Donnerstag, 17. September 2020

Joachim B. Schmidt: Kalmann

 - der Sheriff von Raufarhöfn.

Leserunde bei whatchaReadin

Kalmann ist Anfang 30 und wohnt in einem kleinen isländischen Dorf, das immer vom Fischfang gelebt hat, inzwischen aber ökonomisch am Boden liegt.

"Und darum gab es hier in Raufharhöfn noch eine ordentliche Industrie, bis dann das Fangquotensystem von den Politikern eingeführt und die Quote fast gänzlich aus Raufarhöfn abgezogen wurde. Nun lagen die Hallen brach, jedes dritte Haus stand leer. Es gab inzwischen nur noch einen Mann, der eine ordentliche Fangquote hatte, wenn auch keine große: Róbert McKenzie." (33)

Jener Róbert hat versucht, den Ort zu einer touristischen Attraktion zu machen, betreibt ein Hotel, hat einen Golfplatz anlegen lassen. Beim Bau des Artic Henge, dieses steinerne Kunst-Bauwerk gibt es tatsächlich, ist ihm das Geld ausgegangen - und jetzt ist er verschwunden, während Kalmann, aus dessen Ich-Perspektive die Geschichte erzählt wird, eine Blutlache außerhalb des Ortes findet.

"Wenn man eine Person ist, die eine Leiche oder deren Überreste findet, und sei es auch nur eine Pfütze Blut, hat man etwas mit der Sache zu tun. Man gehört dann einfach in die Geschichte und damit in die Geschichtsbücher. Und das wollte ich verhindern, indem ich einfach nichts sagte." (35)

Kalmann ist geistig beeinträchtigt, einerseits wirkt er naiv, andererseits sind einige seiner Reflexionen scharfsinnig und tiefgründig. In der Diskussionsrunde stand die Frage im Raum, ob die Erzählperspektive authentisch ist, ob ein Mensch, der wie Kalmann unter einer geistigen Beeinträchtigung leidet, sich derart ausdrücken und solche Schlussfolgerungen ziehen kann, während er gleichzeitig grammatikalisch falsche Sätze produziert. Ich bin regelmäßig über diese Diskrepanz gestolpert, für mich hat es den Lesegenuss dieser ansonsten sehr unterhaltsamen Geschichte etwas getrübt.

Nichtsdestotrotz ist das, was geschieht, teilweise skurril und oft unfreiwillig komisch, was aus dem für Fremde seltsamen Verhalten Kalmanns resultiert. Wie schon gesagt, ist er aber auch in der Lage, genau dies zu reflektieren:

„Manchmal guckt man mich einfach nur an, die Leute starren geradezu, völlig behindert, und dann muss ich grinsen, auch wenn ich gar nicht grinsen will, aber ich grinse einfach, und es hat auch schon der ein oder andere gesagt:“Wieso grinst der so blöd.“ (87)

Das hat eine gewisse Komik, ist aber auch tragisch, weil er nicht aus der Situation heraus kann und sich letztlich so verhält, wie es von ihm erwartet wird.

Man erfährt einiges über diese nordische Insel, v.a. über Gammelhai - eine Spezialität, der sich Kalmann widmet. Von seinem Großvater, bei dem er aufgewachsen ist, da seine Mutter arbeiten musste, hat er das Jagen des Grönlandhais, ebenso wie die Herstellung von Gammelhai gelernt, dessen Geruch allein den Großvater aus dem Vergessen holen kann.

Der Großvater hat eine besondere Bedeutung für Kalmann, da er sich immer für ihn eingesetzt und ihm alles so erklärt hat, dass er es verstehen konnte. Doch jetzt ist Kalmann auf sich gestellt und muss sich den Fragen der Polizistin Birna stellen, die das Verschwinden Róberts untersucht. Kalmann behauptet, ein Eisbär sei Schuld daran. Ein Witz oder meint er es ernst? Auf dem Buchrücken ist zu lesen: "Unter einem Eisbär kann es sehr dunkel sein." Was hat es also mit diesem Eisbären auf sich? Und welche Rolle spielen die Litauer, die in Róberts Hotel arbeiten? Vor allem die hübsche Nadja hat es Kalmann angetan, der sich nach einer Frau sehnt. Sein bester Freund ist Noí, mit dem er nur via Internet kommuniziert. Jener scheint krank zu sein und darf das Haus nicht verlassen. Auch er beteiligt sich virtuell an der Suche nach Róbert, der im Dorf nicht beliebt gewesen ist.

"Es wäre die Gerechtigkeit der Natur. (,,,) Dabei wäre ein Eisbär das Letzte, wovor sich der Gauner hätte fürchten müssen." (71)

Es bleibt spannend und als Leser*innen werden wir auf verschiedene Fährten gelockt und folgen dem Sheriff Kalmann auf seinen Wegen durch das Dorf. Sein Outfit - Cowboyhut, Sheriffstern und eine waschechte Mauser - hat er von seinem Vater geerbt, einem amerikanischen Soldaten.

"Du bist der Sheriff. Und du hast vor niemandem Angst." (258)

Entpuppt sich der "Dorftrottel", wie der Autor seinen Protagonisten im Interview bezeichnet (353), tatsächlich als Held?

Ein unterhaltsamer Roman, in dem man einiges über Island lernt und hinterfragt, welches Verhalten eigentlich "normal" ist. Mein Lesegenuss hat aufgrund der inkonsequenten Erzählperspektive etwas gelitten. Sieht man darüber hinweg, ist es ein spannender, witziger Krimi.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Lese-Exemplar.

Donnerstag, 3. September 2020

Annette Mingels: Dieses entsetzliche Glück

ein Roman?


Leserunde Whatchareadin

Diese Frage haben wir uns in der Leserunde gestellt, nachdem wir die ersten Kapitel gelesen haben. Es scheint so, als sei die Verbindung zwischen diesen nur die kleine Stadt Hollyhock im ländlichen Virginia.

Zunächst erwartet die Leser*innen in jedem Kapitel eine eigene Geschichte, ein bedeutender Ausschnitt aus dem Leben einer Figur aus der Stadt Hollyhock.
In Retter steht Robert im Vordergrund, der mit seiner Frau ein Arrangement hat, „sie durften beide mit anderen schlafen. Das Problem war nur, dass Robert das gar nicht wollte.“(9)

Während seine Frau mit ihrem Arbeitskollegen Liam schläft, leidet Robert an dieser Vereinbarung, hat keine Lust, mit einer anderen zu schlafen - bis er im Zug auf die mittellose Julie trifft, der er aus der Klemme hilft. Am Ende der Geschichte bleibt offen, ob die beiden zusammen bleiben werden und es stellt sich zwangsläufig die Frage, ob dies im Verlauf der Handlung aufgelöst wird.

Im 2.Kapitel muss die Maklerin Susan erfahren, dass sich ihr derzeitiger Lebensgefährte einer anderen Frau öffnet. Ist sie nur Gast in ihrem Leben? Als sie einer Familie ein Haus zeigt, wird ihr bewusst, was ihr fehlt. Auch Robert taucht als Randfigur auf - nur lose Fäden zwischen den Geschichten?

In Verbündete eröffnet Aikos Mutter Nomi, eine Japanerin, dass sie ihren Mann bzw. Aikos Vater Saul verlassen will, um nach Japan zurückzukehren. Aiko wird von der Tochter zur Verbündeten der Mutter, während sie sich jahrelang eher als Verbündete des Vaters gefühlt hat. Während Aiko sich von der Mutter bewertet fühlt, aber als Verbündete akzeptiert, wünscht sie sich, so geliebt zu werden, wie ihre Mutter ihren Bruder Kenji (Protagonist der 4.Geschichte) liebt. Und ausgerechnet der Mann, der sie an Kenji erinnert, lässt sie fallen. Die Sehnsucht nach Nähe und Liebe bleibt unerfüllt - ein Motiv, das immer wieder kehrt.
Auch Kenji hat seine große Liebe Lucy verloren, da sie mit seinem besten Freund aus Kindertagen weggegangen ist - das ist seine subjektive Wahrheit. Glücklicherweise kommen auch noch Lucy und Basil selbst zu Wort und es kristallisiert sich heraus, dass die Wahrheit vielschichtig ist.

Kenji, ein Schriftsteller, der einen mäßig erfolgreichen Erzählband herausgegeben hat, über den Basil sagt, er sei
"eine nur unzulänglich veränderte Variation von Hollyhock, zwei oder drei vollkommen unwichtige Mitschülerinnen, Kenjis Eltern natürlich - auch sie verändert, aber doch in manchem ähnlich-, eine Frau, die offen bar eine idealisierte Version von Lucy war" (271)

Fast scheint es, als habe die Autorin ihren eigenen Roman beschrieben. Kenji kristallisiert sich als der eigentliche Protagonist, da er die meisten Bezüge zu den anderen Figuren hat, aus deren personaler Perspektive wir jeweils einen "Splitter" ihres Lebens ansehen dürfen.
Am Ende des Romans fügen sich einige dieser Splitter zusammen, einiges wird nur angedeutet, der Fantasie der Leser*innen überlassen.

Was bleibt, sind kleine Ausschnitte aus dem Leben von Menschen, die auf der Suche nach dem Glück sind, dieses "entsetzlichen Glücks". Neben vielen traurigen Geschichten und tragischen Situationen scheinen immer wieder diese Momente auf, in denen alles vollkommen ist und die mich als Leser*in berührt haben.

In Lucys Geschichte entdeckt diese eine 90jährige Malerin, zu der es ein reales Vorbild gibt. Über deren Bilder sagt Lucy:
"Sie sind so schlicht und doch nie so schlicht, wie man am Anfang meint. Sie sind nicht gemalt, um jemanden zu beeindrucken, sondern einfach Ausdruck einer Wahrnehmung." (215)

Besser könnte man Mingels Roman nicht beschreiben!

Ich möchte mich herzlich beim Penguin-Verlag für das Leseexemplar bedanken und hoffe, dass der Roman noch viele Leser*innen findet, die ebenso begeistert sind, wie ich es bin.