Sonntag, 31. Januar 2021

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock

- eine Biographie (?) des Arztes Dr. Samuel Pozzi (1846-1918)

Leserunde auf whatchaReadin

Das erzählende Sachbuch beginnt mit einer Reflektion über den richtigen Erzählanfang:
1. "Im Juni 1885 kamen drei Franzosen in London an." (7)
Gemeint ist dabei die Hauptfigur Dr. Samuel Pozzi, ein Bürgerlicher, der gemeinsam mit zwei Adligen zur Shopping Tour nach London reist, wobei sie bei Henry James logieren.
Die anderen beiden sind der Graf Robert de Montesquiou-Fezensac sowie der Prinz Edmond de Polignac.
Neben den Hauptfirguren wird die Verbindung zwischen Frankreich und England gezogen und wir sind direkt in der Zeit verortet und wissen, warum sie dorthin gereist sind. Klassischer Einstieg in einen Bericht ;)

2. In seinen Flitterwochen liest Oscar Wilde einen französischen Roman, den er wiederum in "Das Bildnis des Dorian Gray" erwähnt.
Gemeint ist "´À Rebours" von Joris-Karl von Huysmans, der 1884 erschienen ist (dt. "Gegen den Strich") und dessen Hauptfigur ein 29-jähriger Aristokrat ist, der erhebliche Parallelen zu Montesquiou aufweist, der sich im Verlauf der Ausführungen Barnes als schillernde Figur der Belle Époque erweist, heute würde man ihn einen Prominenten nennen, der die Klatschmagazin ziert.
„Montesquiou war das Musterbeispiel eines aristokratischen Dandypoeten“ (67)

Und immer wieder kommt Barnes auf die Unterschiede zwischen Frankreich und England zu sprechen:
„Als Angehöriger der Mittelschicht, geschweige denn der Arbeiterklasse, konnte man in England schwerlich ein Dandy sein. In Frankreich durfte man in den Kreisen der künstlerischen Boheme ein Dandy sein.“ (67)
Neben dem Grafen widmet sich Barnes auch dem Leben Oscar Wildes, dessen Prozess, seine Amerikareise finden Erwähnung sowie die Tatsache, dass auch er ein klassischer Dandy gewesen ist.

3. "Wir könnten auch mit einer Kugel beginnen und mit der Waffe, aus der sie abgeschossen wurde." (7) Kugeln sind ein Leitmotiv. Eine Kugel, die Puschkin getötet haben soll, ist angeblich im Besitz des Grafen Montesquiou. Gleichzeitig verweist die Kugel auch auf die Duelle, die mehrmals thematisiert werden. Eine in Frankreich bis zum 1.Weltkrieg verbreitete Praxis, während sie "in England schon in den 1830er-Jahren aus der Mode gekommen [waren]." (57)
"Wo war Pozzi bei all diesen wütenden Balgereien, die dieser Clown - die Ehre - angezettelt hatte?" (61)
Er stand als Arzt zur Stelle und leistete Beistand, womit man zum nächsten möglichen Erzählanfang überleiten kann:

4. In Kentucky hat im Jahr 1809 Ephraim McDowell erfolgreich die erste Ovarektomie durchgeführt. Anlässlich des 100. Jahrestag dieser Operation reist Pozzi, inzwischen ein erfolgreicher Gynäkologe und der Inhaber des ersten Lehrstuhls für Gynäkologie in Frankreich, nach New York (vgl. S.240). 

Dieser Erzählanfang verweist auf Pozzis berufliche Tätigkeit, der als Pionier auf dem Gebiet der Gynäkologie gilt und dessen beruflichen Werdegang Barnes anschaulich darlegt, wobei er vor allem seine Innovationen im Bereich der Hygiene, Operationstechnik, aber auch sein Empathie gegenüber den Patientinnen hervorhebt.
Barnes beschreibt Pozzi als charmant, gastfreundlich, großzügig, bei allen beliebt, erfolgreich, wissenschaftlicher Atheist, dem jedoch der Ruf vorauseilt, ein notorischer Verführer gewesen zu sein - allein es mangelt an entsprechenden weiblichen Quellen. Gibt es nichts zu erzählen oder schwiegen die Damen?
Lediglich Pozzis Tochter Catherine äußert sich in ihrem Tagebuch dazu, aber kann man einer Jugendlichen Glauben schenken? 

Die Ehe Pozzis mit Thérèse Loth-Cazalis basierte jedenfalls auf einem Arrangement. Pozzi ist der Überzeugung, sie liebe ihn nicht genug, daher wendet er sich anderen Frauen (Geliebten) zu, seine Frau wahrt jedoch nach außen den Schein, während es im Inneren zu Streitigkeiten und unschönen Szenen gekommen sein soll.
Die französische Einstellung der Zeit: 
"Die Ehe war lediglich ein Basislager, von dem das abenteuerlustige Herz zu neuen Ufern aufbrach." (51) "Die Briten glaubten an Liebe und Ehe - dass die Liebe zur Ehe führt und darin fortbesteht" (51).

5. Ein Mann liegt im Bett und "weiß, was er machen soll, er weiß nur nicht, wann und ob er machen kann, was er machen will." (8) Hätte Barnes damit begonnen, hätte er die Geschichte von hinten aufgerollt.
Der Mann, der im Bett liegt, hat etwas mit Pozzis Tod im Jahr 1918 zu tun (s. auch Erzählanfang 3).

6. Stattdessen entscheidet sich Barnes dafür, mit einer sehr genauen Bildbeschreibung von "Dr. Pozzi at home" (1881) von John Singer Sargent, das auch das Buchcover ziert, zu beginnen.

"Mich zog das Porträt von Sargent zu Dr. Pozzi, ich wurde neugierig auf sein Leben und Werk, schrieb dieses Buch und halte das Bild noch immer für ein wahres und elegantes Abbild." (229)

Wer erwartet, eine Biografie Pozzis zu lesen, wird zwangsläufig enttäuscht. Vielmehr ist der Roman ein Lesebuch der Belle Époque -
"eine Periode neurotischer, ja hysterischer nationaler Angst, gezeichnet von politischer Instabilität, Krisen und Skandalen" (35) - 
das erzählt, welche politischen Themen à la mode waren, z.B. die Dreyfus-Affäre, welche wissenschaftlichen Entwicklungen im Bereich der Medizin stattfanden, welche Klatsch- und Tratschgeschichten kursierten - ein Bereich, der sehr viel Raum einnimmt - und vor allem, ein Buch über das "Who´s Who".
Passend dazu sind ein Teil der Fotografien abgebildet, die Félix Potin von 1898-1922 herausbrachte und die jeweils seiner Tafel Schokolade beigegeben waren.

"Wie schon viele Biografen festgestellt haben, kann man sich die Freunde seiner wichtigsten Figur leider nicht aussuchen." (83)

Gemeint ist Jean Lorrain, der neben dem Grafen und dem Prinzen immer wieder Erwähnung findet und der in der Tat sehr unsympathisch wirkt. Zudem steht er in ewiger Konkurrenz zum Grafen, der ihn jedoch ignorierte. In seinem Roman "Monsieur de Phocas"  erschuft Lorrain "die zweite literarische Schattenversion von Montesquoiu", wobei insgesamt vier davon existieren.
In der Leserunde kam die Frage auf, warum dem Leben des Grafen Montesquiou so viel Raum gegeben wird.
Ich denke, dass der Graf neben der Tatsache, dass er eine berühmte zeitgenössische Person gewesen ist, auch als eine Art Negativfolie wirkt. Ein adliger Dandy, der seine Umgebung manipuliert, ausnutzt und sein Luxusleben genießt, während Pozzi sich als erfolgreicher Arzt einen Namen macht, wobei auch er weit davon entfernt ist, als Heiliger dargestellt zu werden. Barnes selbst begründet sein Interesse an Pozzi damit, dass er "ein vernünftiger Mensch in einer verrückten Zeit" (188) gewesen ist.

Polignac ist dagegen "die Sorte Aristokrat, die mühelos zur Revolution anstachelt. Polignac war sanft, verschroben und ziemlich hoffnungsloser Fall: die Sorte Aristokrat, die eher harmlos erscheint und womöglich sogar leichtes Mitleid erregt." (140)
Die Ehe mit der reichen amerikanischen Erbin Winnaretta Singer verläuft trotz aller Erwartungen harmonisch. 

Ist man zu Beginn von der Vielzahl an Namen überfordert, findet man sich schnell in Barnes scheinbar assoziativem Erzählen von Ereignissen, Figuren, Themen zurecht und genießt das Eintauchen in die Epoche. Neben der Kunst und dem Betrachten von Gemälden wird auch der "Schaffensprozess" selbst sowie die Problematik, eine Biografie zu schreiben, thematisiert.
„Wir wissen es nicht. Sparsam gebraucht, ist das eine der stärksten Aussagen in der Biografensprache.
Der Satz ruft uns in Erinnerung, dass die eingängige Lebensbeschreibung, die wir lesen, bei aller Detailfülle und Ausführlichkeit, bei allen Fußnoten, faktischen Gewissheiten und zuversichtlichen Hypothesen nur eine öffentliche Version eines öffentlichen Lebens und eine unvollständige Version eines privaten Lebens sein kann. Eine Biografie ist eine Ansammlung von Löchern, die mit Bindfäden zusammengehalten werden" (127).


Auch die Wirkung von Literatur wird diskutiert. Flauberts Leitsatz dazu: „Man kann die Menschheit nicht ändern, man kann sie nur kennen.“ (219)
Barnes merkt an, die Menschheit zu kennen und sie so zu beschreiben, wie sie ist, sei schon eine Korrekturmaßnahme, da man vieles aus neuer Sicht sehe. Was der Leser bzw. die Leserin daraus mache, liege jedoch nicht mehr im Ermessen des Autors bzw. der Autorin.

Und was machen wir aus dieser Biografie, die eher eine Kulturgeschichte der Belle Époque ist?
Lesen, staunen, genießen und Wissen anhäufen, an das wir zu gegebener Zeit, vielleicht bei der nächsten Lektüre, anknüpfen können.

Vieles wissen wir nicht, aber wir haben viel dazugelernt ;),

insofern kann ich jedem dieses intellektuelle "Lesebuch" ans Herz legen!

Alexander Häusser: Noch alle Zeit

 - Gastbeitrag Sabine

Leserunde auf whatchaReadin


Auf der Suche nach dem verlorenen Glück

Edvard ist Anfang 60, als seine Mutter stirbt. Er lebte mit ihr zusammen und pflegte sie bis zum Ende. Versteckt im Schrank findet er ein auf seinen Namen ausgestelltes Sparbuch. Die über Jahre andauernden, unregelmäßigen Einzahlungen kamen aus Norwegen. Sofort stellt er einen Bezug zu seinem Vater her, der am Tag nach Edvards zehntem Geburtstag wegfuhr und niemals wiederkehrte. Laut Aussage der Mutter ist er tot. Die Mutter hatte ein dominierendes, einnehmendes Wesen, mit dem sie die Aufmerksamkeit des Sohnes für sich beanspruchte.
„Die Frau ohne Mann und der Junge ohne Vater wurden zur verschworenen Gemeinschaft. Edvard wuchs buchstäblich über sich hinaus, erhob sich über die anderen Kinder im Ort und in der Schule. Wer von ihnen sorgte schon für seine Mutter?“ (S. 57)

Da es Edvard nie gelang, sich von der Mutter zu emanzipieren, war die Beziehung zu seiner Jugendliebe Elvie zum Scheitern verurteilt – eine Tatsache, die ihn heute noch schmerzt, wie in vielen Erinnerungen verdeutlicht wird.

Edvard will der Spur des Vaters folgen. Er bricht nach Norwegen auf. Auf der Reise begegnet er Alva. Die junge Frau ist Journalistin und in ihrem Leben noch nicht angekommen:  Sie hat eine Beziehung mit ihrem Chef sowie eine kleine Tochter, deren Erziehung sie aber ständig überfordert, so dass das Kind oft bei seinem Vater oder der Oma sein muss. Alva fühlt sich zerrissen und sehnt sich nach einem beruflichen Durchbruch, der ihr eine Reportage über die magischen Orte Norwegens bescheren soll. „Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld, und sie würden auch gemeinsam Urlaub machen können, wie alle es taten.“ (S. 46) Trotz all dieser Hoffnung wirkt Alva zerrissen: Immer hat sie Kopfhörer auf den Ohren, um in die Musik abtauchen zu können. Auch sehnt sie sich nach ihrer Tochter und hat doch Angst, ihr nicht zu genügen…
In zahlreichen Rückblicken erfährt der Leser immer mehr über die Vergangenheit der beiden Protagonisten, die sie ihm näher bringen und ihr Verhalten erklärbar machen.

Bereits auf der Fähre treffen die beiden einsamen und vom Leben verwundeten Seelen aufeinander. Zunächst ist Edvard derjenige, der Alva hilft. Später verkehren sich die Rollen und Alva unterstützt Edvard, der nach seinem überstürzten Aufbruch nun im fremden Land sehr hilflos wirkt. Ihre journalistischen Fähigkeiten kommen ihm bei der Suche nach seinem Vater zu Gute. Sie mieten ein Auto und fahren los. Auf dem Weg durch Norwegen besuchen sie auch die magischen Orte, deren beruhigende Atmosphäre Alva ein Stückweit zu sich selbst führt. Im Grunde sind sie beide auf der Suche. Die Reise mit der ungeplanten Begleitung eröffnet ihnen neue Perspektiven, bleibt aber nicht immer konfliktfrei. An der Annäherung der beiden ungleichen Menschen teilzuhaben, ist ein intensives Lesevergnügen.

Alexander Häusser hat ein unglaublich sicheres stilistisches Sprachempfinden. Seine Figuren sind mehrdimensional, haben Ecken und Kanten. Seine Geschichte findet nicht auf der Oberfläche statt, sondern in der Tiefe. Jeder Satz hat Bedeutung, jedes Wort ist bewusst gesetzt, wodurch Empfindungen, Erinnerungen, Szenen und Dialoge sehr glaubwürdig und empathisch rüberkommen. Die Figuren erzeugen Nähe, ohne auch nur im geringsten kitschig zu sein.

Der aufmerksame Leser wird belohnt: viele Zusammenhänge erschließen sich im Verlauf der Lektüre, das Buch ist eine Fundgrube schöner Sätze, stimmiger Metaphern und Formulierungen. Die Sprache ist ruhig, eindringlich und poetisch, auch Dialogwitz findet sich. Der Autor liebt offensichtlich Norwegen und seine faszinierenden Landschaften mit Fjorden, Seen und Bergen. Spürbar wird das während des gesamten Romans und in Sätzen wie diesem: „Der Wind kämmte die Gräser seidig. Sie fuhren an grün leuchtenden Berghängen vorbei, am Himmel entlang, im Granit eingeschnitten auf endlosen Serpentinen immer höher hinauf, immer weiter, ohne Zeit, mit aller Zeit.“ (S. 179)  

Die Zeit steht nicht nur im Titel, sondern ist eines der fortlaufenden Motive des Romans. Neben Edvard und Alva lernt man auch viel über Norwegens Vergangenheit kennen. Das Ende des Romans rundet die Geschichte glaubwürdig ab. Nicht alles wird auserzählt, aber die beiden Hauptfiguren haben zum Glück „Noch alle Zeit“, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

Ich habe diesen Roman zweimal innerhalb eines Jahres genossen - einfach weil er mich so begeistert hat. Er ist ein Buch, bei dem man mit jeder Lektüre noch etwas mehr entdeckt und der sich in die überschaubare Reihe meiner absoluten Lieblingsbücher einreihen darf. „Noch alle Zeit“ eignet sich bestens für Diskussionsrunden und Lesekreise.

Unbedingte Leseempfehlung!