- Gastbeitrag Sabine
Leserunde auf whatchaReadin
Auf
der Suche nach dem verlorenen Glück
Edvard
ist Anfang 60, als seine Mutter stirbt. Er lebte mit ihr zusammen und pflegte
sie bis zum Ende. Versteckt im Schrank findet er ein auf seinen Namen
ausgestelltes Sparbuch. Die über Jahre andauernden, unregelmäßigen Einzahlungen
kamen aus Norwegen. Sofort stellt er einen Bezug zu seinem Vater her, der am
Tag nach Edvards zehntem Geburtstag wegfuhr und niemals wiederkehrte. Laut
Aussage der Mutter ist er tot. Die Mutter hatte ein dominierendes, einnehmendes
Wesen, mit dem sie die Aufmerksamkeit des Sohnes für sich beanspruchte.
„Die Frau ohne Mann und der Junge ohne Vater wurden zur verschworenen
Gemeinschaft. Edvard wuchs buchstäblich über sich hinaus, erhob sich über die
anderen Kinder im Ort und in der Schule. Wer von ihnen sorgte schon für seine
Mutter?“ (S. 57)
Da es
Edvard nie gelang, sich von der Mutter zu emanzipieren, war die Beziehung zu
seiner Jugendliebe Elvie zum Scheitern verurteilt – eine Tatsache, die ihn
heute noch schmerzt, wie in vielen Erinnerungen verdeutlicht wird.
Edvard
will der Spur des Vaters folgen. Er bricht nach Norwegen auf. Auf der Reise begegnet
er Alva. Die junge Frau ist Journalistin und in ihrem Leben noch nicht
angekommen: Sie hat eine Beziehung mit
ihrem Chef sowie eine kleine Tochter, deren Erziehung sie aber ständig
überfordert, so dass das Kind oft bei seinem Vater oder der Oma sein muss. Alva
fühlt sich zerrissen und sehnt sich nach einem beruflichen Durchbruch, der ihr
eine Reportage über die magischen Orte Norwegens bescheren soll. „Mit den
magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld, und sie würden
auch gemeinsam Urlaub machen können, wie alle es taten.“ (S. 46) Trotz all
dieser Hoffnung wirkt Alva zerrissen: Immer hat sie Kopfhörer auf den Ohren, um
in die Musik abtauchen zu können. Auch sehnt sie sich nach ihrer Tochter und
hat doch Angst, ihr nicht zu genügen…
In zahlreichen Rückblicken erfährt der Leser immer mehr über die Vergangenheit
der beiden Protagonisten, die sie ihm näher bringen und ihr Verhalten erklärbar
machen.
Bereits
auf der Fähre treffen die beiden einsamen und vom Leben verwundeten Seelen aufeinander.
Zunächst ist Edvard derjenige, der Alva hilft. Später verkehren sich die Rollen
und Alva unterstützt Edvard, der nach seinem überstürzten Aufbruch nun im
fremden Land sehr hilflos wirkt. Ihre journalistischen Fähigkeiten kommen ihm bei
der Suche nach seinem Vater zu Gute. Sie mieten ein Auto und fahren los. Auf
dem Weg durch Norwegen besuchen sie auch die magischen Orte, deren beruhigende Atmosphäre
Alva ein Stückweit zu sich selbst führt. Im Grunde sind sie beide auf der Suche.
Die Reise mit der ungeplanten Begleitung eröffnet ihnen neue Perspektiven,
bleibt aber nicht immer konfliktfrei. An der Annäherung der beiden ungleichen
Menschen teilzuhaben, ist ein intensives Lesevergnügen.
Alexander
Häusser hat ein unglaublich sicheres stilistisches Sprachempfinden. Seine
Figuren sind mehrdimensional, haben Ecken und Kanten. Seine Geschichte findet
nicht auf der Oberfläche statt, sondern in der Tiefe. Jeder Satz hat Bedeutung,
jedes Wort ist bewusst gesetzt, wodurch Empfindungen, Erinnerungen, Szenen und
Dialoge sehr glaubwürdig und empathisch rüberkommen. Die Figuren erzeugen Nähe,
ohne auch nur im geringsten kitschig zu sein.
Der
aufmerksame Leser wird belohnt: viele Zusammenhänge erschließen sich im Verlauf
der Lektüre, das Buch ist eine Fundgrube schöner Sätze, stimmiger Metaphern und
Formulierungen. Die Sprache ist ruhig, eindringlich und poetisch, auch
Dialogwitz findet sich. Der Autor liebt offensichtlich Norwegen und seine
faszinierenden Landschaften mit Fjorden, Seen und Bergen. Spürbar wird das
während des gesamten Romans und in Sätzen wie diesem: „Der Wind kämmte die
Gräser seidig. Sie fuhren an grün leuchtenden Berghängen vorbei, am Himmel
entlang, im Granit eingeschnitten auf endlosen Serpentinen immer höher hinauf,
immer weiter, ohne Zeit, mit aller Zeit.“ (S. 179)
Die
Zeit steht nicht nur im Titel, sondern ist eines der fortlaufenden Motive des
Romans. Neben Edvard und Alva lernt man auch viel über Norwegens Vergangenheit
kennen. Das Ende des Romans rundet die Geschichte glaubwürdig ab. Nicht alles
wird auserzählt, aber die beiden Hauptfiguren haben zum Glück „Noch alle Zeit“,
um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.
Ich
habe diesen Roman zweimal innerhalb eines Jahres genossen - einfach weil er
mich so begeistert hat. Er ist ein Buch, bei dem man mit jeder Lektüre noch
etwas mehr entdeckt und der sich in die überschaubare Reihe meiner absoluten
Lieblingsbücher einreihen darf. „Noch alle Zeit“ eignet sich bestens für Diskussionsrunden
und Lesekreise.
Unbedingte
Leseempfehlung!