Samstag, 26. Februar 2022

Gerard Donovan: In die Arme der Flut


 - Leserunde auf whatchaReadin

Ich habe selten einen Roman gelesen, der mich zu Beginn völlig begeistert hat (1), dann jedoch stark abgefallen ist (2). Daraufhin leitet ein unerwarteter Twist ein geniales Zwischenspiel ein (3). Das Ende hingegen ist völlig unglaubwürdig und hinterlässt viele Fragezeichen (4).

Doch der Reihe nach:

(1) Luke Roy steht auf einer Brücke bei Ross Point in Maine und möchte hinunter in den Fluss springen, der direkt ins Meer mündet. Er ist 37 Jahre alt, lebt allein auf einem Hausboot, nachdem seine Eltern ihn, als er volljährig geworden ist, allein zurückgelassen haben, um eine Weltreise anzutreten, von der sie nie zurückgekehrt sind. Er arbeitet bei Enterprise Cheese, einer Fabrik, die Käse für Flugreisen portioniert und der einzige große Arbeitgeber in der heruntergekommenen Stadt ist.

Mit 14 Jahren ist er in einen Teich gefallen und fast ertrunken.

"Er beschloss, hier unten zu bleiben, weit weg von der Hektik dort oben. Das Leben war so nah, dass er loslassen konnte. Urplötzlich ergab sich die Möglichkeit, aus dem Leben zu scheiden, solange er noch glücklich war." (26)

"Am ersten sonnigen Tag des Sommers 1991 war Luke Roy dem Tod genauso nah gewesen wie dem Leben. Etwas Altes hatte ihn mit einem Traum angesteckt, der schwerelos war. Und dieser Traum würde ihm überallhin folgen." (30)

Diese Todessehnsucht verhindert, dass Luke sein Leben gestaltet. Er fristet sein Dasein in der Fabrik, hat fast keine Freunde und beschäftigt sich mit dem Thema Selbstmord. Als Jugendlicher versucht er sogar, sich an der Badezimmertür zu erhängen, was sehr intensiv beschrieben wird. Als Leser:in bekommt man förmlich keine Luft mehr beim Lesen. Wie genau der personale Erzähler die körperlichen Folgen des Sauerstoffmangels beschreibt und dann die Vorstellung, dass ein Urinstinkt, der Überlebensinstinkt ihn rettet. Das ist großartig erzählt. Ebenso wie die Situation auf der Brücke, in der die Landschaft viel Raum einnimmt, der aufsteigende Nebel, der nicht nur die Sonne verdeckt, sondern auch den Leser:innen eine klare Sicht nimmt, so dass man kaum trennen kann, was Realität ist und was sich in den Gedanken des Protagonisten abspielt.

Dieses zeitdehnende Erzählen beendet ein Unfall. Nachdem Luke gesprungen ist, sich jedoch am Geländer festgehalten und wieder hoch gehangelt hat, beobachtet er, während er sich von der Brücke entfernt, wie ein Boot kentert und ein Junge regungslos im Fluss treibt.

"Luke musste an diesem Morgen nur eines tun - sich umbringen, indem er von einer Brücke in einen Fluss sprang. Auch um den Jungen zu retten, muss er jetzt von der Brücke in den Fluss springen." (75)

Die Rettung gelingt und was daraufhin folgt ist gleichsam ein Possenspiel und eine unterhaltsame Satire auf die heutige Medienlandschaft.

+++ Spoiler +++

(2) Im weiteren Verlauf der Handlung trifft Luke zufällig auf Elena, deren Mann beim Versuch ein junges Mädchen aus dem gleichen Teich zu retten, in den auch Luke gefallen ist, ums Leben gekommen ist. Die darauffolgende Liebesgeschichte ist einerseits unglaubwürdig, andererseits nahe am Kitsch und will überhaupt nicht zum ersten Teil des Romans passen. 

(3) Der darauffolgende Twist hingegen verleiht der Handlung neuen Schwung, da Luke auf der Brücke vom Vater des Jungen erschossen wird, den Luke gerettet hat. Der religiöse Mann glaubt, Luke wolle sich umbringen und indem er ihn tötet, verhindert er, dass Luke in die Hölle kommt. Eine irre Logik, die dazu führt, dass der Roman im letzten Teil neue Protagonisten erhält und eine weitere Geschichte erzählt. Von Paul und seinem psychisch kranken Vater Bryce Fowler, der nach der Tat seinen Jungen, der in der Obhut seiner Großeltern lebt, aufsucht, um ihn zu "entführen". Er möchte, dass Paul sich seinem Vagabundendasein anschließt, ihn begleitet und der Dialog zwischen Vater und Sohn bilden eine Geschichte im Roman, die für sich gesehen, sehr eindrucksvoll ist. Auf wenigen Seiten entwirft Donovan das Porträt eines gescheiterten Mannes, der in seinen Wahnvorstellungen gefangen ist und keinen Ausweg mehr findet - hin- und hergerissen zwischen Zuneigung und Aggression, der jedoch dann völlig überraschend seinen Sohn gehen lässt. Warum bleibt offen.

(4) Natürlich findet ausgerechnet Paul die Leiche Lukes, was dann folgt, ist ärgerlich, unglaubwürdig und gleicht einer Komödie. Am Ende stirbt Paul, weil er in das Boot steigt, in dem Lukes Freunde ihn bestatten möchten. Mit der Strömung wird das Boot mit Paul und Lukes Leiche ins Meer gezogen...

+++

Der Roman hat einen starken Beginn - die ersten 70 Seiten bilden für sich eine gelungene Erzählung über einen gescheiterten Selbstmordversuch, sprachlich dicht und teils kafkaesk. Auch andere Teile des Romans, wie der Vater-Sohn-Dialog, sind überzeugend. Allerdings fehlt mir der rote Faden, was hält diese Teile zusammen? Der Todeswunsch, die Todessehnsucht? Welche Botschaft will mir Donovan vermitteln? Die Kritik an der Macht der Medien, die aus einem Menschen einen Helden formt, den dieser nicht spielen will? Wie passt das alles zusammen mit der Liebesgeschichte? Zu viele Fragen, die offen bleiben und die mich am Ende ratlos zurücklassen.

Fazit: Einige gute Teile ergeben zusammen nicht zwangsläufig ein stimmiges Ganzes.

Montag, 14. Februar 2022

Gert Loschütz: Ballade vom Tag, der nicht vorüber ist

 - "Dieses Rückwärtsgucken, dieses Nichtdrüberwegkommenwollen" (192)

Leserunde auf whatchaReadin

Der Ich-Erzähler, Karsten Leiser, schickt die Leser*innen in seinem inneren Monolog auf eine Reise in die Vergangenheit, die von seiner Flucht in den Westen geprägt ist, welche ihn entwurzelt hat. Aus der fiktiven Stadt Plothow in der ehemaligen DDR flüchtet er als 10-Jähriger mit seiner Mutter nach Wildenburg und "sie hatte noch ein Jahr zu leben, auf den Tag genau, aber das wußte sie natürlich nicht, und der Junge auch nicht." (19)

Dieser Tag im Mai - Fluchttag und Todestag der Mutter - prägen ihn so, dass er jedes Jahr darauf zurückblickt  und jenem Tag eine besondere Bedeutung zumisst. 

"Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen. Ich weiß, dir kommt es absonderlich vor, aber für mich ist es ganz selbstverständlich, denn immer ist mir gegenwärtig, daß mein Leben ohne ihn anders verlaufen wäre." (20)

Die Angesprochene ist Vera, seine Freundin (?), der er seine Geschichte erzählt, wobei diese zu Beginn assoziativ zwischen verschiedenen Zeitebenen wechselt. Auch verschiedenen Ortsnamen werden genannt, wie Anzio und Rom oder Inishmore (Irland). Diese kurzen Episoden verwirren zu Beginn, da man immer nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Erlebten erfährt, doch wie in einer Spirale tauchen alle Ereignisse wieder auf und wie ein Puzzle setzen sich die einzelnen Ereignisse zu einem Ganzen zusammen. Allerdings bleiben am Ende auch einige Fragezeichen offen.

Ausgangspunkt der Erzählung ist ein Auftrag vom Redakteur des Ich-Erzählers, der fragt, "ob ich nicht einen Artikel schreiben wolle, einen Artikel über einen politischen Ort, er könne mir so viel Platz einräumen, wie ich brauchte." (10)

Sein Redakteur verwechselt ihn mit seinem Freund Götz, der durch die Welt reist und immer wieder zu seinem Dorf im Schwarzwald zurückkehrt, der im Gegensatz zum Ich-Erzähler eine Heimat hat, während Leiser ein "Entwurzelter" ist, der nicht mehr reisen kann und will. Stattdessen möchte er über die Landschaft seiner Kindheit schreiben und "daß sich diese Landschaft in mir festgefressen hatte wie eine Krankheit" (12).

Solange er noch reist, ist auf der Suche nach dieser Landschaft, nach Orten, die ihn an seine verlorene Heimat erinnern, aus der er abrupt gerissen wurde, weg vom Großvater und der Großmutter, dem "Breitschädel und der Eule".

Nach den ersten Assoziationen schildert der Ich-Erzähler ausführlich und in atmosphärischen Sprachbildern von der Zugfahrt mit seiner Mutter in den Westen, seiner Ankunft in Wildenburg, sein Wiedersehen mit dem Vater, der einen anderen Weg genommen hat, und sein vergebliches Bemühen eine neue Heimat zu finden. Und er erzählt von dem Tag, ein Jahr später, an dem die Mutter stirbt. Und von weiteren Tagen, die er in Anzio, Rom, Inishmore und Berlin verbracht hat.

Allerdings ist der Erzähler unzuverlässig, wie er selbst zu Beginn zugibt: "Log, lüge immer, wenn es um Wichtiges geht, dann ja." (19) So weiß man nicht immer, ob das, was erzählt wird, der Wahrheit entspricht. Befremdlich wirken einige Träume und auch Gewaltfantasien des Ich-Erzählers.

Obwohl der Roman sprachlich wirklich ein Genuss ist und Loschütz es meisterhaft versteht, atmosphärisch, fast lyrisch zu erzählen - "Ballade, vom Tag, der nicht vorüber ist" - hat er mich trotzdem nicht in seinen Bann gezogen. Das liegt einerseits an den vielen Sprüngen zu Beginn der Handlung, die ein Ankommen im Roman erschweren, andererseits am Protagonisten selbst, der zwar authentisch wirkt, mir aber in seiner Rückwärtsgewandheit, seinem ständigen Kreisen um sich selbst bis zum Schluss fremd geblieben ist. Es gelingt dem Autor nicht, mir diese Figur nahezubringen, daher erhält er von mir trotz der herausragenden Sprache, nur 3 Sterne.

Freitag, 4. Februar 2022

Sofi Oksanen: Hundepark

Leserunde auf whatchaReadin

Die Handlung des Romans setzt im Jahr 2016 in Helsinki ein. Im Prolog lernen wir die Ich-Erzählerin und Protagonistin Olenka kennen, die im "Hundepark" sitzt und eine Familie mit zwei Kindern beobachtet. Dabei gesellt sich eine weitere Frau zu ihr, die zunächst anonym bleibt.

"Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich sie gleich erkannt hätte und so klug gewesen wäre, das Weite zu suchen." (5)

Im Rückblick erfahren wir zunächst, dass Olenka im Jahr 2006 in das Dorf Oblast Mykolajiw (im Süden der Ukraine) zurückkehrt, in dem ihre Mutter, inzwischen Witwe, zusammen mit ihrer Schwägerin wohnt und dort vom Verkauf von Rohopium lebt. Olenkas Traum im Westen Model zu werden, ist gescheitert, so dass sie nun mittellos festsitzt und verzweifelt Arbeit sucht. Schließlich nimmt sie einen Job in einer Agentur an, die Frauen als Leihmütter und Eizellenspenderin an reiche, kinderlose Ehepaare vermittelt.  Ihre Herkunft aus einer Stadt, in der Kohle abgebaut wird, also einem "verschmutzten" Gebiet verhindert fast ihre "Benutzung" als Eizellenspenderin. Doch ihre Biographie wird, wie üblich in solchen Fällen, geschönt. Es gelingt ihr zur Koordinatorin aufzusteigen, so dass sie selbst Mädchen als Spenderinnen aussucht und dadurch die Wünsche kinderloser reicher Ehepaare zu erfüllen.

Die Handlung wechselt zwischen den Zeitebenen 2016 und den Rückblenden in Olenkas altes Leben. Nebenbei erfährt man im Roman einiges über die Geschichte der Ukraine und auch den Konflikt mit Russland.

In der Zeitebene 2016 stellt sich heraus, dass die Frau, die sich neben Olenka im Hundepark gesetzt hat, eines der Mädchen ist, die Olenka als Eizellenspenderin "aufgebaut" hat. Ihre enge Verbindung besteht darin, dass Darias und Olenkas Vater Freunde waren.

Inzwischen ist sie für Olenka, die ihr altes Leben hinter sich gelassen hat und als Putzfrau arbeitet, eine Bedrohung.

"Sie könnte mich, die Agentur, ihre alten Kunden, euch, überhaupt alle erpressen. Wollte sie mich an meine alte Chefin verkaufen? Würde das ihre letzte Rache sein?" (43)

"Ich wusste nicht, wer sich als Erster auf mich stürzen würde: meine ehemalige Chefin, du oder dein Laufbursche oder ihre alle zusammen als eine gemeinsame Front." (50)

Olenka richtet sich oft an ein "Du" - wer ist gemeint? Was hat sie getan, dass sie sich ein neues Leben in Finnland aufbauen musste? Warum ist sie geflohen, womit kann Daria sie erpressen? Was hat die Familie, die sie im Hundepark beobachtet, damit zu tun? Warum steht der "Hundepark" auf ihrer Liste der guten Dinge, für die es sich noch lohnt zu leben, an erster Stelle? Zahllose Fragen, die schrittweise beantwortet werden, wobei die Spannung bis zum Schluss hin aufrecht erhalten bleibt - ein echter Pageturner, der jedoch aufgrund der unterschiedlichen Zeitebenen und wechselnden Orte sehr komplex aufgebaut ist. Nicht immer leicht den Überblick zu behalten.

Den Roman jedoch nur als Thriller zu lesen, würde ihm nicht gerecht. Schonungslos schildert die Ich-Erzählerin, wie Frauen als Ware behandelt, regelrecht verkauft und ausgebeutet werden. Ein Thema, das mir in diesem Ausmaß überhaupt nicht bewusst war und das Oksanen eindrucksvoll in all seinen Facetten darstellt.

"Einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde mir den Finger in den Mund stecken, um den Zustand meiner Zähne zu prüfen." (43)

Genau diese Untersuchung führen die zukünftigen Eltern durch, um die Tauglichkeit einer potentiellen Eizellenspenderin zu prüfen. Welche Folgen das für die Frauen hat, spielt keine Rolle. Sie werden benutzt, solange sie funktionieren. Am Beispiel Darias wird das besonders deutlich, während Olenka auch als Mittäterin auftritt. Trotzdem hat sie aufgrund ihrer Biographie und den Umständen, unter denen sie aufgewachsen ist und dem, was sie erlitten hat, meine Sympathie gewonnen. 

Ein brisanter Thriller, brillant geschrieben und absolut lesenswert!