Dienstag, 30. Januar 2018

Yael Inokai: Mahlstrom

"Einen starken Sog auslösend"

- so beschreibt der Text auf dem Buchrücken den Effekt, den der Roman bei den Leser*innen auslöst.
Treffend, wie ich finde, denn einmal begonnen, kann man diesen kurzen Roman - eigentlich eine Erzählung, nicht mehr aus der Hand legen.

Worum geht es?
In einem Dorf im Tal entwendet eine junge Frau - Barbara - den dicken Wollmantel ihres Bruders und geht in den Fluss. Im "Mahlstrom" wird sie hinunter gerissen und ertrinkt. Warum hat sie ihrem Leben ein Ende gesetzt? Die Lösung des Rätsels liegt in der Vergangenheit, in ihrer Kindheit verborgen - teilweise.

Abwechselnd aus drei Sichtweisen - ihres Bruders Adam, ihrer Freundin Nora und dem Jungen Yann - wird die Geschichte jeweils in der Ich-Perspektive erzählt. Wie ein Puzzle setzen sich die vergangenen Ereignisse zusammen, bis am Ende ein vollständiges Bild entsteht.

Im Dorf herrscht eine Kultur des Schweigens, Wahrheiten werden nur heimlich geflüstert, das zeigt sich auch auf der Beerdigung Barbaras.

"Während der Predigt saht ich von meinem Platz aus Münder Dutzende von Mündern, die zu Ohren geführt wurden. Ich sah, wie sich die Münder bewegten, dun auch die Ohren, die das Gesagte aufnahmen. Ich sah, wie aus einem Ohr ein Mund wurde und er sich auf das nächste Ohr richtete, das wiederum zu einem Mund wurde, und wie der Pfarrer vorne seinen Mund weit und weiter aufsperrte beim Reden und doch nicht gegen das Wiederfinden der Worte ankam." (S.9)

Die christliche Botschaft vermag nichts gegen die Gerüchte auszurichten, denn Barbara passt nicht in das dörfliche Bild. Ein Mädchen, das geht wie ein Junge, sich hartnäckig im Architektenbüro des Vaters einen Platz erobert hat, obwohl ihm der Besuch des Gymnasiums verweigert wurde. Eine junge Frau, die sich mit der ihr zugedachten Rolle nicht zufrieden geben will, die Stille sucht und Einsamkeit sucht, sich zurückzieht.

Nora beschreibt die ihre Beziehung zu Barbara und die der anderen Dorfbewohner untereinander mit treffenden Worten:

"Manche hätten gesagt, wir sein Freundinnen gewesen. In einem Dorf von dieser Größe gibt es nicht viele Möglichkeiten: Entweder man mag sich, oder man hasst sich, oder man ist sich gleichgültig. Meist empfindet man das eine und handelt nach dem anderen." (S.15)

Schwächere werden gnadenlos in der Schule unterdrückt, "[k]einer war zu junge, getriezt zu werden, und kein Plärren und Betteln konnte das Gegenüber in seinem Angriff besänftigen." (S.16)

Barbara, die sehr groß ist und zu allem schweigt, entgeht diesen Demütigungen. Im Gegensatz zu Yann, dessen Familie von der Stadt ins Dorf zieht, in das Haus, das gegenüber von Noras steht. Klein und schmächtig hat er in der Schule keine Chance, in der Clique von Barbara, Adam, Nora sowie den Geschwistern Hans und Annemarie aufgenommen zu werden.

Hans, der das Dorf verlassen hat, erscheint ebenso wenig auf der Beerdigung wie Yann.

"Da war ich wesentlich erstaunter, dass der Yann und seine Eltern nicht erschienen sind, auch wenn sie eher zurückgezogen leben. Ein Dorf trauert eigentlich lückenlos." (S.25)

Nora stellt fest: "Die Abwesenden störten ihn." (S.30)

Von Hans erfahren wir, dass er eines von 13 Geschwistern gewesen ist und offensichtlich mit Nora eine Beziehung hatte, bis er vor vier Jahren einfach verschwunden ist. Der Tod Barbaras reißt die zurück gebliebenen Freunde aus ihrem mühsam aufrecht erhaltenen Leben und schwemmt jene Erinnerungen an die Oberfläche, die sie zu vergessen suchen.

Nora denkt an Yanns Eltern zurück, die mit dem beginnenden Frühjahr jedes Jahr ihr Leben nach draußen verlagerten.

"Den Sommer vor elf Jahren hatten sie ausgelassen. Keine Stimmen, kein Gebell, nicht einmal Wäsche an den Leinen. Leer und tot wie in all den früheren Jahren waren Haus und Garten die warmen Monate durch gewesen." (S.80)

Was ist in jenem Winter vor elf Jahren geschehen, was haben die fünf Kinder getan? Wie hängen Barbaras Tod und Hans Verschwinden aus dem Dorf und die Tat zusammen?

Während Nora Rechenschaft über das Geschehen ablegt und Yann sich behutsam an das Vergangene erinnert, verdrängt Adam die offenkundige Wahrheit. Wird es ihm gelingen, sich seinen Erinnerungen zu stellen? Wird er zu seiner Identität finden, die er ebenso erfolgreich verdrängt?

Bewertung
Die Erzählung spiegelt das Schweigen, das Verdrängen innerhalb einer Gemeinschaft, in die keiner von außerhalb vorzudringen vermag, authentisch wieder. Nach dem Selbstmord finden die Bewohner keine Worte, das Offensichtliche wird nur geflüstert, hinter dem Rücken weiter getragen. Auch das Verbrechen, das die Kinder begangen haben, wird von ihren Eltern zugedeckt, damit der Schein gewahrt bleibt. Was die Gemeinschaft bedroht, darf nicht sein oder muss weichen.

Eine Nebenepisode verdeutlicht das besonders gut. Barbaras Tante, unangepasst, da sie keiner Arbeit nachgeht und allein in einem kleine Haus lebt, mit den Kindern spielt, wird von ihrem Bruder gezwungen, das Dorf zu verlassen - sie passt nicht ins Bild, ebenso wenig wie Barbara.

Yanns Eltern werden gegrüßt, doch niemals aufgenommen, Zugehörigkeit wird verweigert.

"Hauptsache, man kann sich noch anständig grüßen. Anstand. Wo wären wir ohne Anstand!" (S.171)

Die Autorin deckt die Doppelmoral und Scheinheiligkeit dieser dörflichen Gemeinschaft schonungslos auf, die keine Abweichungen zulässt.

Aber sie zeigt auch, dass die Schuldigen mit der Tat letztlich nicht weiter leben können, wie sie Wege suchen, Reue zu zeigen und sich zu entschuldigen. Mut aufbringen, sich dem zu stellen, was sie dem Schwächsten angetan haben. Dafür findet Inokai wunderbare Worte, wie "schwarzer Schnee" für die Depressionen, unter denen das Opfer leidet. Noras Sprache ist wunderbar poetisch, Adam wirkt direkt, flüchtet jedoch vor seinen Erinnerungen und Yanns Stimme ist leise, behutsam, vorsichtig. Die Sprache spiegelt die Eigenschaften und Psyche der Figuren perfekt wider und jede der Figuren berührt auf ihre Weise.

Klare Lese-Empfehlung!


Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 180 Seiten
Rotpunktverlag, 2017

Sonntag, 28. Januar 2018

Peter Wohlleben: Das geheime Netzwerk der Natur

- verästelt, undurchschaubar, erstaunlich.


Das ist das erste Sachbuch, das ich auf meinen Blog bespreche. Das liegt daran, dass ich Romane bevorzuge und die Sachbücher, die ich lese, in der Regel beruflichen Hintergrund haben - und über die möchte ich nicht schreiben.

Warum also ein Sachbuch? Peter Wohlleben gab im letzten Jahr auf der Buchmesse ein Interview, das ich unbedingt hören wollte, da ich zuvor im Fernsehen eine Dokumentation zum geheimen Leben des Waldes gesehen hatte, die mich faszinierte. Im Interview stellte er sein neues Sachbuch vor und die Beispiele, die er daraus erzählte, schlugen mich in ihren Bann.


Auch deshalb, weil ich selbst im ländlichen Raum lebe, mitten im Naturpark Saar-Hunsrück - ein Gebiet mit großen zusammenhängenden Waldflächen. Gemeinsam mit der Familie nebst Momo, unserem schwarzen Labrador, wandern wir regelmäßig auf dem Saar-Hunsrück-Steig oder den dazugehörigen Traumschleifen oder streifen einfach durch den Wald. Da Spaziergänge zum alltäglichen Leben gehören, liegt mir der Wald sehr am Herzen, genau wie der ehemalige Förster Peter Wohlleben, der das Zusammenleben der Tiere und Bäume in der Natur erforscht hat und ganz in der Eifel eine Waldakademie leitet.

"Je intensiver man die Beziehungen zwischen den Arten beleuchtet, desto mehr wunderbare Dinge offenbaren sich. Ist die Natur nicht sogar noch viel komplexer als ein Uhrwerk? In ihr greift ja nicht nur ein Zahnrad ins andere, sondern alles ist auch noch untereinander vernetzt." (S.8)

An vielen Beispielen erklärt Peter Wohlleben verständlich und anschaulich, wie dieses Netzwerk der Natur funktioniert und welche großen Auswirkungen kleine Veränderungen nach sich ziehen können.

Ich möchte eines der Beispiele herausgreifen, um deutlich zu machen, dass es keine einfachen Zusammenhänge in diesem Netzwerk gibt.
Im Yellowstone-Nationalpark wurden im 19. Jahrhundert die Wölfe ausgerottet, in der Folge vermehrten sich die Hirsche so stark, dass diese die Flussufer kahl fraßen. Dadurch verödete das Land, es gab weniger Vögel und auch Biber, die auf Bäume am Flussufer angewiesen sind. Verödete Ufer bedeuten auch weniger Befestigung, so dass es zu Hochwasser und Erosionen kam.
1995 wurden Wölfe im Naturpark ausgesetzt, was eine Veränderung des Ökosystems nach sich zog.
Die Anzahl der Hirsche ging zurück und auch die Biber siedelten sich wieder an, die Überschwemmungen, die von ihren Dämmen verursacht werden, helfen den Bäumen in trockenen Monaten an Wasser zu kommen. Gleichzeitig vermehrten sich die Grizzlys, die im Herbst auf süße Beeren angewiesen sind, die ihnen aber von der Überpopulation an Hirschen "weggefressen" wurden.
Gleichzeitig lässt sich im Nationalpark noch ein anderes Phänomen beobachten. Dort haben wahrscheinlich Angler die "Amerikanische Seeforelle" eingeführt, die die ansässige "Cutthroat-Forelle" verdrängt, die von den Bären gerne gefressen wird. Da sie in kleinen Bächen laichen, sind sie für die braunen Jäger gut zu erreichen. Anders die Amerikanische Seeforelle, die ihre Eier am Seeboden ablegen, so dass die Bären hungrig bleiben, was dazu führt, dass sie verstärkt die Kälber der Hirsche ins Visier nehmen - im Gegensatz zu den Wölfen, die auch ältere Tiere jagen. Dadurch dass die Bären den Nachwuchs fressen, verändert sich die Altersstruktur der Hirschrudel.

"Der Fall zeigt noch einmal deutlich: Ökosysteme sind überaus vielschichtig, und Veränderungen betreffen niemals nur einzelne Arten. (...) Die große Uhr hat doch mehr Zahnräder, als bis heute bekannt ist." (S.24)

An vielen weiteren Beispielen zeigt Peter Wohlleben eindrücklich auf, wie kompliziert die Zusammenhänge im Ökosystem sind und dass das gut gemeinte Eingreifen des Menschen oft fatale Folgen haben kann.

Er führt uns vor Augen, wie wenig wir eigentlich wissen, so ist das Leben im Grundwasser beispielsweise kaum erforscht und er weist ausdrücklich auf die Gefahren des Fracking hin, dessen Folgen seiner Meinung nach wir nicht abschätzen können:

"Auf solche rüde Eingriffe ist dieses Ökosystem nicht vorbereitet. Seine Eigenschaften sind ja die ewig gleichbleibenden Bedingungen und die extreme Langsamkeit." (S.52)

Der Fokus seiner interessanten Untersuchungen liegt auf dem Wald und seinen Bewohnern und dem Einfluss, den wir Menschen auf den Wald ausüben. Sei es die wirtschaftliche Nutzung, die Fütterung der Waldtiere oder die Folgen der Monokultur. An vielen Beispielen bringt er uns diesen Lebensraum näher und immer wieder gerät man ins Staunen darüber, wie gut die einzelnen Lebewesen und Pflanzen vernetzt sind.
Ein Kapitel widmet sich auch den Mythen, den einfachen Zusammenhängen wie die alten Bauernregeln, die Wohlleben ins Reich der Märchen verbannt.
Er räumt auch mit dem Mythos auf, dass wir mit Rettungsmaßnahmen für einzelne Tiere oder Pflanzen etwas Gutes tun würden:

"An den in den vorherherigen Kapiteln dargestellten Beispielen kann man gut erkennen, wie fragil das System ist und welche Folgen der Ausfall einer einzigen Art haben kann." (S.137)

"Anstatt hier und da einen Rettungsversuch in Form einzelner Bäume zu unternehmen, die vor der Holzernte verschont werden, sollten großflächige Areale komplett aus der forstwirtschaftlichen Nutzung genommen werden." (S.144)

Auch der Frage, was denn eigentlich Natur sei, widmet er sich.

Am Ende des Sachbuches steht das Klima und die Erderwärmung im Vordergrund. Wohlleben weist darauf hin, dass es vor allem die Geschwindigkeit ist, mit der sich die Kohlenstoffdioxidkonzentration verändert, die den Bäumen zu schaffen macht. Schwankungen hat es in der langen Erdgeschichte mehrere gegeben, doch der Eingriff des Menschen, die Industrialisierung hat diese torpediert.

"Höhere Temperaturen sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes, solange die Natur sich darauf einstellen kann." (S.155)

Auch Bäume wandern und können sich auf veränderte Temperaturen einstellen, aber sie brauchen Zeit dafür, die wir ihnen nicht geben.

Wohlleben stellt viele interessante Fragen, gibt Denkanstöße und bringt uns das geheimnisvolle Netzwerk der Natur näher.

Ein Muss für alle, die den Wald lieben und denen die "Natur" am Herzen liegt.

Vielen Dank ans das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar,

Buchdaten
Gebundene Ausgabe, 224 Seiten
Ludwig Verlag, 2017

Freitag, 26. Januar 2018

Markus Zusak: Der Joker

- und die Botschaften.

Lesen mit Mira

Seit über einem Jahr lesen Mira und ich jetzt schon jeweils am Monatsende einen Roman gemeinsam, gerne auch einen Jugendroman. Da wir beide "Die Bücherdiebin" kennen, liegt es nahe, auch diesen zu lesen, für den Zusak im Jahr 2007 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhalten hat.

Worum geht es?
Im Mittelpunkt steht Ed Kennedy, aus dessen Ich-Perspektive die Handlung erzählt wird und der sich selbst den Leser/innen vorstellt:

"Mein Name lautet Ed Kennedy. Ich bin neunzehn Jahre alt. Eigentlich zu jung, um als Taxifahrer zu arbeiten. Ich bin ein typisches Beispiel für viele der jungen Männer, denen man in diesem provinziellen Außenposten der Großstadt begegnet - man hat hier einfach kaum Perspektiven oder Möglichkeiten." (S.12)

Eds Vater, ein stiller Alkoholiker, ist vor kurzem gestorben, seine Mutter verhält sich ihm gegenüber lieblos und distanziert, während seine drei Geschwister alle die Stadt verlassen haben.
Neben dem Taxifahren verbringt er die Abende mit seinen Freunden Marv, der eine Schrottkarre fährt und unglaublich geizig ist, und Richie, der von der Sozialhilfe lebt und keine Lust auf gar nichts zu haben scheint. Mit von der Partie ist auch die hübsche Audrey, die ebenfalls Taxi fährt und in die Ed verliebt ist.
Allerdings kommt Audrey, genau wie Ed aus schwierigen familiären Verhältnissen und will sich nicht auf eine echte Liebesbeziehung einlassen, obwohl sie ihn offenkundig ebenfalls liebt.
Beide leben jeweils allein ein einer "Hütte" (S.25) - Eds Mitbewohner ist der stinkende Hund "Türsteher", der jeden freudig begrüßt ;) und mit dem Ed die schönsten Gespräche führt.

Zu Beginn gerät Ed in einen Banküberfall, der offenkundig von einem Amateur durchgeführt wird, so dass es Ed gelingt, ihn an der Flucht zu hindern. Er wird kurzfristig zum lokalen Helden, während der Bankräuber, der ins Gefängnis muss, ihn bedroht:

"Du bist ein toter Mann. Wart´s nur ab (...). Denk dran, was ich dir gesagt habe. Denk jeden Tag daran, wenn du in den Spiegel schaust." (S.52)

Zeitgleich findet Ed eine Spielkarte in seinem Briefkasten - das Karo-Ass, auf dem drei Adressen und eine Uhrzeit stehen. Schnell wird Ed klar, dass er dorthin gehen muss. Gleich bei der ersten Adresse erwartet ihn ein sich abendlich wiederholendes Verbrechen - ein Mann, der seine Frau missbraucht.

"Es ist so, las ob ich auserwählt wäre. Aber auserwählt wozu?, frage ich mich. Die Antwort ist ganz einfach. Damit es nicht egal ist" (S.57)

...dass so etwas geschieht und möglich ist. Und in der Tat scheint Ed von jemand Unbekanntem dazu auserkoren, anderen Menschen Gutes zu tun, ihnen Botschaften zu überbringen.

Vier Asse - vier mal drei Aufgaben, die auf eine kreative Lösung warten. Immer näher dringen sie in sein unmittelbares Umfeld vor. Ganz am Ende wartet der Joker auf ihn.

Bewertung
Ein bemerkenswerter Roman und das aus vielerlei Hinsicht:

1. Der Aufbau ist interessant - 5 Teile, jeweils ein Ass und der Joker stehen für einen Teil. Die Kapitel gehen von Ass-König (also jeweils 14) und enthalten jeweils drei Botschaften, die Ed "überbringen" muss. Ausnahme bildet der letzte Teil, in dem sich die Frage nach dem Joker löst.

2. Die Sprache ist außergewöhnlich. Neben der Ansprache an die Leser/innen und sehr kurzen Sätzen, manchmal nur einzelne Worte,

"Du weißt wahrscheinlich bereits, was ich in der Angelegenheit Edgar Street beschlossen habe zu unternehmen. Zumindest wenn du begriffen hast, wie ich bin.
Zögerlich.
Nachgiebig.
Schwach." (S.61)

stehen derbe Ausdrücken unter den Jugendlichen ungewöhnlichen Bildern gegenüber.

"Die Gewalt mischt sich ein. Sie bohrt ihre Finger in alles was sie zu fassen kriegt, und reißt es auf. Alles fällt entzwei, und ich verfluche mich selbst, weil ich so lange damit gewartet haben, dem ein Ende zu bereiten." (S.101)

3. Der Protagonist wird, obwohl er zunächst wie ein Loser wirkt, der zu schwach und antriebslos ist, irgendetwas zu bewegen, immer sympathischer und wächst an seinen Aufgaben. Er entwickelt sich, schöpft aus den geglückten Botschaften Kraft und verändert Schritt für Schritt sein Leben.

4. Der Schluss, den ich nicht vorwegnehmen will, hat eine klare "Lehre". Sinngemäß: Auch du - wie schwach du auch sein magst - kannst die Welt zu einer besseren machen.
Das mag jetzt simpel und banal klingen, aber wenn dies alle tun würden...
Insgesamt werden christliche Werte, wie Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und gegenseitige Achtsamkeit in den Vordergrund gestellt, eine Botschaft, die ihre Aktualität nicht verliert.

5. Der Roman berührt beim Lesen. Einige der Botschaften, die Ed übermittelt, sind nicht weltbewegend, es sind Kleinigkeiten. Freundlichkeiten, die das Leben schöner machen, wie für die allein erziehende Mutter, die von ihrem kargen Gehalt ihren Kindern einmal in der Woche ein Eis kauft. Und sie selbst? Wer kauft ihr eins?

6. Während der Handlung werden auch einige Romane erwähnt, zufällig gerade solche, die ich im letzten Jahr gelesen habe, wie "Sturmhöhe" oder "Schuld und Sühne" - eines der Asse enthält sogar nur Namen von Autoren. Die intertextuellen Bezüge zeigen das Entwicklungspotential Eds, aus dem er nur schöpfen muss.

7. Einen Kritikpunkt muss ich noch loswerden. Zwei der Botschaften werden mittels Gewalt übermittelt und auch Ed wird zu Beginn von Unbekannten gewaltsam aufgefordert seinen Aufgaben nachzukommen. Gewalt als Lösung? Als Weg zur Veränderung? Diese Episoden erscheinen mir - und da bin ich mit Mira einer Meinung - etwas dubios. Dem gegenüber stehen glücklicherweise liebevolle, empathische Verhaltensweisen, die zum Ende hin überwiegen.

8. Der Roman ist sehr spannend, gerade mal in drei Tagen habe ich ihn verschlungen. Die gestellten Aufgaben und der Aufbau verführen dazu, dass man einen Teil zu Ende lesen will. Und weil es gerade so schön ist, weiterlesen ;)

Hier geht es zu Miras Rezension.

Taschenbuch, 446 Seiten
cbt-Verlag, 2006

Donnerstag, 18. Januar 2018

Aharon Appelfeld: Meine Eltern

- Erinnerungen an die Kindheit.

Gebundene Ausgabe, 273 Seiten
Rowohlt Berlin, 17. November 2017

Im Sommer 2016 rezensierte ich einen berührenden Roman von Aharon Appelfeld: Ein Mädchen nicht von dieser Welt.

Ein Roman, der wie der vorliegende gegen das Vergessen anschreibt. Appelfeld erzählt in "Meine Eltern" vom letzten unbeschwerten Sommer Erwins, das Alter ego des Autors, der zu Beginn des Romans sein eigenes Schreiben, den Verlust der Muttersprache und der Erinnerungen reflektiert.
Am 4.Januar 2018 starb Aharon Appelfeld in Tel Aviv.

Vielen Dank für das Rezensionsexemplar, hier geht es zur Seite des Rowohlt Verlages.


"Im Lauf meines Schreibens kehre ich immer wieder in das Haus meiner Eltern in der Stadt und in das Haus meiner Großeltern in den Karpaten zurück, und auch an die anderen Orte, wo ich Zeit mit ihnen verbrachte. Ich sage, ich kehre zurück, aber das ist nicht ganz richtig." (S. 5)

Denn der Ich-Erzähler trägt in seiner Erinnerung jene Häuser in sich, er betrachtet sie mit dem Blick des Kindes, denn die

"schöpferische Arbeit braucht diesen Blick des Kindes. Wenn du das Kind in dir verlierst, wird der Gedanke zur Gewohnheit, du entfernst dich unmerklich vom Staunen, vom ersten Blick, und das schwächt den schöpferischen Prozess." (S.5f.)

Zu Beginn reflektiert der Ich-Erzähler über sein Schreiben selbst, über die Schwierigkeit,

"die richtigen Worte für deine Gefühle zu finden" (S.7).

In seinen Erinnerungen kehrt er an den Fluss Pruth (in Rumänien) zurück, wo er mit seinen Eltern immer die Sommerferien in einer Hütte verbringt. Es ist August 1938 und die Gerüchte eines aufkommenden Krieges vergiften die Atmosphäre am Flussufer, dessen Publikum aus der jüdischen Bürgerschicht besteht, denn nur sie kann sich "einen Monat Urlaub in dieser ländlichen Gegend am Fuß der Karpaten erlauben." (S.10)

Eine illustre, teils dekadente Gesellschaft versammelt sich zum Sonnenbaden und Schwimmen am Fluss und wird von Erwins Vater stets mit einem ironischen Blick betrachtet:

  • die große Frau, deren kleiner Mann sie bedient
  • der einbeinige Mann, der wegen seiner Zuckerkrankheit ein Bein verloren hat und etwas abseits sitzt
  • P., die von ihrem Freund Franz verlassen wurde und Angst vor der Zukunft hat
  • der Schriftsteller Karl König, der nur abends ans Flussufer kommt und tagsüber schreibt
  • Rosa Klein, die aus der Hand liest,
  • der aufopferungsvolle Doktor Zajger, der für seine Patienten lebt,
  • Slobo, der große Sanitäter
  • die großen Mädchen, die Erwins sehnsüchtig betrachtet und in die er sich verliebt
Neben all diesen Figuren sind es Erwins Eltern, die seine Erinnerung und sein Schreiben begleiten.

"Wenn ich eine Geschichte oder einen Roman schreibe, begleitet mich der Rhythmus der Stimme meiner Mutter zu den Toren der Phantasie." (S.17)

"An mein Vater erinnere ich mich immer, wenn ich einen Essay schreibe. Für einen Essay braucht man klare Gedanken, die richtige Mischung von Tatsachen und Argumenten." (S.18)

Während die Mutter in seiner Gegenwart oft von Gott spricht und den Glauben ihrer Eltern lebt, ist sein Vater von Vernunft geprägt und lehnt das traditionelle Judentum ab. Er ist ein säkularisierter Jude, wie so viele am Flussufer.

Gemeinsam mit seinen Eltern unternimmt Erwin Ausritte, bewegt sich in der Natur - sogar ein christliches Kloster besuchen sie, da der Vater einen der Mönche aus der Kindheit kennt. Sergej konfrontiert ihn mit seinem fehlenden Glauben. Gegenüber Erwin äußert der Vater dazu:

"Ich freue mich, dass Mama an ihren Eltern und an ihrem Glauben hängt. So ist es richtig. Aber ich habe mich aus bestimmten Gründen - die einen kenne ich, andere bleiben mir verborgen - von meinen Eltern und vom Glauben gelöst. Ich kann mich nicht in einen Gebetsmantel hüllen und beten, selbst wenn ich es wollte. Die Natur, die Berge, die Wälder und die Quellen sind mein Glaube." (S.141)

Die Frage nach dem Glauben, dem richtigen Leben durchzieht der Roman ebenso wie die drohende Gefahr des Krieges und der Hetze gegen die Juden.

"Es stimmte, in der Fabrik meines Vaters lief nicht alles glatt, in der Schule nannte man mich "den Juden" und verfluchte mich, doch mein Vater und meine Mutter hofften, dass all das Beängstigende und Ungesetzliche, das um uns herum geschah, sich wieder auflösen und die Normalität zurückkehren würde." (S.39)

Auch im Urlaub am Fluss kommt es zu Anfeindungen der Bauern gegenüber den Juden, der kommende Krieg ist ständiger Gesprächsstoff und immer wieder werden Beschwichtigungen ausgesprochen.

Trotzdem ist es ein hoffnungsvoller Roman, denn die Liebe seiner Eltern, die Erwin das Schwimmen beibringen, ihn umsorgen, mit ihm ernsthaft reden, ihn einbeziehen, ist etwas, was er aus dieser Zeit mitnimmt - selbst wenn seine Eltern nicht mehr sind, eine Angst, die Erwin in seinen Träumen verfolgt. Eine Erfahrung, die der Autor Aharon Appelfeld kennt, da er seine Mutter im Krieg verloren hat.
Er zeichnet in diesem Roman das Bild einer untergehenden Welt, ein letztes Aufatmen und Ausruhen vor den schrecklichen Ereignissen, die auf die Menschen am Fluss zukommen. Sehr sensibel legt der Ich-Erzähler ihre Ängste frei und ihr Wunsch, am Bestehenden festzuhalten.

Gleichzeitig thematisiert er die Angst vor dem Verlust der Muttersprache. Karl König, der Schriftsteller, dessen Eltern nach Amerika ausgewandert sind, wird gefragt, warum er ihnen nicht folge. Darauf antwortet er:

"Vergessen Sie nicht, meine Dame, meine Muttersprache ist Deutsch. Die Sprache ist die Seele eines Menschen, und sie ist mein Instrument. Was soll ich in der amerikanischen Fremde anfangen? Gott sei Dank sprechen hier alle Deutsch." (S.180)

Appelfeld, der in Czernowitz, dem ehemaligen Bukowina geboren ist, hat als Kind mit seinen Eltern Deutsch gesprochen. Nach dem Krieg, den er teilweise im Wald und als Küchenjunge bei der Roten Armee überlebt hat, wanderte er nach Israel aus, wo er Hebräisch lernte - in seinen Werken erinnert er an die verlorene Welt seiner Kindheit.

Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!


Dienstag, 16. Januar 2018

Jane Austen: Mansfield Park

- eine gute Partie.

Klassiker hören mit Literaturhexle

Quelle: Pixabay
Hörbuch von Audible
Gelesen von Eva Mattes
17 Stunden 16 Minuten

Literaturhexle und ich haben uns auch für 2018 vorgenommen gemeinsam Klassiker zu hören, die man immer schon mal lesen wollte. Bisher haben wir uns an "Schuld und Sühne", "Madame Bovary" und jetzt an "Mansfield Park" gewagt.


Worum geht es?

Auf Betreiben von Mrs. Norris, der Schwester von Lady Bertram und Mrs. Price wird die 10-jährige Fanny Price nach Mansfield Park "verpflanzt", da ihre Familie in ärmlichen Verhältnissen lebt und die Prices für die Vielzahl ihrer Kinder nicht entsprechend sorgen können. Mrs. Norris vorgebliche Güte erstreckt sich allerdings auf den Vorschlag; alles Weitere überlässt sie ihrer Schwester Lady Bertram und Sir Thomas. Ihre Aufgabe wird es sein, Fanny noch viele Jahre lang daran erinnern, wie dankbar sie zu sein habe. Eine garstige Person.

Im Haus der Bertrams ist es Edmund, der zweitälteste Sohn, der Fannys Herz gewinnt. Zunächst kümmert er sich liebevoll um seine verschüchterte und traurige Cousine, später erwächst auf Fannys Seite daraus eine hingebungsvolle Liebe. Sie ist zwar willkommen in Mansfield Park, wird jedoch nie als gleichwertiges Familienmitglied behandelt - mit Ausnahme von Edmund.
Nichtsdestotrotz lernt sie Anstand und Tugend kennen und entwickelt ein Gespür für das, was von ihr erwartet wird, während ihre Cousinen von Mrs. Norris verwöhnt und ihrer Eitelkeit bestätigt werden. Sir Thomas Bertram bemüht mit Strenge dem entgegen zu wirken, wird als unnahbarer Patriarch wahrgenommen und Lady Bertram ist nur an ihren Stickarbeiten und ihrem Mops interessiert. Die Kindererziehung gehört nicht zu ihrem Aufgabenbereich, so dass auch Tom nur seine Vergnügungen im Kopf hat, im Gegensatz zu Edmund, der einzige, der ebenso wie Fanny, ein Gespür für Anstand entwickelt.



Die Handlung gewinnt an Fahrt mit der Abreise Sir Thomas Bertrams auf seine Plantagen
und mit der Ankunft der Geschwister Crawford im Pfarrhaus der Grants. Da ist Fanny fast schon 18 Jahre alt. Obwohl die älteste Tochter der Bertrams Maria dem wohlhabenden Mr. Rushworth versprochen ist, entflammt ihr Herz doch für den eitlen und charmanten Henry Crawford, genau wie das ihrer Schwester Julia. In mehreren Situationen ist das schickliche Verhalten, wie es zu Beginn des 19.Jahrhunderts in diesen Kreisen sein sollte, in Gefahr. Vor allem als die "Kinder" gemeinsam mit einem Freund Tom Bertrams - Mr. Yates - beschließen ein Theaterstück aufzuführen - ausgerechnet "Liebesschwüre". Da gerät die wohl geordnete Gesellschaft aus den Fugen und auch Edmund verliert sein Herz an Mary Crawford, blind für deren mangelnde Sensibilität. Glücklicherweise kehrt Sir Thomas Bertram, der Hausherr, rechtzeitig von seinem Besuch aus Antigua zurück und verhindert Schlimmeres.

Maria heiratet ihren Mr. Rushword und Edmund schickt sich an, Pfarrer zu werden, erwägt jedoch Mary Crawford um ihre Hand zu bitten. Henry  hat sich derweil in den Kopf gesetzt, die schüchterne Fanny für sich zu gewinnen - jetzt da Maria mit ihrem Ehemann nach London entschwunden ist und ihre Schwester sich ihnen angeschlossen hat. Ob es ihm gelingen kann, ihre tiefe Abneigung, die sie aufgrund seines Verhaltens gegenüber ihren Cousinen für ihn empfindet, zu überwinden? Liebt er sie wirklich oder es ist es reine Eitelkeit, sie zu erobern? Wie wird sie sich entscheiden?

Bewertung
Der Einstieg in den Roman ist etwas mühselig, da zunächst die wichtigsten Figuren vorgestellt werden und die Handlung nicht in Gang kommen will. Mit dem Einüben des Theaterstücks steigt jedoch die Spannung. Wer verliebt sich in wen, ist die gute Partie Marias in Gefahr, welche Verwicklungen ergeben sich daraus? Austen entwirft ein detailliertes Sittengemälde der Zeit - und das nicht ohne ein gewisse Komik - und verdeutlicht, welches Verhalten von adligen jungen Frauen und Männern erwartet wurde.
Fanny verkörpert dabei die Vernunft, sie ist die Einzige, die sich nicht am Theaterstück beteiligt, selbst Edmund lässt sich dazu hinreißen - von Verliebtheit getrieben.
Am Ende des Romans rechnet Austen mit der mangelnden Erziehung der beiden Bertram-Mädchen ab, die in ihrer Eitelkeit von Mrs. Norris unterstützt und vergöttert werden - ein Umstand, der zumindest Marias Leben ruiniert. Mrs. Norris Standesdünkel verstellt ihr den klaren Blick auf ihre Nichte, die im Gegensatz zu den Bertram-Mädchen ein untadeliges Verhalten an den Tag legt. Der "Wert" Fannys wird erst offensichtlich, als sie für drei Monate ihre eigene Familie besucht - die gute Seele des Hauses scheint verschwunden.
Während Fanny uneingeschränkt alle Sympathien gehören, ist Mrs. Norris die unsympathischste Figur des Romans. In den Harry Potter Romanen heißt die neugierige und gemeine Katze des Hausmeisters Argus Filch Mrs Norris und eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich nicht leugnen. Ich bin sicher, dass J.K.Rowling "Mansfield Park" kennt und die Katze bewusst so genannt hat.

Eva Mattes liest diesen Klassiker wunderbar, lässt die antiquierte Sprache leben, so dass sie ganz natürlich erscheint und gut zu hören ist.

Die Reihe wird fortgesetzt ;)

Montag, 15. Januar 2018

Bernhard Schlink: Olga

- die Geschichte einer starken Frau.

Leserunde auf whatchareadin

Taschenbuch, 320 Seiten
Diogenes, 12. Januar 2018

Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" ist inzwischen fast schon ein Klassiker, der seit Jahren Einzug in die Schulen gehalten hat. Er gehört zu einem meiner Favoriten in der Kategorie "Gegen das Vergessen", ebenso wie ich seine Erzählungen "Liebesfluchten" besonders mag.
Daher war ich umso gespannter auf seinen neuesten Roman und habe mit Freude an der intensiven Leserunde teilgenommen.

Vielen Dank an Diogenes für das Leseexemplar.


Worum geht es?

"Sie macht keine Mühe, am liebsten steht sie und schaut." (S. 5)

So charakterisiert Olgas Mutter die Einjährige und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass diese Zuschreibung teilweise zutreffend ist. Den Spielen der anderen Kinder, die rauh sind und in denen man sich behaupten muss, geht sie aus dem Weg. Sie wächst in Armut auf, die Eltern sterben früh, so dass sie als junges Mädchen von Breslau zu ihrer Großmutter nach Pommern muss, obwohl sie lieber bei der ihr zugewandten Nachbarin geblieben wäre.
Die Großmutter würde ihr gerne einen deutschen statt des slawischen Namens geben, doch Olga setzt sich durch und beharrt auf ihrem Namen - sie besteht auf ihrem Willen.
Ihre Großmutter bringt ihr nur wenig Liebe entgegen, doch sie findet im Dorf einen anderen Außenseiter - einen Kontrapunkt zu ihrem Charakter:

"Kaum konnte er stehen, wollte er auch schon laufen." (S.13)

Herberts Eltern sind reich, besitzen ein Gut und sind im Dorf hoch angesehen, das entfremdet ihn genau wie seine Schwester Victoria von den anderen Kindern. Er braucht diese nicht zum Laufen, die für ihn einzig wahre Bewegung.

"Er hörte das Keuchen seines Atems und spürte das Pochen seines Herzens. Er hörte seine Füße auf den Boden schlagen, gleichmäßig, sicher, leicht, und in jedem Aufschlagen lag schon das Abheben, und in jedem Abheben ein Schweben. Manchmal war ihm, als flöge er." (S.16)

Neben der Leidenschaft für das Laufen ist Herbert stolz auf "das junge Reich und den jungen Kaiser" (S.17) - die Handlung spielt Ende des 19. Jahrhunderts.

Die Kinder aus den unterschiedlichen sozialen Schichten freunden sich an, da sie jeweils einsam sind - ein wichtiges Thema dieses Romans, ebenso wie Olgas unbändiger Wille zu lernen, denn sie will das Unmögliche schaffen, um auf das staatliche Lehrerinnenseminar in Posen zu gehen. Dank einer freundlichen Lehrerin gelingt ihr die Aufnahmeprüfung und ihr Traum, Volksschullehrerin zu werden, verwirklicht sich. Gleichzeitig wird Herbert von seinen Hauslehrern auf das Abitur vorbereitet, damit er ins Garderegiment eintreten kann, und Victoria besucht ein Internat.

Aus der ungewohnten Zweisamkeit entwickelt sich zwischen Olga und Herbert eine tiefe Zuneigung, die in Liebe mündet.

"Sie blickten einander in die Augen und waren nur Auge und Seele. Sie machten den Blick nicht lösen und wieder die gewohnte Olga und der gewohnte Herbert sein." (S.39)

Ohne viel vorwegzunehmen, ist es eine Liebe, die für Olga Warten, Hoffen und Einsamkeit bedeutet. Eine Heirat ist aufgrund der unterschiedlichen sozialen Herkunft  nur möglich, wenn Herbert mit seiner Familie brechen würde. Statt dessen flieht er.

"Er beschloss, ein Übermensch zu werden, nicht zu rasten und nicht zu ruhen, Deutschland groß zu machen und mit Deutschland groß zu werden, auch wenn es ihm Grausamkeit gegen sich und gegen andere abverlange." (S.43)

Eine Einstellung, die Olga ablehnt, die die Gefahren voraussieht, die mit dem Wunsch nach Deutschlands Größe verbunden sind. Während Herbert in die deutschen Kolonien in Afrika - Deutsch-Südwest - reist, wird Olga nach Ostpreußen, nördlich von Tilsit versetzt. Seine Schilderungen über die Schwarzen, über die deutsche Überlegenheit weisen bereits auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten hin, dabei entlarvt er sich selbst, wenn er zugibt, keinem der Herero wirklich nahe gekommen zu sein. In ihrer Liebe verzeiht Olga ihm diese Grausamkeiten, ebenso wie seine vielen Expeditionen - nach Südamerika, Sibirien und schließlich zieht es ihn in die Arktis. Er will die Nordostpassage entdecken. Dazwischen besucht er immer wieder Olga, eine heimliche Liebe.

"Sie sah, dass die Rolle, die sie in Herberts Leben spielte, an die Rolle der Geliebten im Leben eines verheirateten Manns erinnerte." (S.79)

Auf ihre Frage, was er in der Arktis wolle, gibt sie sich selbst die Antwort:

"Die Weite? Die Weite ohne Ende? Ist es das?" (S.85),
gleichzeitig ist ihr bewusst, "dass ihr Leben Warten sei und dass das Warten kein Ziel, kein Ende habe." (S.84)

Das Lied der Nachtigall, das sie während des Gesprächs hören, erinnert an "Der Spinnerin Nachtlied" von Brentano, auch diese trauert dem Geliebten, der von ihr gegangen ist, nach und erinnert sich an die glücklichen Stunden, die sie gemeinsam verbracht haben.

Etwas Trost findet Olga, nachdem Herbert seine Expedition begonnen hat, in der Fürsorge für Eik, den Sohn ihrer Freundin, um den sie sich liebevoll kümmert und der in seinen Verhaltensweisen auffällig an Herber erinnert.

Die Ereignisse von 1914 bis zu Beginn der 50er Jahre werden stark gerafft wiedergegeben. Während Herbert in der Arktis verschollen ist und Eik sich zum Entsetzen Olgas zur SS meldet, verliert sie ihr Gehör, wird entlassen und flieht während des 2.Weltkrieges nach Westen, wo sie sich ihr Geld als Näherin verdient.

"Dann nähte sie nur noch in unserer Familie, in der sie sich besonders willkommen fühlte; was sie hier verdiente, reichte ihr als Zubrot." (S.113)

Mit dem Wechsel der Erzählperspektive vom eher distanzierten Erzähler zum Ich-Erzähler endet der 1.Teil.
Im 2.Teil wird deutlich, dass Ferdinand, der Jüngste jener Familie, Olgas Geschichte, die sie ihm im Laufe der Zeit offenbart hat, "erzählt" hat.
Zwischen den beiden entsteht eine innige Freundschaft und dieses Mal stellt Fräulein Olga Rinke Herbert nicht als Helden dar - wie sie es bei Eik getan hat, sondern so, wie er tatsächlich gewesen ist.
Auch als Ferdinand erwachsen wird, bleibt die Freundschaft bestehen, und als Olga stirbt und er alt ist, findet er in einem Antiquariat die Briefe, die Olga Herbert nach Tromsö geschickt hat, während dieser im ewigen Eis unterwegs war.

Die Briefe bilden den 3.Teil und geben Antworten auf offene Fragen, die im II.Teil aufkommen. Und sie zeigen die liebende, die leidenschaftliche Olga unvermittelt.

"Ich liebe Deine Fähigkeit, Dich zu begeistern, Dich zu verschwenden, Dein Herz über die Hürde zu werfen, ich liebe Dein Leuchten." (S.224)

In den Briefen kommt all das bisher Ungesagte zum Ausdruck, sie werfen auf einige Ereignisse ein neues Licht und verdeutlichen, welch starke und selbstbewusste Frau Olga gewesen ist - für mich der beste Teil des Romans.

Bewertung

Die hohen Erwartungen, die ich an den Roman hatte, sind nicht enttäuscht worden. Ist der Beginn aufgrund der Erzählweise sehr distanziert - wörtliche Rede findet man nur an wenigen Stellen - bringt uns der Ich-Erzähler im 2.Teil Olga näher. Die Briefe im 3.Teil offenbaren uns die "wahre" Olga - unverstellt und unvermittelt. Diese Steigerung erzeugt genau wie die offenen Fragen aus dem 2.Teil einen Sog, so dass man den Roman nicht mehr aus der Hand legen kann.
Die Geschichte dieser starken Frau, die trotz der Widerstände, die sie erfahren hat, ihren Weg selbstbewusst geht, Lehrerin wird und an ihrer Liebe festhält, die Einsamkeit in Kauf nimmt und nicht daran verzweifelt, ist berührend.
Olga vertritt sehr fortschrittliche Ansichten, sie wehrt sich gegen die Diskriminierung als Frau, liebt ohne Trauschein und schätzt an Friedhöfen, dass "hier alle gleich waren" (S.145).

Kritisch steht sie der deutschen Kolonialpolitik gegenüber, so schreibt sie im April 1914 an Herbert:

"Keine Woche, in der ich nicht von Deutschlands Zukunft auf den Meeren und in Afrika und Asien lese, vom Wert unserer Kolonien, von der Stärke unserer Flotte und unseres Heeres, von Deutschlands Größe, als seien wir aus unserem Land herausgewachsen, wie man aus einem Gewand herauswächst, und brauchten ein größeres." (S.258)

Ihre Kritik äußerst sie auch gegenüber dem Nationalsozialismus, mit Eik bricht sie, weil er zur SS geht, sie kann die Grausamkeiten, zu denen er fähig sein muss, nicht ertragen.
Im Alter wird sie ihrer Einstellung vehement Ausdruck verleihen und einen "Kontrapunkt zur Melodie ihres Lebens" (S.311) setzen. Ein starkes Ende!

Ein Kontrapunkt in ihrem Leben ist auch Herbert, der die Weite, die Leere liebt, während sie in der Enge ihres Dorfes am glücklichsten gewesen sein mag. Erst im Westen Deutschlands am Neckar erweitert sie ihren Horizont - gemeinsam mit Ferdinand. Worauf diese innige "Enkel-Oma-Beziehung" beruht, bleibt eine der wenigen Fragen, die der Roman am Ende nicht beantwortet.

Insgesamt ein sehr guter Roman, der mir neben der interessanten Geschichte über eine starke Frau auch aufgrund seiner Komposition und Sprache gefallen hat.

Klare Lese-Empfehlung.




Donnerstag, 11. Januar 2018

David Vogel: Eine Ehe in Wien

- Psychogramm eines melancholischen Masochisten.

Gebundene Ausgabe, 527 Seiten
Aufbau Verlag, 14. Juni 2017


Im Rahmen einer gemeinsamen Leserunde auf whatchareadin habe ich den Roman mit Gleichgesinnten gelesen. Unzählige Posts haben wir dabei ausgetauscht, uns an Deutungen versucht und über einzelne Textstellen diskutiert. Ein sehr intensiver und aktiver Austausch also, der meine Lese-Zeit bereichert hat.


Vielen Dank an den Aufbau Verlag für das Leseexemplar!


Worum geht es?
Der mittellose Schriftsteller Rudolf Gordweil aus dem Osten lebt in den 20er Jahren in Wien und lernt die Baronin Thea von Tako gemeinsam mit seinem Mitbewohner Ulrich in einem Café kennen.

Sein erster Eindruck:

"Sie hat so was an sich, du merkst es nur nicht. So eine Wiener Tradition. Biedermeierzeit. Sieh mal den herrischen Zug in der unteren Gesichtshälfte. Ich würde sie zu gern kennenlernen." (S.28)

Er begleitet sie nach Hause, dabei überragt ihn die große Frau um Kopfeslänge. Sein zweiter Eindruck,

"[v]ermutlich wird sie den ihr Nahestehenden häufig wehtun" (S.31), hat prophetischen Charakter.

Während er sich in Thea verliebt, bemüht sich seine gute Freundin Lotte ihn zu verführen. Doch ohne Erfolg. Gordweil glaubt fest daran, dass sie ihren gemeinsamen Freund, den Rechtsanwalt Dr. Astel irgendwann heiraten wird und erkennt nicht, dass Lotte ihn aus tiefstem Herzen liebt.

Bereits die erste gemeinsame Nacht mit Thea offenbart den zukünftigen Charakter ihrer Beziehung:

"Zieh dich aus, Rudi!", befahl sie mit etwas heiserer Stimme, wobei sie sich selbst die Kleider herunterriss und sie auf einen Stuhl warf. Dan packte sie Gordweil, hob ihn wie ein leichtes Spielzeug vom Boden hoch und legte ihn aufs Bett." (S.55)

Weitere Details werden glücklicherweise ausgespart, wie bei allen Liebesszenen.

Gordweil verfällt Thea von Tako rettungslos und vier Wochen nach ihrem ersten Treffen soll die Heirat stattfinden, dafür tritt Thea sogar zum jüdischen Glauben über. Doch zuvor trifft Gordweil auf einen Zufallsbekannten, den Franzl Heidelberger, der ihn zu sich und seiner Frau Gustl einlädt. Vordergründig scheint Franzl das Sagen in der Ehe zu haben und kommandiert Gustl herum, die jedoch unverhohlen mit Rudolf flirtet und ihn unter den ermunternden Zurufen sogar auf den Mund küsst.
Inzwischen lernen auch Lotte, Dr. Astel und Ulrich Thea kennen und Lotte empfindet sofort tiefe Abneigung gegen die Baronin, die die Herausforderung annimmt.

"Die Baronin lächelte ein kleines, überlegenes Lächeln. Es blitzte die absolute Gewissheit in ihr auf, dass diese Lotte auf Gordweil versessen war, sie selbst aber eindeutig die Oberhand hatte. (...) Na, sehen wir mal, wer die Stärkere ist." (S.74)

Die personale Erzählperspektive beschränkt sich fast ausschließlich auf Rudolf, nur selten erhalten wir einen Einblick in die Gedanken Theas oder Lottes - umso aussagekräftiger erscheinen diese.

Der Hochzeitstag ist für Gordweil "der langweiligste und bedrückendste seines Lebens. Es war ein unbehaglicher, in erstickenden, lästigen Dunst gehüllter Tag." (S.111)

Thea zieht bei Gordweil ein, der sich schließlich doch eine Arbeit in einer Buchhandlung sucht, obwohl er seine Zeit lieber dem Schreiben widmen würde. Von Anfang (Teil II) an kommandiert sie ihn herum, trägt ihn wie ein kleines Kind, nimmt sein Geld und als Leser*in fragt man sich, warum sich Rudolf gegen diese Unterdrückung nicht wehrt. All seine Freunde kennen die Wahrheit, nur er verdrängt sie erfolgreich. In den vielen Träumen des Romans, die darauf schließen lassen, dass Vogel die Schriften Freuds gekannt hat, scheint die schonungslose Wahrheit auf, werden künftige Ereignisse vorausgedeutet und Rudolfs Seelenleben verdeutlicht, der offenkundig ein Lust am Leiden empfindet.

Nach der ersten Ohrfeige Theas rächt sich Rudolf jedoch, indem er das eindeutige Angebot Franzl Heidelbergers Gustl zuhause zu besuchen annimmt.

"Allerlei Kränkungen, die wie Steine in den Tiefen seiner Seele versunken lagen, hatten nun eine Art Vergeltung gefunden. Und es schien, dass auch Theas Herrschaft über ihn irgendwie Schaden genommen hatte. Daraus folgte also, dass er noch nicht völlig verloren war und kein Grund zur Verzweiflung bestand." (S.128)

Verzweifelt scheint Lotte zu sein, die im Verlauf der Handlung zunehmend schwächer wird und die von ihrer Liebe zu Gordweil verzehrt wird.

Währenddessen ist Thea schwanger (Teil III: Drinnen und draußen) und Gordweil glaubt, mit einem Baby werde sich alles ändern. Wir erfahren, dass er bereits als Jugendlicher Gefallen daran gefunden hat, sich selbst zu quälen, indem er sich mit einem Streichholz verbrennt. Die Vermutung, dass Gordweil ein Masochist ist, scheint sich zu bestätigen. Auch Hinweise seiner Freunde, dass seine Frau ihn betrüge, wischt er weg. In einem Selbstgespräch spricht sein Unterbewusstsein die Wahrheit aus, während er dagegen hält. "Drinnen" weiß er um seine Situation, noch nach draußen hin, betrügt er sich selbst, weil er Thea verfallen ist und er an den Quälereien einen "sonderbar, stechenden Genuss, jene perverse Lust am Leiden" empfindet." (S.383)

Schließlich erblickt das Baby (Teil IV) Licht der Welt und es ist Rudolf, der sich um den kleinen Martin kümmert. Thea hingegen scheint keinerlei Muttergefühle zu haben, sie ist eine kalte, herrische Person ohne jegliche Empathie. Sie hat Vergnügen daran, Rudolf zu quälen.

"Interessant, wie viel er wohl schweigend ertragen würde..." (S.243)

Gegenüber Lotte äußert sie: "Ich könnte ihn auch rauswerfen, ich brauche ihn keineswegs. Aber ich werde es nicht tun. Nun gerade nicht. Du kriegst ihn also nicht, Ich werde ihn zu Tode foltern, zu Tode sage ich dir, aus purem Spaß - und trotzdem wird er mich von sich aus nicht verlassen." (S.269)

Ob es ihr gelingt, ihn zu zerstören und ob seine Leidensfähigkeit ein Ende (Teil V) kennt?

Bewertung
Ein psychologisch sehr interessanter Roman, der uns vor Augen führt, wie der Schriftsteller Rudolf Gordweil der sadistischen, starken Thea verfällt, die ein Vergnügen daran findet, ihn zu erniedrigen und zu beherrschen. Er wiederum stellt sich als melancholischer Masochist heraus, der seine Situation verdrängt und heimlich ein Genuss am Leiden empfindet.
Das ist zunächst sehr befremdend und man möchte Rudolf zurufen: "Wehr dich" und "Verlass diese Frau" und wünscht ihm, er möge sich Lotte zuwenden, die ihn wirklich liebt.
Doch es kommt anders und man ahnt es bereits, dass dieser Roman kein gutes Ende nimmt.

In vielerlei Hinsicht hat mich dieser Roman fasziniert.
Es ist ein Psychogramm eines gegensätzlichen Paares, deren Beziehung auf Dominanz und Unterwerfung in umgekehrten Rollen basiert. Hätte Rudolf Thea unterdrückt, hätte ich nicht weitergelesen...Hier ist das Thema gerade, weil die Rollen vertauscht sind, sehr interessant.
Faszinierend sind auch die vielen Träume Rudolfs, die prophetischen Charakter haben und gleichzeitig sein Seelenleben beleuchten. Mehr als einmal haben wir in der Leserunde Traumdeutung betrieben.
Aber auch das Unterbewusstsein, die zweite Stimme Rudolfs, die ihn nachts, wenn er schlaflos auf dem Sofa liegt, heimsucht, offenbart die grausame Wahrheit. Faszinierend, wie es ihm gelingt, sie zu verdrängen, so lange, bis tatsächlich mehr als ein Unglück geschieht. Wieviel Leid kann ein Mensch ertragen? Wie weit muss die Erniedrigung gehen, damit er sich wehrt? Thea reizt ihre Dominanz aus und ist durchweg negativ gezeichnet, so dass sie nur Antipathien auf sich zieht, während Lotte als positive Gegenfigur konzipiert ist.

Als letzten Punkt will ich die wunderbare Sprache des Romans hervorheben, der einerseits das Wien der 1920er Jahre bildlich vor unseren Augen entstehen lässt

- "Die Gehsteige schwitzten schwarzen Asphaltschweiß. Man brauchte kühles, blondes, weißschäumendes Bier - zu jeder Tageszeit. Die Kleidung wurde schwer, beengte einen wie ein Panzer, und das Hemd klebte an Brust und Rücken." (S.297)

Und andererseits Rudolfs Seelenqualen anschaulich beschreibt:

"Sie war ein Hindernis, eine Barriere, die Quelle allen Übels. Vergeblich versuchte er auch jetzt noch manchmal, gegen derlei Ideen anzukämpfen. Sei gesamtes Innenleben war uaf Anklage und Auflehnung eingestellt. Gleichzeitig wusste er, dass er niemals die seelische Kraft aufbringen werde, sich von ihr zu befreien." (S.413)

Im Nachwort von Maxim Biller erfahren wir, dass der Roman autobiografische Züge hat. Auch David Vogel war mit einer herrschsüchtigen Frau verheiratet, die er trotz allem geliebt hat.
Biller verweist aber auch auf Vogels jüdische Wurzeln auf seine "jüdische Angst" vor der nächsten Katastrophe. Im Roman gibt es eine Szene, in der Gordweil, Lotte und Dr. Astel von einem Wiener wegen ihres jüdischen Aussehen beschimpft werden. Biller spekuliert darüber, ob die "gewalttätige Beziehung, die zwischen Rudolf Gordweil und Thea von Tako herrscht, das ewig kaputte, ewig gestörte Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden widerspiegeln soll" (S.522). Dafür spricht zumindest Theas "germanisches" Aussehen.

Für mich persönlich steht eher der psychologische Aspekt im Vordergrund, die Darstellung einer krank machenden, zerstörerischen Beziehung und die Versuche Gordweils die Situation zu verdrängen, aber auch sein Eingeständnis, dass er aus dem Leiden heraus Lust empfindet.

Ein lesenswerter Roman, der, wenn man ihn gemeinsam liest, für viel Diskussionsstoff sorgt.

Montag, 1. Januar 2018

Daniel Kehlmann: Tyll

- das letzte Highlight 2017!

Lesen mit Mira und Sabine

Gebundene Ausgabe, 480 Seiten
Rowohlt, 9. Oktobber 2017


Auf der diesjährigen Buchmesse gab es für mich ein Muss: Ein Interview mit Daniel Kehlmann über seinen neuesten Roman "Tyll". In dem Gespräch hat Kehlmann über die Hintergründe seines Romans erzählt, über die Schelmenfigur, die er ins 17.Jahrhundert versetzt hat, und seine ausgiebige Recherchearbeit. Danach war ich überzeugt, dass ich diesen Roman lesen muss.

Worum geht es?

"Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen." (S.7)

Gemeint ist der 30-jährige Krieg (1618-1648), dessen verheerende Auswirkungen im Mittelpunkt des "Tyll" stehen. In diese Zeit hinein hat Kehlmann seinen Protagonisten versetzt, eine Sagengestalt, zu der es eine Quelle aus dem 14.Jahrhundert gibt und die zum fahrenden Volk gehört.

"Wer mit einem Bänkelsänger reist, gehört zum fahrenden Volk, den schützt keine Gilde, und den beschirmt keine Obrigkeit. Bist du in einer Stadt und es brennt, musst du dich davonmachen, denn man wird denken, du hättest Feuer gelegt. Bist du in einem Dorf und etwas wird gestohlen, mach dich ebenfalls davon." (S.168)

Das ermöglicht Tyll in der immobilen Gesellschaft zu reisen, an verschiedenen Orten aufzutreten, aber auch mit unterschiedlichen Gesellschaftsschichten in Berührung zu kommen - mit Königen, Grafen und sogar dem Kaiser. Ihnen allen kann er schonungslos den Spiegel vorhalten.

"Ich lach nicht über den Kaiser, ich lach über dich. Wieso bist du so fett? Es gibt doch nichts zu fressen, wie machst du das?" "Halt deinen Mund", sagte der dicke Graf und wurde sofort wütend darüber, dass ihm nichts Geistreicheres eingefallen war." (S.207f.)

Der Roman beginnt mit einem Auftritt Tylls, den man aus den Till Eulenspiegel-Geschichten kennt.
Tyll tanzt auf dem Seil und fordert die Menschen einer kleinen Stadt dazu auf, ihren rechten Schuh auszuziehen und ihm hinaufzuwerfen. Die Situation artet in einem Chaos aus.

"Wie ein Fieber griff die Wut um sich - wo man hinsah, wurde geschrien und geschlagen, Leiber wälzten sich" (S.24)

- eine Allegorie auf den heran nahenden Krieg, der das Dorf überrollt und fast nur Tote zurücklässt.

Im zweiten Kapitel "Herr der Luft" erzählt der auktoriale Erzähler von der Kindheit Tylls, in deren Mittelpunkt der Vater Claus steht, der aus dem lutherischen Norden stammt und als Müllersknecht die Tochter des Müllers geheiratet hat.

"Nebenbei heilt er die Bauern, die ihm immer noch nicht die Hand reichen, denn was sich nicht gehört, gehört sich nicht; aber wenn sie Schmerzen haben, kommen sie zu ihm." (S.40)

Kehlmann entwirft ein detailliertes Gesellschaftbild des Dorfes, schildert die Lebensbedingungen, die Armut und den permanenten Hunger derer, die nie genug zu essen haben. Die Grausamkeit untereinander, Kinder werden geschlagen und nicht geliebt, zu oft sterben sie jung.
Aber auch der Aberglaube der katholischen Gegend wird seziert. Für alles gibt es einen Spruch, eine Zeit, wann man wo nicht hingehen darf, sonst kommt die Kalte oder das kleine Volk.
Währenddessen beginnt der 30 -jährige Krieg, der Winterkönig ist aus Böhmen geflohen und verlangt die Unterstützung der englischen Krone.

Allein gelassen im Wald mit dem Esel und einem Wagen voller Mehl hat der junge Tyll ein seltsames Erlebnis. Sein Vater findet ihn ganz weiß, mit Eselfell auf einem Seil tanzen, wochenlang hat er es geübt, jetzt gelingt es plötzlich.

"Wenn er bloß wüsste, was im Wald passiert ist. Er weiß, dass er nicht daran denken möchte. Erinnerung ist etwas Eigenartiges. Sie kommt und geht nicht einfach, wie sie will, sondern man kann sie hell machen und wieder löschen wie einen Kienspan." (S.89)

Viele Jahre später "Im Schacht" (Kapitel 7), als er in Brünn als Mineur verschüttet wird, denkt er daran zurück. Im Angesicht des Todes erinnert sich Tyll an Episoden seines Lebens, dadurch werden einige lose Fäden aufgenommen und zu Ende gesponnen, was für die hervorragende Komposition des Romans spricht.
Unter anderem denkt er an den Vater zurück, der sich in Bücher vergräbt und sich "wissenschaftlichen" Fragen widmet, ein Träumer ist und andere mit Sprüchen heilt und somit in den Fokus zweier Jesuitenbrüder gerät:
Doktor Tesimond, der einen Anschlag auf Jakob Stuart - Sohn Maria Stuarts und protestantischer König von England und Schottland - gewagt hat, um seiner Tochter Elisabeth auf den Thron zu verhelfen. Jene Elisabeth, die den Winterkönig geheiratet hat und die genau wie dieser im Mittelpunkt des Kapitels "Könige im Winter" (Kapitel 4) steht, in dem besonders drastisch die Auswirkungen des Krieges beschrieben werden. Friedrich, vertriebener König von Böhmen, der den Krieg ausgelöst hat (Prager Fenstersturz), nähert sich dem Lager des schwedischen Königs:

"Der Geruch wurde stärker, je näher sie kamen. (...) Das Erdreich war aufgewählt, die Pferde sanken ein, sie stapften wie durch tiefen Morast. Unrat häufte sich dunkelbraun am Wegesrand, der König versuchte, sich zu sagen, dass es wohl nicht das sei. was er vermutete, aber er wusste, es war genau das: der Kot von hunderttausend Menschen." (S.280)

Tyll begleitet Friedrich zu Gustav Adolf, dem schwedischen König, da er ihn um Hilfe bitten will - eine historische Begegnung, in der Friedrich erfährt, dass es dem Protestanten Gustav Adolf mitnichten um den Glauben geht, sondern um Geld und Macht.

Eine historische Figur ist auch der zweite Jesuit, der Doktor Tesimond begleitet: Athanasius Kircher, dessen Verlogenheit Kehlmann im Verlauf des Romans hervorragend aufdeckt und der Protagonist des sechsten Kapitels "Die große Kunst von Licht und Schatten" ist, in dem er als Pater und Professor des Collegium Romanum auftritt und als Verfasser zahlreicher Schriften. Nichtsdestotrotz ist er auch dem Aberglauben verhaftet und er kann einer Begegnung mit Tyll nicht standhalten.

Die Unwissenschaftlichkeit seiner Argumentation wird am besten in seiner Aussage über Drachen, an deren Existenz er fest glaubt, deutlich:

"Ein Drache, den man gesichtet hat, wäre ein Drache, der über die wichtigste Dracheneigenschaft nicht verfügt - jene nämlich, sich unauffindbar zu machen. Aus genau diesem Grund hat man allen Berichten von Leuten, die Drachen gesichtet haben wollen, mit äußerstem Unglauben zu begegnen, denn ein Drache, der sich sichten ließe, wäre a priori schon als ein Drache erkannt, der kein echter Drache ist." (S.352)

Zurück zur Kindheit Tylls (Kapitel 2):
Der Prozess gegen den Vater offenbart, dass eine Verurteilung mit der Inhaftierung des Hexers oder der Hexe schon beschlossen ist. Es geht nur darum, dass der- bzw. diejenige gesteht. Die Verteidigung des Vaters durch einen Edelmann führt das den Leser*innen deutlich vor Augen:

"Der Prozess ist vorbei. Nur das Urteil fehlt noch. Der Angeklagte hat gestanden."
"Aber offensichtlich unter Folter?"
"Ja natürlich", ruft Doktor Tesimond. "Warum hätte er sonst gestehen sollen! Ohne Folter würde doch nie jemand was gestehen!" 
"Während unter der Folter jeder gesteht."
"Gott sei Dank, ja!"
"Auch ein Unschuldiger." (S.137f.)

Tyll flieht aus dem Dorf und schließt sich gemeinsam mit der Bäckerstochter Nele einem Bänkelsänger an, den sie für einen Gaukler, den grausamen Pirmin verlassen. Von ihrer gemeinsamen Zeit handelt das fünfte Kapitel "Hunger". Kehlmann erzählt nicht chronologisch, trotzdem kann man der Handlung gut folgen - einige Figuren tauchen ebenso wie Tyll immer wieder auf. So wie Liz - Elisabeth Stuart, in deren Exil in Den Haag der Narr gemeinsam mit Nele eine Zeitlang verbracht hat (Kapitel 4) - auf diese Idee hat sie Pirmin gebracht, der als Schausteller mit dem jungen Kurprinzen Friedrich nach England gereist ist.

"Es hatte eine seltsame Bewandtnis mit diesem Narren. Das hatte sie [Liz] sofort gespürt, damals, als er aufgetaucht war, letzten Winter, als die Tage besonders kalt gewesen waren und das Leben noch ärmlicher als sonst. Da waren die beiden mit einem Mal vor ihrer Tür gestanden, der dürre junge Mann im bunten Wams und die großgewachsene Frau. (...) Aber als sie ihr vorgetanzt hatten, war da eine Harmonie gewesen, ein Gleichklang der Stimmen und der Leiben wie sie es nie erlebt hatte, seit sie nicht mehr in England war." (S.236f.)

Liz steht auch im Mittelpunkt des letzten Kapitels "Westfalen",  das gleichzeitig auch die Verhandlungen zum westfälischen Frieden karikiert und in dem sich Tyll mit einem letzten Auftritt verabschiedet.

"Jeder will Gebiet, die der andere auf keinen Fall hergeben möchte, jeder verlangt Subsidien, jeder will, dass Beistandsverträge gekündigt werden, die andere für unkündbar halten, damit stattdessen neue Verträge zustande kommen, von denen andere meinen, sie seien unannehmbar." (S.443)

Das dritte Kapitel "Zusmarshausen" gibt den Lebensbericht Martins von Wolkenstein wieder, den jener zu Beginn des 18.Jahrhunderts verfasst hat und der auf das Ende des 30-jährigen Krieges zurückblickt. Er soll den Tyll im Kloster Andechs finden, dahin hat sich jener nach dem Erlebnis im Schacht (Kapitel 7) zurückgezogen.

"Dieser Krieg war älter als er. Er war manchmal gewachsen und manchmal geschrumpft, er war hierhin und dorthin gekrochen, hatte den Norden verwüstet, sich nach Westen gewendet, hatte einen Arm nach Osten und einen in den Süden ausgestreckt, dann sein volles Gewicht in den Süden gewälzt, nur um sich so dann wieder für eine Weile im Norden niederzulassen." (S.193)

Gemeinsam geraten sie in die letzte große Schlacht des Krieges in Zusmarshausen. Der auktoriale Erzähler informiert uns, dass vieles im Lebensbericht fiktiv ist, fehlt oder verändert ist. Für die große Schlacht bedient sich Wolkenstein bei anderen Dichter - den Schrecken in eigene Worte fassen, vermag er nicht, im Gegensatz zu Kehlmann.

Bewertung
Ich habe den Roman mit meinen Mitleserinnen in nur vier Tagen "verschlungen", gemeinsam haben wir uns angespornt und sehr intensiv Nachrichten ausgetauscht. Wir waren wie in einem Sog, in den uns dieser hervorragend erzählte Roman gezogen hat.

Er hat mich veranlasst, die Hintergründe des 30-jährigen Krieges zu recherchieren, dessen Schrecken er sehr plastisch, manchmal aber auch nur andeutungsweise darstellt, wie Tylls schrecklichstes Kriegserlebnis.
Es ist ein echter Zeitroman, der das 17.Jahrhundert aufleben lässt, den Aberglauben und die Inquisition, die Armut, den Hunger, die Etikette der politischen Würdenträger.
Gleichzeitig zeigt er punktuell die machtpolitischen Verhältnisse auf, in dem er sich auf einige Schlüsselfiguren beschränkt.
Die Verknüpfungen zwischen diesen Figuren, die immer wieder auftauchen, allen voran der Tyll, haben mich besonders fasziniert. Der Roman ist wirklich meisterhaft komponiert.

Beim Austausch ist uns auch das Thema der subjektiven Wahrheit aufgefallen. So erinnern sich Liz und Friedrich ganz unterschiedlich an ihre Hochzeitsnacht, genau wie Tyll und Nele den Tod Pirmins konträr darstellen - wie sehr können wir uns auf unsere Erinnerung verlassen. Immer wieder taucht das Motiv des Vergessens auf, des sich nicht erinnern wollen, dabei ist die Erinnerung an die Geschichte, um aus ihr zu lernen, so wichtig. Eine Botschaft des Romans?

Ein anderes  Thema ist das Aufleben der deutschen Sprache in der Barockzeit, so ist der Dichter Paul Fleming mit Kircher unterwegs (Kapitel 6) und plädiert für den Gebrauch des Deutschen:

"Noch ist unsere Sprache eine Wirrnis aus Dialekten", sagte Fleming. "Weiß man im Satz nicht weiter, greift man sich das passende Wort aus dem Lateinischen oder Italienischen oder sogar Französischen, und die Sätze biegt man irgendwie nach lateinischer Manier zurecht. Aber das wird sich ändern! Man muss eine Sprache nähren und pflegen, man muss ihr helfen, auf dass sie gedeiht! Und ihr helfen, das heißt: dichten." (S.357)

Dass es sich verändert hat, zeigt Kehlmann eindrucksvoll mit diesem Roman.

Unbedingt lesen!

Hier geht es zu Miras Rezension.