltag in der Eifel. Seinen Spaziergängen mit seinem Hund Jasper, den Gesprächen mit Nachbarn Klaus und davon, dass der Film zu seinem Roman "Boven is het stil" (Oben ist es still) in den Niederlanden im Fernsehen läuft, er selbst hat sich in das Drehbuch überhaupt nicht eingemischt. Viel Raum nimmt sein Gartenkumpel Han ein, der ihn oft mit seinem Auto von der Eifel nach Amsterdam oder zurück mit nimmt - Bakker hat keinen Führerschein.

Dass er kein einfacher Zeitgenosse ist, wird am Eintrag vom 10.Dezember deutlich.

"Wenn ich Besuch habe, kann ich nichts mehr. Ich muss irgendwann lernen, einfach ein eigenes Leben weiterzuleben. (...) Manchmal stell ich mir vor, was es bedeutet, verheiratet zu sein, für jemanden wie mich, meine ich. Eine Katastrophe wäre das, Tag und Nacht auf Tuchfühlung. Niemals Ruhe, immer reden müsse." (S.21)

Im e-mail Kontakt mit einem Engländer, den ihm eine ehemalige Buchhändlerin vermittelt, offenbart Bakker seine Homosexualität und, dass er "ein nicht unkomplizierter Mensch sei." (S.38)

Er selbst sieht sich als schwarzes Schaf seiner Familie, er hat 2 ältere, 2 jüngere Brüder und eine Schwester, ist jedoch der einzige, der mit Schreiben seinen Lebensunterhalt verdient. Neben den Romanen, die er verfasst hat, schreibt er Kolumnen für den Groene Amsterdam und für Trouw.

Warum verschlägt es einen niederländischen, renommierten Autor in die Eifel?

"Schon lange wollte ich fort aus der Stadt, wieder auf dem Land leben. Aber ich wusste auch, dass ich nicht in meine Heimatgegend zurückkehren durfte. Dort würde ich es nicht aushalten." (S.31)

Ich glaube, ich habe das Eifelhaus vor allem wegen des tausendsechshundert Quadratmeter großen Grundstücks genommen. Als ich es kaufte, war ich fünfzig undhatte erst kurz zuvor entdeckt, dass ich keine dreißig mehr war. Immer denkt man: Später, später kommt das alles, obwohl längst später ist." (S.135)

Seit Dezember 2012 wohnt Bakker in dem Haus in der Eifel, hat begonnen es zu renovieren und auch in den Jahren 2014/15 werkelt er eifrig daran weiter - Terasse, Steinmauer, neues Bad.
Viel Energie widmet er dem Garten, was daran liegen mag, dass er tatsächlich ausgebildeter Gärnter ist. Das Haus ist ein Rückzugsort, ein begrenzter Bereich, in dem er sich sicher fühlt und für sich sein kann. Indem er sich der Tatsache stellen kann, dass er seit fünf Jahren keinen Roman mehr geschrieben hat. Dieser "Krise" begegnet er, in dem er dieses Tagebuch schreibt.

"Jasper und sein Knecht"?

Sein Verhältnis zu Hunden und wie er seinen eigenwilligen Jasper gekommen ist, erklärt Bakker sehr ausführlich im Eintrag zu Weihnachten 2014. Fast beiläufig schildert er, dass der Irish Red Setter Tasja, mit dem er aufgewachsen ist, im Juni 1969 mit seinem kleinen Bruder Arien gemeinsam zum Wassergraben gelaufen sei und allein zurückkehrte - ein Ereignis, über das er später geschrieben habe und das für ihn aus diesem Grund "vollkommmen unscharf [ist], und ich weiß selbst nicht mehr, was ich erfunden habe und was nicht." (S.45)

Bakker glaubt, dass der Tod seines Bruders "mit einem vagen Schuldgefühl verknüpft ist, das [er] schon damals hatte und von dem [er] heute weiß, dass es selbst wiederum mit einer Depression verknüpft ist, [s]eine Begleiterin seit früher Jugend." (S.104)

Zurück zu Jasper:

Auf seinen Hund ist er über eine Internetseite gestoßen. Jasper ist eine Promenadenmischung aus Griechenland. Er entpuppt sich als echter Jagdhund, der, sobald Bakker ihn von der Leine lässt, verschwindet. Ein Hund, der "einen Knecht" hat und zunächst wenig Liebe gibt.
Wie sich die Erziehung Jaspers und das Verhältnis zu seinem Knecht gestalten, wird fast täglich so unterhaltsam und liebevoll von Bakker dokumentiert und kommentiert, dass Jasper auch mir als Leserin ans Herz gewachsen ist, obwohl er Labradore "aus tiefstem Herzen" hasst. (S.22)

Es gibt auch sozial verträglich Labradore, die keine 45 Kilo schwer sind (was definitiv zu viel ist) und angeleint werden, sobald ein anderer Hund in Reichweite ist ;)

Ist das alles?
Reden über Hunde, über das Schreiben, über errungene Preise, das Gärtnern, Vögel und die Nachbarn?

"Mich heimlich aber doch fragen, wann ich nun endlich auf die Geschichte meiner psychischen Verfassung zu sprechen komme. Das schiebe ich vor mir her, sicherer ist es jetzt, etwas über einen Cashin-Ofen zu schreiben und über Jasper und das Wetter und Haubenmeisen. Vögel sind etwas sehr Tröstliches." (S.89)

Behutsam nähert sich Bakker seiner eigenen (Leidens-)Geschichte, erst im 2.Teil des Tagebuchs stößt er zum eigentlich Kern vor und schreibt über seine Depressionen, über Phasen in seinem Leben, in denen er sich "verbraucht" fühlte.
"Von einem lebenslangen Kampf gegen >etwas<." (S.170)

Er berichtet von zwei einschneidenden Erlebnissen aus den Jahren 2011, da hätte er nach China reisen sollen, und 2013 zu einem Literaturfestival in Buenos Aires. Beide Reisen sagt er kurzfristig hat. In seinem Blog schrieb er zunächst nichts über seine Empfindungen:

"Was man nicht benennt, ist nicht wirklich." (320)

"Wenn ich darüber nachdenke, kommt mir mein ganzes Leben wie eine Abfolge von Durchschleppphasen vor." (S.372)

Diese "Durchschleppphasen" arbeitet er in seiner Autobiographie auf, legt den Finger in die offenen Wunden und gibt sehr viel von sich Preis. Das, was Thomas Schaefer äußert:

"Wer dieses Buchliest, wird davon berührt" (Buchrückseite),

kann ich nur bestätigen - und das liegt nicht nur an Jasper. Bakker öffnet sich, schreibt schonungslos über seine Krankheit und wie er damit umgeht - und beobachtet sich selbst dabei so sorgsam wie seinen Hund Jasper, seine Nachbarn, seine Umgebung, die Vogel - und Pflanzenwelt der Eifel - mit Ernsthaftigkeit, aber auch mit Humor.

Was erfahren wir noch über Bakker?

  • Mitwirkender bei vielen Theateraufführungen
  • Diplom in Kulturarbeit, danach studierte er in Amsterdam Niederländisch mit dem Schwerpunkt Historische Sprachwissenschaft
  • erfolgreicher Eisschnellläufer, nach einer Verletzung Eisschnelllauftrainer
  • Bergsteiger
  • tätig als Untertitler unter anderem von "Reich und schön"
  • Begonnen hat er seine Schriftstellerkarriere mit etymologischen Wörterbüchern, was auch für die Leser*innen zu interessanten Erläuterungen von Vogel- und Pflanzennamen im Deutschen und Holländischen führt
  • wegen seines Geldmangels absolvierte er eine Ausbildung zum Gärtner, daher die profunde Kenntnis beim Bepflanzen seines Gartens
  • 2010 Gewinner des International DUBLIN Literary Award für "Oben ist es still"
  • Lunch bei der niederländischen Königin entpuppt sich als Enttäuschung
  • 2 Gläser Weißwein sind genau richtig
Diese Aufzählung könnte ich noch endlos fortsetzen, Bakkers Leben und Alltag sind alles andere als langweilig. Mich haben seine Reflexion über seine Krankheit, sein Schreiben und seine Vergangenheit neugierig auf die Romane gemacht.
"Oben ist es still" steht ganz "oben" auf meiner Wunschliste.

Eine sehr interessante Biografie, die zu Herzen geht.

Vielen Dank dem Suhrkamp-Verlag für das Lese-Exemplar.

Buchdaten
Taschenbuch, 445 Seiten
Suhrkamp, November 2017

Dienstag, 6. März 2018

Anne Reinecke: Leinsee

- farbenfroh, poetisch, komisch.                                                               

Leserunde auf whatchaReadin


Bei der Einteilung der Abschnitte in der Leserunde ist mir sofort ins Auge gefallen, dass jedes Kapitel als Überschrift eine oder mehrere Farben benennt, manche sind sehr ungewöhnlich wie "teichgrün", "regentageblau" oder sind eigentlich keine Farben wie "Gottweiß", das eigentlich ein Zusammenziehen von "Gott weiß" ist. Ein Ausspruch, den der Vater des Protagonist, immer verwendet hat.

Die Farben tauchen in dem jeweiligen Kapitel auf und haben eine besondere Bedeutung. Ob das daran liegt, dass die Hauptfiguren Künstler sind?

Worum geht es?

Karl ist Ende 20 und lebt mit seiner Freundin Mara in Berlin. Er ist ein aufstrebender Künstler, sie inszeniert Theaterstücke.

Ein unerwarteter Anruf verändert sein Leben: Sein Vater hat sich erhängt, seine Mutter liegt mit einem Hirntumor im Krankenhaus und wird operiert. Ausgang ungewiss. Sofort macht er sich auf den Weg nach "Leinsee", dem Haus seiner Eltern. Er fährt mit dem Zug, weil er noch vom Abend zuvor betrunken ist.

"Seit zwanzig Minuten kotzte er sich - ja, was eigentlich - aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für  -ach, auch egal." (S.7)

Die Gedanken Karl, die in Ellipsen daherkommen, verleihen dem Roman etwas Unmittelbares - trotz der Vergangenheitsform.

"Karl überlegte seitdem, wie das aussehen musste. sein Vater, erhängt. Am Lampenhaken, im Salon, in Leinsee." (S.8)

Doch während er sich das Gesicht seiner Mutter vergegenwärtigen kann, fehlt ihm das des Vaters. Warum kann -will er sich nicht erinnern?
Seine Eltern - Ada und August Stiegenhauer - gelten als das Künstlerpaar.
Am gleichen Tag geboren, haben sie sich in München an der Akademie der Künste kennen gelernt und bilden seitdem eine feste Einheit, die sich in ihren Kunstwerken ausdrückt. Aus flüssigem Harz gießen sie Formen, in die alle möglichen Gegenstände, Autobiographisches und Zufälliges, zu Staub zermahlen eingeschlossen ist.
Zwei Menschen, die nur sich sehen und wollen, eine Symbiose, die sich in ihrer Kunst widerspiegelt. Sie schließen sich symbolisch im Harz ein - abgeschottet von allen anderen.

Da stört ein Kind, so dass Karl mit 10 Jahren bereits ins Internat abgeschoben wird - dort lebt er unter dem Namen Karl Sund. Um die Anonymität zu wahren, besuchen seine Eltern ihn nie. Nach seinem Schulabschluss kehrt er nicht nach Hause zurück, so dass der Kontakt seit sieben Jahren abgebrochen ist.
Und jetzt ist er wieder in Leinsee und trifft auf den Assistenten seiner Eltern, den er wegen seines Aussehen kurzerhand Buddy Holly tauft und der genauso alt wie er selbst ist. Ein Ersatzsohn, der seine Stelle eingenommen hat? Zumindest hat er Karls ehemaliges Kinderzimmer in Besitz genommen,

"er hatte die Stiegenhauers irrsinnig bewundert und war wahnsinnig glücklich gewesen, so eng mit ihnen zusammenarbeiten zu dürfen Jetzt war er total außer sich, wegen der total tragischen Situation, so was Schreckliches, so ein tolles Paar und dann so was. Er fühlte sich selbst auch total verwaist und wusst gar nicht, wohin mit seiner Trauer. Echt jetzt." (S.35)

In der Wiedergabe der Worte Buddy Hollys blitzt der satirische Charakter des Romans auf, die übertriebene Wortwahl, die Wiederholung "total", das Überschwängliche "wahnsinnig" "irrsinnig", da muss man einfach lachen.

Nach der Beerdigung seines Vaters beschließt Karl zunächst in Leinsee zu bleiben, gegen den Willen Maras, die ihn beschwört, nach Berlin zurückzukehren. Doch er weigert sich.

"Vielleicht blieb er einfach, weil ihn jetzt niemand mehr daran hindern konnte, in seinem Elternhaus zu wohnen. Keine Ahnung. Vielleicht war es auch dieses Kind. Wenn das Kind da war, ging es ihm am besten." (S.129)

Das Kind heißt Tanja und ist acht Jahre alt. Entdeckt hat Karl es oben im Kirschbaum, während es ihn beobachtet hat.
Gemeinsam vakuumieren sie eine tote Taube, die Tanja für ihn aus der Dachrinne genommen hat - seine Form der Kunst, Gegenstände im Vakuum zu verpacken - um sich unangreifbar zu machen?

Karl hinterlässt daraufhin Geschenke für Tanja im Kirschbaum, während sie die Steinplatten vor dem See zu Kontinenten formt. Begegnen sie sich im Dorf, folgen sie sich - immer auf Abstand und hüpfen im Gleichtakt oder stehen gemeinsam vor einem Schaufenster. Es scheint, als habe er eine Seelenverwandte getroffen, die ihn erdet. Wie wird sich diese Freundschaft entwickeln?

Während dessen erwacht seine Mutter aus dem Koma, ihr Gedächtnis ist jedoch nur unzureichend wieder funktionsfähig. Wird sie ihn erkennen?


Bewertung
Quelle: pixabay
Wenn ich dem Roman eine Farbe zuordnen müsste, dann wäre es für mich - buchenblättergrün.

Im Frühjahr, wenn die Buchen im Wald ihre ersten Triebe entfalten, riecht alles nach Neuanfang.

So wie Karl in seinem Zuhause, das es nie für ihn gewesen ist, da für ein Kind kein Platz an diesem Ort sein durfte, einen neuen Anfang wagt. In seinem alten Kinderzimmer baut er sich ein "Nest", rollt sich ein, wie ein Neugeborenes.

"Er wollte hierhergehören. Das hatte er schon immer gewollt." (S.205)

Seine Sehnsucht nach der Kindheit manifestiert sich in der Freundschaft mit Tanja, in ihren Spielen und in der neuen Beziehung zu seiner Mutter - auch wenn die auf einem Missverständnis basiert, das hier nicht verraten wird.

Tanja ist die Erste, die ihn sieht - als denjenigen wahrnimmt, der er ist und nicht der, der er zu sein scheint. Die Bedeutung der Wahrnehmung spiegelt sich auch in der genauen Beschreibung der Farben wider.

Tanja führt ihn ins Leben zurück und ihr Blick in seinem Rücken verändert seine Kunst, verändert ihn.

"Vor allem, wenn es darauf ankam, wenn er etwas besonders gut machen wollte, hatte er sich vorgestellt, sie sähe ihm zu." (S.234)

Es ist nicht nur diese außergewöhnliche Freundschaft, die den Roman so faszinierend macht. Auch die Figuren überzeugen, ebenso wie viele komische Szenen.
Herrlich, wenn Karl zwei Polizisten weis macht, er habe das Gewehr abgefeuert, weil er Kunst schaffen wollte. Ein Seitenhieb auf die Kunstszene? Die Autorin hat selbst Kunstgeschichte studiert, weiß, wovon sie schreibt.
Faszinierend finde ich ihren Stil - die erlebte Rede Karls - Richtung Bewusstseinsstrom -, die satirischen Elemente und die farbenfrohe, bilderreiche und lyrische Sprache.

"Er trank langsam seinen Kaffe aus und drehte sich nicht um. Er schob sich den winzigen Löffel in den Mund und drehte sich nicht um. Der Geschmack des Metalls war nicht von dem von Blut zu unterscheiden. Er rauchte eine Zigarette und drehte sich nicht um. Er bat um die Rechnung und drehte sich nicht um. Er zahlte und blieb noch drei Sekunden sitzen." (S.132)

Ein großartiges Debüt, auf das hoffentlich noch viele weitere Romane folgen werden.

Vielen Dank an Diogenes für das Leseexemplar.

Buchdaten
Taschenbuch, 366 Seiten
Diogenes, 28. Februar 2018

Samstag, 3. März 2018

Rebecca Hunt: Everland

- zwei Expeditionen in die Antarktis.

Lesen mit Mira

In diesem Monat scheinen Bücher und Aufenthaltsort bzw. Bücher und Wetter zusammen zu passen.
Hatte ich "Acht Berge", "Das Päckchen", die beide in den Bergen spielen, im Skiurlaub gelesen und "Unter der Drachenwand" gehört, fiel die Lektüre von "Everland" in eine Kälteperiode im Saarland - echtes Antarktis-Feeling.
Der Roman ist ein Geschenk Miras, mit der ich ihn auch gemeinsam lesen wollte. Allerdings hat sie nach über 100 Seiten die Segel gestrichen - es hat einfach nicht gepasst.
Der Wettlauf zwischen Scott und Amundsen zum Südpol hat mich immer schon fasziniert. In einem Interview äußert die Autorin, dass ihr Roman von Scotts Tagebüchern und denen von Sir Ernest Shackelton inspiriert wurde, die beide in der Antarktis gescheitert sind.

Die erste Expedition auf die fiktive Insel Everland findet im Jahr 1913 im März statt. Vom britischen Schiff Kismet aus starten drei Männer auf die unbekannte Insel. Im April 1913 wird nur einer von ihnen gefunden - unter dem Boot Joseph Evelyn, mit dem sie auf der Insel angekommen sind.

"Die Dankbarkeit war überwältigend. Dinners weinte, weil es ein Wunder war, dass man ihn gefunden hatte. Er weinte, weil sein halbtoter Körper ihn nicht im Stich gelassen hatte und er nicht allein in der Kälte hatte sterben müssen. Und er weinte um Napps und Millet-Bass, aus Trauer und Schmerz über das, was geschehen war. (S.8)"

Damit beginnt der Roman und wirft spannende Fragen auf: Was ist mit den beiden anderen geschehen? Warum ist die Expedition gescheitert? Warum liegt Dinners allein unter dem Boot?

Fast hundert Jahre später, im November 2012 startet erneut eine Expedition nach Everland - dieses Mal, um die Robben- und Pinguin-Population genauer zu untersuchen. Wieder sind es drei Menschen, die sich der Kälte aussetzen, im Gedenken an die historische erste Erforschung der Insel.

Am Tag vor dem Aufbruch steht der Film-Klassiker Everland auf dem Programm. Der Film basiert auf dem Logbuch von Kapitän Lawrence über die Expedition der Kismet, das den ersten Offizier Napps in äußert schlechtem Licht zeigt.

Das Interessante ist, dass alle Untaten Napps in der Erzähllinie, die vom März 1913 bis zum Zeitpunkt, als Dinners unter dem Boot Schutz sucht, reicht, aufgegriffen und aus seiner Sicht dargestellt werden.

Die drei Zeitebenen
- die erste Expedition (März 1913-April 1913)
- das Auffinden Dinners und die Ereignisse bis zur Rückkehr der Kismet nach Neuseeland (April 1913-September 1913)
- die Jubiläums-Expedition (November 2012-Dezember 2012)

werden parallel erzählt - etwas gewöhnungsbedürftig, aber auch spannungssteigernd.

Die Figuren in der historischen Expedition:
Napps ist der Erste Offizier auf der Kismet und steht in Konkurrenz zum Kapitän Lawrence, denn er

"verfügte über eine natürliche Autorität, die Lawrence abging und die er auch nicht nachahmen konnte. Mitansehen zu müssen, wie sich die Männer instinktiv am Ersten Offizier orientierten, raubte Lawrence den Schlaf. Dann lief er nachts in seiner Kajüte auf und ab und hatte Magenbrennen vor lauter Missgunst." (S.22)

Für ihn soll es die letzte Expedition sein, er hat seiner Frau Rosie versprochen, nach Hause zu kommen: "Es gibt nicht, was ich nicht tun würde, um zu dir zurückzukommen." (S.356)

Millet-Bass wird von Napps vorgeschlagen.

"Er war kräftig, leistungsfähig, und seine Talente als Matrose standen außer Zweifel" (S.66)

Dinners ist der Wissenschaftler der Crew. Beim äußerst ungünstigen Start der Expedition - 6 Tage irrt das Beiboot auf offener See, bevor sie die Insel erreichen, wird deutlich, dass er der Kälte und der Situation nicht gewachsen ist. Dementsprechend schwächt er die beiden anderen.

"Die Schwachen werden nicht von den Starken getragen, sondern reißen sie mit in die Tiefe" (S.68).

Wie gehen die anderen damit um? Und warum wurde ein Mann ausgewählt, der über keine Erfahrungen aufweisen kann?

Die Parallelen zwischen den Expeditionen wird  auf der Figurenebene offensichtlich.

"Sie waren auf derselben Insel, in einer ähnlichen Dreierkonstellation." (S.103)

Decker ist der Chef der Expedition, ein Mann, der zahllose Expeditionen hinter sich hat und dies soll seine letzte sein. Sein Wunsch ist es, in Zukunft mit seiner Frau Viv die Zeit, die ihm noch bleibt, zu verleben. Dafür würde er alles (?) geben.

Jess (29) ist ist Feldassistentin, "[i]hre Rolle bestand darin, die Mannschaft zu unterstützen. Sie kochten die Mahlzeiten, hielten die Ausrüstung in Schuss, sorgten, dafür, dass alles glattlief, und sprangen überall ein, wo es nötig war." (S.33)

Sie hat bei der Bergwacht gearbeitet, war Bergführerin und hat schon an einigen Expeditionen teilgenommen. Ihre großmäulige Art, ihr jungenhaftes Auftreten wirkt wie eine Schutzwall, sie gibt sich unnahbar, um nicht verletzt zu werden.

Brix (Mitte 30) ist die Wissenschaftlerin und hat keinerlei Erfahrungen in der Antarktis. Die berechtigte Frage: Warum ist sie mit im Team?

Ihre Unerfahrenheit kompensiert Decker, der sie in Schutz nimmt, während Jess ihr offen zeigt, dass sie Brix für unfähig hält und ihre Nominierung für einen Fehler.

"Decker war in Brix´Augen das Beste an Everland. Außerdem beschützte er sie vor dem, was das Schlimmste an Everland war: Jess." (S.76)

Die Parallelen sind aber auch auf der Handlungsebene zu finden. So betrachtet Dinners eine seltene Flechte, die nur einen Millimeter im Jahrhundert wächst, die gleiche Pflanze erstaunt auch Brix.
Jess entdeckt eine alte Ananasdose, ein Beweis für die erste Expedition, deren Mitglieder Gegenstand unzähliger Biographien sind - "Symbole einer Tragödie" (S.81).
Interessant ist auch die Szene, in der Napps und Millet-Bass die letzten überlebenden Seebären auf Everland entdecken und der Erste Offizier die Hoffnung hegt, die Spezies werde überleben. Im folgenden Kapitel (November 2012) treffen Brix, Jess und Decker auf 200 von ihnen.

Auch die Probleme ähneln sich, nicht nur die Kälte und die Wetterbedingungen machen beiden Teams zu schaffen, auch die Beziehungen untereinander sind explosiv. Diese psychologische Komponente, wie Menschen in Extremsituationen reagieren, welche Allianzen entstehen und wozu sie im Angesicht einer Katastrophe fähig sind, hat mich in Bann den geschlagen und macht neben der detaillierten Beschreibung der Kälte und der Natur mit ihren wenigen Bewohnern, den besonderen Reiz dieses Romans aus.
Wer übernimmt Verantwortung, wer lässt wen im Stich, wer ist in der Lage dazu einen Menschen zu opfern, um nach Hause zurück kehren zu können?

"Wie uns die Zeit dazu verleitet, zu sehen, wer wir wirklich sind und welche Entscheidungen wir treffen." (357)

Interessant ist auch zu lesen, dass trotz der verbesserten Ausrüstung, des technologische Fortschritts, die Expedition ein Wagnis, ein Abenteuer bleibt.

"Grässlich, wie abhängig wir voneinander sind", sagte Jess, als sie die Augen wieder aufschlug. "Fast wie Napps und seine Männer." (S.226)

In der 3. Erzähllinie rückt der Streit um die Ereignisse, die sich in Everland abgespielt haben könnten und die Rolle, die Napps dabei gespielt hat, in den Mittelpunkt. Trotz mehrerer Suchaktionen ist keine Spur von Napps und Millet-Bass zu finden, Dinners ist nicht in der Lage zu sprechen. Was ist auf der Insel geschehen?
Während Addison Napps guten Ruf verteidigt, finden sich immer mehr Matrosen, die in Opposition zu ihm gehen und offen ihre Meinung äußern, Napps habe Dinners im Stich gelassen.

"Napps´ professionelle Reputation war über alle Zweifel erhaben, die Beurteilung seines Charakters jedoch fiel um einiges widersprüchlicher aus. Es hing immer davon ab, mit wem man darüber sprach und wer auf welche Art seine Wut zu spüren bekommen hatte." (S.85)

Kapitän Lawrence ist nicht der Einzige, der Tagebuch führt, das sich hauptsächlich auf Vermutungen über das, was in Everland passiert sein könnte, stützt. Warum ist es seine Sicht der Dinge, die viele Jahre später im Film überleben?

"Lawrecnes Verpflichtung gegenüber der Wahrheit in seinem Logbuch war ein Thema, über das sich Addison lästigerweise massive Sorgen machte. Er befürchtete dass sich Lawrence von den Geschichten der Männer auf unfaire Weise beeinflussen ließe." (S.164)

Geschichten, die sich in Napps Erinnerungen größtenteils als falsch erweisen, doch seine Sicht der Dinge findet kein Gehör.

Ein Aspekt, den die Autorin in einem Interview zur Sprache bringt:

"Wir sind nicht die alleinigen Autoren unseres Lebens; bis zu einem gewissen Grad sind wir der Willkür verschiedener Interpretationen ausgesetzt. Je nachdem wie ein Ereignis endet, betrachten wir ein Verhalten als mutig oder waghalsig, entschlossen oder starrköpfig. Mich hat diese Wandelbarkeit der Geschichtsinterpretation interessiert; wie Scott zu einer kontroversen Figur wurde, deren Misserfolg, je nach herrschendem Zeitgeist, immer wieder neu eingeordnet wurde. "

Im Roman ist es die Figur Napps, die diesen Wandel erfährt und würde die Handlung fortgesetzt, wäre zu erwarten, nachdem die 2.Expedition seinen Verbleib klären kann, dass seine Beurteilung erneut revidiert wird.

Ein spannender Roman, der die Leser*innen auf zwei faszinierende und gefährliche Expeditionen in die Antarktis mit ihren extremen Bedingungen mitnimmt.