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Kaspar, aus dessen personaler Sicht der Roman vorwiegend erzählt wird, ist Bibliothekar und mit Birgit verheiratet.Ich möchte auf meinem Blog alle möglichen Bücher und Hörbücher vorstellen - quer durch alle Genres - ob Gegenwartsliteratur, Fantasy, Krimis, Liebesromane, historische Romane oder Romane gegen das Vergessen. Viel Spaß beim Lesen!
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Kaspar, aus dessen personaler Sicht der Roman vorwiegend erzählt wird, ist Bibliothekar und mit Birgit verheiratet."Manchmal geht es nicht anders" (80)
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Im letzten Jahr habe ich Marco Balzanos Roman "Ich bleibe hier" gelesen, der mir sehr gut gefallen hat.
Umso höher die Erwartungen an den neuen Roman, der von der Rumänin Daniela Matei erzählt, die in ihrer ausweglosen Situation beschließt, ihre Familie zu verlassen, um in Italien als Pflegerin zu arbeiten. Zunächst ein befremdlicher Gedanke, Kinder und Ehemann im Stich zu lassen, doch Daniela hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht.
Im ersten Teil des Romans "Wo bist du" erzählt der inzwischen 16-jährige Sohn Danielas Manuel aus der Ich-Perspektive.
"Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen" (13), sagt seine Mutter zu ihm, denn Daniela hätte nach der Geburt ihrer ersten Tochter Angelica eigentlich keine Kinder mehr bekommen können. Umso mehr wird Manuel, der acht Jahre nach seiner Schwester auf die Welt kommt, zu ihrem Liebling.
"Angelica ist gut organisiert und alles andere als kleinlich. Sie drückt sich nie vor der Arbeit, im Gegenteil. Sie ist eine, die sich aufopfert. (...) sie zieht den Karren, bis sie zusammenbricht." (13f.)
Folglich ist es Angelica, die sich um Manuel kümmert, als Daniela ihre Familie ohne Abschied verlässt. Der Vater Filip Matei ist Arbeiter in einer Fabrik gewesen, die schon lange geschlossen ist. Auch Daniela hat ihre Arbeit verloren. "Seit einem Jahr schlugen wir uns mit den Schecks der Arbeitslosenversicherung durch." (18)
In einem Brief, den Daniela hinterlässt, erklärt sie ihren Kindern: "Ich muss fort, damit ihr studieren könnt und anständig zu essen bekommt. Denn ich möchte, dass ihr die gleichen Chancen habt wie die andern." (19)
Sie verspricht Geld zu schicken, was sie auch tut, und bittet Angelica, sich um ihren Vater und Bruder zu kümmern. Daniela glaubt nicht, dass Filip sich aus seiner Lethargie wird lösen können, um der Familie zu helfen. Obwohl Danielas Arbeit die finanzielle Situation der Familie verbessert, Angelica studieren und Manuel auf ein Privatgymnasium gehen kann, wäre es Manuel lieber, seine Mutter wäre bei ihm. Er ist wütend auf sie, weil sie aus der Ferne keinen echten Anteil an seinem Leben nehmen kann. Auch Filip verlässt die beiden Kinder, da er eine Anstellung als Lastwagenfahrer gefunden hat: "Minus zwei" (36), ist Manuels Kommentar. Einzig zu seinem Opa Mihai hat er ein inniges Verhältnis und liebt es, mit ihm im Garten zu arbeiten.
Im 2.Teil des Romans "Weit weg" kommt Daniela zu Wort und erzählt von ihren verschiedenen Arbeitsstellen in Italien, als Pflegerin und Kindermädchen, und davon, warum sie ihre Familie zurückgelassen hat.
Zu Filip sagt sie am Telefon: "Ich hab deine leeren Versprechungen satt, deine beschissenen Schwüre: Ich such mir eine Arbeit, ich streng mich an, ich hör auf zu trinken." (78)
"Manchmal geht es nicht anders", hatte sie im Bus gesagt. Dieser Satz nahm mir die Schuld." (80)
Das, was sie in Italien erwartet, ist harte Arbeit, eine Arbeit, für die sie eigentlich nicht ausgebildet ist. Sie muss bei den alten Menschen, die sie pflegt, wohnen, hat kaum Zeit für sich selbst. Oftmals ist sie am Rande ihrer Kräfte. Als sie nach Rumänien zurückkehrt, attestiert ihr ein Arzt die "Italienkrankheit".
"Damit bezeichnen Psychiater eine spezielle Form von Depression, die jene befällt, die jahrelang fern von zu Hause und den Kindern leben, um anderswo Alte, Bedürftige und Kranke zu versorgen." (155)
In diesem Teil wird deutlich, dass sich Balzano intensiv mit der Thematik befasst hat - er war auch in Rumänien, um sich selbst ein Bild von der Situation der Eurowaisen vor Ort zu machen. Seine Intention ist es, den rumänischen Pflegekräften und ihren Kindern eine Stimme zu geben, wie er im Nachwort betont. Es ist ihm wichtig alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, so dass folgerichtig im letzten Teil des Romans Angelica ihre Sicht der Ereignisse dargelegt.
Das Konzept, die Ereignisse aus drei Perspektiven zu erzählen, geht auf, denn- ein Roman über das Leben Thomas Manns.
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"Am nächsten Morgen erzählte Klaus seiner Mutter beim Frühstück, sein Vater habe magische Kräfte und kenne die richtigen Worte, um ein Gespenst zu bannen.Die Handlung setzt im Jahr 1891 in Lübeck ein, Thomas ist 16 Jahre alt, gemeinsam wartet er mit seinem älteren Bruder Heinrich und mit den jüngeren Schwestern Lula und Carla auf die Mutter, während sein Brüderchen Viktor schläft. Im Haus des angesehenen Kaufmanns und Senator Mann findet eine Gesellschaft statt, auf der Julia Mann, aus Brasilien stammend, die Hauptfigur ist. Unwillkürlich fühlt man sich in Thomas Manns "Buddenbrooks" versetzt, der in seinem ersten Roman, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhalten hat, den Zerfall seiner eigenen Familie verarbeitet hat.
"Jahre später fragte sich Thomas, ob der Entschluss seines Vaters, statt der bärtigen Tochter eines der heimischen Schiffsmagnaten oder einer der alteingesessenen Kaufmanns- und Bankiersfamilien Julia da Silva-Bruns zu ehelichen, deren Mutter dem Vernehmen nach Blut südamerikanischer Indianer in ihren Adern hatte, nicht der Beginn des Verfalls der Manns gewesen war (...)" (10)
Und das ist eine der Schwerpunkte des Romans, der immer wieder aufzeigt, dass Mann reale Ereignisse als Grundlage seiner Romane, Novellen und Erzählungen verwendet und literarisch verarbeitet hat.
Doch zunächst erwartet der Vater, dass Thomas die Firma in nächste Jahrhundert führt, während der verträumte Heinrich früh eine Laufbahn als Dichter einschlagen will. Allerdings ist Thomas Interesse an der Firma nur geheuchelt, wie Heinrich erkennt.
"Ich habe dich während des Mittagessens dabei beobachtet, wie du den kleinen Geschäftsmann gegeben hast", sagte er zu Thomas. "Alle außer mir sind darauf hereingefallen. Wann wirst du ihnen endlich verraten, dass du nur Theater spielst?" (15)
Interessanterweise nimmt Toíbín dieses Motiv ganz am Ende wieder auf, nachdem Thomas Mann, der seinen Vater zu dessen Lebzeiten enttäuscht hat, inzwischen selbst ein bedeutender Mann ist.
"Sein eigener Vater wäre von ihm eingeschüchtert gewesen. Niemand allerdings wäre eingeschüchtert gewesen, der ihn dabei gesehen hätte, wie er allein im Waschraum der Notarkanzlei, mit seinem alternden Gesicht konfrontiert wurde. Er hätte sich vielmehr gewundert über die halb spöttischen Blicke, die er sich im Spiegel zuwarf, das flüchtige listige, wissende Grinsen, das über sein Gesicht huschte, als freute er sich diebisch darüber, dass er, wie sein Felix Krull, wieder einmal nicht "aufgeflogen" war."(544)
Das ganze Leben als Rolle in einem Schauspiel?
Damit weist Toíbín auf eine Facette der Persönlichkeit Thomas Manns hin, die dieser zeitlebens unterdrückt bzw. nicht ausgelebt hat: seine homosexuellen Neigungen, abgesehen von einigen (fiktiven?) Erfahrungen in seiner Jugend.
Sowohl sein Werk als auch seine Tagebuchaufzeichnungen, die größtenteils erhalten sind, sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache. Doch er hat sich für das Leben eines bürgerlichen Familienvaters entschieden und glaubt man Toíbín und dessen Quellen, führten Katia Pringsheim und Thomas Mann eine glückliche Ehe, die von gegenseitigem Respekt bestimmt gewesen ist. Und sie scheint seine Neigungen toleriert zu haben.
"Eingeschrieben in ihre stillschweigende Übereinkunft war die Klausel, dass, so wie Thomas nichts tun würde, was ihr häusliches Glück in Gefahr bringen könnte, Katia die Natur seiner Neigungen klaglos anerkennen, die Personen, an denen sein Blicke am liebsten haften blieben, nachsichtig und gutgelaunt zur Kenntnis nehmen und, wenn angebracht, ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen würde, Thomas in all seinen verschiedenen Manifestationen zu würdigen und zu schätzen." (134)
Als Familienvater scheint er weniger "erfolgreich" gewesen zu sein. Einzig zu seiner Tochter Elisabeth hatte er ein inniges Verhältnis, auch diese Facette des Menschen Thomas Mann stellt Toíbín gut dar.
Neben der Lebensgeschichte Manns und der Entstehungsgeschichte seiner Werke spiegelt der Roman zwangsläufig auch die politische Geschichte Deutschlands vom Ende des Kaiserreiches bis zum Beginn des geteilten Deutschlands wider. Vor allem mit seinem Bruder Heinrich führte er immer wieder politische Debatten über das Machtstreben Kaiser Wilhelms II und er befürwortet den 1.Weltkrieg. Die Passagen des Romans, die sich mit Manns langem Schweigen zur Nazi-Herrschaft auseinander setzen, seine Rolle im Exil, seine Radioansprachen an die deutsche Nation und seine Stellung in den USA nach dem Krieg gehören meines Erachtens zu den besten Passagen des über 500 Seiten langen Romans.
Ebenso interessant sind die Stellen, in denen uns der fiktive Thomas Mann Einblick in die Entstehung seiner Werke gibt und auch in seine Arbeitsweise, die sehr diszipliniert gewesen ist. Jeden Vormittag hat er geschrieben und durfte nicht gestört werden. Die literarischen Sujets mussten zu ihm kommen, entstammten oft seinem unmittelbaren Umfeld.
"Aus der Gegenwart werde ich nicht klug. Sie ist ein einziges Durcheinander. Und über die Zukunft weiß ich nichts." (310)
Insgesamt ein Roman, der einen Einblick in das Leben dieses großartigen Schriftstellers gewährt.
Indem er aus Thomas Mann personaler Perspektive erzählt wird, haben wir als Leser*innen das Gefühl direkt in seinen Kopf blicken zu können. Dabei werden die positiven Seiten Manns ebenso herausgestellt wie auch seine Schattenseiten.
Klare Lese-Empfehlung!
Vielen Dank an den Hanser Verlag für dieses auch optisch sehr schöne Leseexemplar.
- ein Roman Noir.
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Das düstere Cover mit den zart von Schnee bedeckten Weinreben passt perfekt zur Stimmung im Roman, der in einer "gottverlassenen Ecke in den Cevennen" (7) spielt. "Einem Ort namens Les Doges, mit zwei Bauernhöfen, ein paar hundert Meter voneinander entfernt, weite Flächen mit Bergen, Wäldern und hier und da ein paar Wiesen mit einigen Monaten Schnee im Jahr und mit Felsgestein, auf dem das Ganze ruht." (7)"Drei eigenartige Menschen, von Zufällen zusammengewürfelt" (Buchrücken)
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Der Roman erzählt die Lebensgeschichte Ludwig Lendles, der im ersten Weltkrieg als Soldat gedient hat und dort seine große Liebe Gerhard kennen gelernt hat. Zeit seines Lebens ist es ihm nicht möglich seine Homosexualität offen auszuleben, statt dessen lebt er in einer Art Familie.
Seine Familie besteht aus Alma Grau, deren Vater als Gardist bei einem Attentat im Jahr 1912 ums Leben kommt. Tragischerweise stirbt auch ihre Mutter auf dem Weg zu ihrem toten Mann. Da ist Alma 11 Jahre alt und nachdem sie in einigen Pflegefamilien gelebt hat, wird sie zu ihrem Paten geschickt: Ludwig Lendle, der jedoch kaum älter als sie und auch nicht mit ihr verwandt ist. Er liebt klassische Musik und ist noch im Studium. In der Wohnung, die er vom Ehepaar Mensch gemietet hat, lebt auch die Haushälterin Fräulein Paula Gerner, gemeinsam bilden sie ein Zweckgemeinschaft, die mit wenigen Unterbrechungen, bis zum Lebensende Ludwigs bestehen bleibt.
Der Roman erzählt die verschiedenen Lebensstationen Ludwigs, der der Großonkel des Autors ist, der Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen gefunden hat und auf deren Basis diese Biographie entstanden ist. Das Tagebuch, in dem auch Alma immer heimlich gelesen hat, scheint recht sachlich und trocken formuliert zu sein, so dass auch der Roman selbst relativ nüchtern erscheint und nur wenig Innensicht bietet - am ehesten noch erfahren wir Almas Gedanken, die sich in ihren Paten verliebt - hoffnungslos.
Wilhelm, Ludwigs Bruder, wird überzeugter Nationalsozialist, während er selbst sich politisch neutral verhält, allerdings mit Giftgasen und ihren Gegenmitteln experimentiert. Seine Notizen bleiben auch in dieser Lebensphase nüchtern, selbst beim Anblick der jüdischen Ghettos - ein Umstand, der meines Erachtens stärker hätte problematisiert werden müssen.
Nach dem Krieg bleibt er zunächst im Osten, in Leipzig, gelangt jedoch noch lange vor dem Mauerbau in den Westen. Eine Episode, die recht interessant erzählt wird. Immer wieder rückt auch Alma in den Mittelpunkt, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und von Ludwig finanziell unterstützt wird. Am Ende des Romans steht der Vater des Autors im Fokus.
Der Roman schildert das Leben Ludwig Lendles, bietet einen Einblick in die deutsche Geschichte nach dem 1.Weltkrieg bis zum Ende der 60er Jahre, Alltagsgeschichte sozusagen. Auch Almas Entwicklung wird erzählt, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie sich nur wenig verändert. Daneben enthält der Roman teilweise interessante Gedanken und Denkanstöße, trotzdem hat mich die Lektüre eher gelangweilt. Man springt von Lebensstation zu Lebensstation, ohne dem Menschen Ludwig Lendle wirklich nahe zu kommen. Das mag an der Außenperspektive liegen oder auch daran, dass diese Lebensgeschichte mich nicht ausreichend interessiert hat oder auch an der episodenhaften Erzählweise. Nur die Sprache hat mir gefallen.
Insgesamt kein Roman, den ich weiterempfehlen würde.
- Booker Prize 2020
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Im Mittelpunkt dieses sehr bewegenden Romans stehen Shuggie Bain und seine Mutter Agnes, die Alkoholikerin ist.Die Handlung beginnt im Jahr 1992, Shuggie ist 16 Jahre alt, arbeitet seit über einem Jahr in einem Supermarkt in Glasgow, träumt jedoch davon auf die Friseurschule zu gehen. Er lebt allein in einem möblierten Zimmer, umgeben von "Porzellanballerinas" (15), die immer wieder im Roman auftauchen und ein Leitmotiv bilden. Einerseits erinnern sie ihn an seine Mutter, andererseits symbolisieren sie, dass Shuggie anders ist: Er ist homosexuell und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass er das Tanzen liebt und alles, was "normale Jungs" ausmacht, ablehnt.
Die Handlung springt ins Jahr 1981, als Shuggie 5 Jahre alt ist und mit seinen beiden älteren Geschwistern Catherine, Alexander, Leek genannt, seiner Mutter Agnes und seinem Vater Shug bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt. Das Geschehen wird aus unterschiedlichen personalen Erzählperspektiven geschildert, hauptsächlich aus der Agnes und Shuggies, aber auch die Sicht der Geschwister und Shugs Gedankenwelt werden vor den Leser*innen ausgebreitet. Die Situation erscheint für fast alle Beteiligten trostlos.
"Sie (Agnes) spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien." (27)
Agnes ist eine Schönheit mit künstlichen Zähnen, die immer noch für Aufsehen sorgt. Ihren ersten, katholischen Mann hat sie für Shug verlassen, da er ihr nicht genügt hat, zu langweilig, zu fromm, zu brav.
"Big Shug Bain war im Vergleich mit dem Katholiken betörend gewesen. Er war eitel, wie es nur Protestanten sein konnten, stellte seinen windigen Wohlstand zur Schau und leuchtet rosig vor Prasserei und Verschwendung." (40)
Shuggie ist der einzig gemeinsame Sohn der beiden und Agnes erkennt, dass er anders als sein großspuriger Vater ist. Aus diesem Grund kauft sie ihm eine Puppe - sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit. Sie achtet darauf, dass er sich gut ausdrückt, "dass er die Silben nicht verschliff." (66) Genauso wie sie selbst Wert auf ihre äußere Erscheinung und eine gute Aussprache legt, sie wahrt den Schein, um ihre Sucht zu verbergen, genauso wie ihre Eltern verbergen, dass sie nie aufgehört haben zu trinken.
"Agnes wusste genau, dass Wullie und Lizzie sich heimlich aus dem Zimmer stahlen, wenn sie dachten, keiner sah hin. Sonntags standen sie vom Esstisch auf oder gingen einmal zu oft aufs Klo. Dann setzten sie sich auf die Kante ihres großen Ehebetts, Schlafzimmertür zu, und holten die Plastiktüten unter dem Bett hervor. Schenkten sich was in eine alte Tasse und tranken schnell und leise im Dunkeln wie Teenager." (35)
Stuart zeichnet ein schonungsloses Bild derer, die unter der rigiden Politik Magret Thatcher keine anständige Arbeit finden, keine Chance mehr erhalten oder auch ergreifen können und die sich aus Verzweiflung bzw. Resignation dem Alkohol hingeben. Vor allem das Leid der Kinder, die in diesem brutalen, sozialen Milieu aufwachsen müssen, wird im Roman plastisch geschildert.
"Was immer sie zum Lachen brachte, tat er noch ein Dutzend Mal, bis ihr Lächeln dünn und falsch wurde und er nach dem nächsten Kunststück suchte, das sie glücklich machen würde. (67)
- eine Novelle.
Klassiker der Weltliteratur
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Die Novelle spielt auf einer Zugfahrt, der Ich-Erzähler ist bereits den 2.Tag unterwegs und teilt das Abteil mit einer „hässlichen, nicht mehr jungen, zigarettenrauchenden Dame“ (7) und ihrem Bekannten, einem Anwalt, der tadellos angezogen ist sowie einem kleinen, fahrig wirkenden Herr, der zunächst jedes Gespräch meidet.- ein Paar zieht in der Lebensmitte Bilanz.
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Rahel, aus deren personaler Erzählperspektive das Geschehen geschildert wird, hat in den Sommerferien mit ihrem Ehemann Peter, mit dem sie seit fast 30 Jahren verheiratet ist, ein Hütte in den Bergen gemietet. Alles ist vorbereitet:"Den Papierkram in der Praxis (sie ist Psychotherapeutin) hat sie erledigt, (...). In ihrer Stammbuchhandlung hat sie ein Buch auf Empfehlung gekauft und eines von Elizabeth Strout, das schon lange auf ihrer Wunschliste stand - eine hochgelobte Mutter-Tochter-Geschichte." (7)
Mit dem Roman von Strout ist "Die Unvollkommenheit der Liebe" gemeint, ein Titel, der auch zum derzeitigen Verhältnis zwischen Rahel und Peter passt. Der Aufenthalt in den Bergen sollte ihnen einen Neustart ermöglichen, doch die Hütte brennt ab. Zufällig meldet sich kurz darauf Ruth, eine Freundin von Rahels verstorbener Mutter Edith. Zu Ruth und deren Mann Victor hat Rahel zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis gehabt, deren Haus in der Uckermark ist für sie immer ein Zufluchtsort gewesen.
"Bei ihnen in Dorotheenflede kam ihr Leben zur Ruhe. Ediths rastloses Dasein, das Rahel und ihrer Schwester Tamara eine Kindheit mit wechselnden Stiefvätern, etlichen Umzügen kreuz und quer durch Dresden und verschiedenen Schulen beschert hatte, war wie ein Sturm auf hoher See gewesen, und obwohl auch Dorotheenfelde kein dauerhafter Hafen wurde, so hatte es hier doch immerhin heilsame Flauten gegeben." (15)
Da Victor einen Schlaganfall gehabt hat und kurzfristig einen Rehaplatz erhalten hat, bittet Ruth Rahel und Peter auf ihr Haus aufzupassen und die Tiere zu versorgen. Rahel sagt zu, ohne Peter zu fragen. Ein Verhaltensmuster, das eines der Probleme aufzeigt, die zwischen ihnen herrschen - Rahels Dominanz.
Sie ist die lebenslustigere, aktivere der beiden und kann es kaum ertragen, dass Peter nicht mehr mit ihr schläft. So bezieht jeder ein eigenes Zimmer in Dorotheenfeld und Peter bietet an, sich um die Tiere - ein Pferd, mehrere Katzen sowie einen flugunfähigen Storch, zu kümmern. Damit er nicht mit Rahel reden muss? Gleichzeitig spiegeln die Tiere das Verhalten der Figuren wider, die in der ländlichen Einsamkeit miteinander auskommen müssen.
Rahel entdeckt in Victors Atelier, der im Verband Bildender Künstler der DDR gewesen ist und in den Nullerjahren ein Comeback erlebt hat, Zeichnungen von sich als Kind sowie von ihrer Mutter. Der Gedanke, Victor könne ihr Vater sein, drängt sich auf. Ihre unstete Mutter Edith hat nie verraten, wer Rahels Vater gewesen ist.
Schließlich bittet Rahel Peter um ein Gespräch und es stellt sich heraus, dass der Bruch aufgrund ihrer Illoyalität entstanden ist. Peter hatte in seinem Literaturseminar eine Konfrontation mit einem nicht-binären Menschen (Olivia P.) und war der Situation nicht gewachsen, ebensowenig wie dem anschließenden medialen Shitstorm.
"Die ganze Sache mit Olivia P., das Spießrutenlaufen an der Uni, der Hass, die Vulgarität, das alles habe ihn zutiefst erschüttert, und als er angeschlagen nach Hause gekommen sei, sei er von ihr verhöhnt worden, und etwas in ihm sei zerbrochen. (...) Und das Begehren ... hat einfach aufgehört." (57)
Wird es wieder zurückkehren?
Zu allem Überfluss kündigt sich Selma, ihre Tochter mit ihren zwei Kindern an.
"Wenn Selma nur nicht so wäre, wie sie ist. Egal, wie viel Aufmerksamkeit und Liebe sie ihrer Tochter schenkt- Selma braucht mehr." (61)
Der Besuch gestaltet sich schwierig, nicht nur wegen unterschiedlicher Erziehungsfragen - dürfen Kinder unter dem Tisch essen? - sondern auch deshalb, weil es in Selmas Ehe ebenfalls kriselt. Andererseits führen die gemeinsamen Probleme dazu, dass Rahel und Peter sich annähern. Wird es Peter gelingen erneut Nähe zuzulassen, kann Rahel sich zurücknehmen und seine Bedürfnisse akzeptieren? Wird es ihr gelingen die Beziehung zu ihrer Tochter zu verbessern? Und kann Rahel die Frage nach ihrer Herkunft lösen?
Krien zeichnet ein realistisches Bild der verschiedenen Beziehungen - nicht ohne Humor. Sie spielt mit den Geschlechterstereotypen und stellt sie dadurch in Frage.
"Männern wird immer vorgeworfen, wir wären triebgesteuert, aber so langsam habe ich das Gefühl, dass ihr Frauen uns auch in dieser Hinsicht überholt." (105)
Peter repräsentiert den gelehrten Universitätsprofessor, der die heutige Jugend nicht mehr versteht, sich aus der Gesellschaft zurückzieht, auf Teilhabe verzichtet, dadurch aber die Möglichkeit versäumt, mit der Zeit zu gehen, sich anzupassen und trotzdem seine Meinung darzulegen.
"(...) du hast ein Idealbild vom umfassend gebildeten Studenten einer längst vergangenen Epoche, als Studieren die Ausnahme und nicht die Regel war." (139)
Jammern allein kann keine Lösung sein. Trotzdem sind die Figuren nicht unsympathisch, man kann ihre Gefühle und Befindlichkeiten nachvollziehen, wenn auch nicht alles gutheißen.
Krien erzählt von einem Ehepaar in der Mitte ihres Lebens, die eine Neuorientierung suchen und sich dabei nicht verlieren wollen. Ein lesenswerter Roman, nicht nur für Paare in der Midlifecrisis.
Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.
- ein Psychodrama.
Leserunde auf whatchaReadin"Standbild, dann Rücklauf."
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Die Künstlerin Eve Laing wandelt durch das nächtliche London und besucht um die Weihnachtszeit das Haus, in dem sie noch vor neuen Monaten mit ihrem Mann Kristof, einem erfolgreichen Architekten, gelebt hat. Die 60-Jährige hat ihn jedoch für einen Jüngeren verlassen und reflektiert in dieser einen Nacht, in der die Geschichte spielt, über ihr Leben."Es dauerte ein ganzes Leben, um es aufzubauen, und nur eine Sekunde, um es zu zerstören. Familienleben. Das ging als Erstes flöten. Dann die Würde, und mit ihr der gute Ruf. Alles andere folgte in dem Strudel. Nur ihre Arbeit ist geblieben. Der Junge fing ihren Blick ein und hielt ihn fest. Standbild, dann Rücklauf." (11)
Bereits zu Beginn des Romans wird Eves derzeitige Situation beschrieben, doch wie es dazu gekommen ist und was die einzelnen Aussagen bedeuten, entfaltet sich, während sie selbst durch London läuft und immer wieder innehält (Standbild) und in Rückblicken (Rücklauf) an das zurückdenkt, was sie an diesen Punkt geführt hat, in dem sie gezwungen ist, loszulassen.
Erzählt wird ausschließlich aus ihrer Sicht, allerdings in der Sie-Form, so dass die Distanz gewahrt bleibt, die auch dadurch entsteht, dass Eve sich als recht unsympathische Figur präsentiert. Gemeinsam mit zwei "Freundinnen", Mara und Wanda, hat sie in London die Kunstakademie besucht und anschließend Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre in New York gelebt. Den Begriff "Freundinnen" müsste man allerdings ersetzen durch "Feindinnen". Das, was sich die drei gegenseitig aus Missgunst und Neid angetan, haben, ist bitterböse.
Eves Gedanken kreisen
1. Um ihre Tochter Nancy
"Was erwartete ihre Tochter denn, dieses liberale Dummchen mit ihrer Glutenunverträglichkeit und ihrer Schwachsinnstoleranz?" (63)
- von der sie enttäuscht ist, die sie verachtet und mit der sie den Kontakt abgebrochen hat.
2. Um ihre Beziehung zu Florian Kis
Bekannt wurde Eve durch ein Porträt "Mädchen mit Blume", das der angesagte Künstler und ihr Lehrer Florian Kis von ihr gemalt hat und das sie in einer unterwürfigen Pose, nackt zu den Füßen des Malers zeigt. Dass er sie sexuell ausgenutzt und als dessen Muse galt, nagt immer noch an ihr.
"Und was war mit Florian Kis? Nun ja, daran arbeitete sie sich heute noch ab." (45)
"Nachdem sie sich endgültig von Florian losgeeist hatte, taumelte sie von einem Abenteuer, zuweilen auch einem Missgeschick ins nächste, doch damals gab es in Eves Liebesleben keine langen Schatten." (53).
3. Um ihre eigene Kunst und damit verwoben ihre Konkurrenz zu Wanda Wilson
Nur die "Blütenschatten" interessieren sie, denn als Künstlerin hat sie sich einen Namen durch ihr Werk "Underground Florilegium" gemacht.
"Darin hatte sie auf Harry Becks klassischer Tube-Map aus den 1030er Jahren die Namen der Stationen mit ihren botanischen Bildern ersetzt." (31)
Allerdings glaubt sie ihre "florale" Kunst erfahre nicht die notwendige Wertschätzung und der Neid auf die inzwischen erfolgreiche Performance-Künstlerin Wanda, die ihr Elend theatralisch zu inszenieren versteht, frisst sie auf. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die Eve Wanda attestiert, trifft ebenso auf sie selbst zu.
Alles muss sich um sie und ihre Kunst drehen, so ist sie geschmeichelt, dass ihr neuester Assistent Luka, der 30 Jahre jünger ist als sie, sich ernsthaft für sie zu interessieren scheint.
4. Um Luka und ihre Arbeit am Poison Florilegium
Die zynische Eve lässt sich mit Haut und Haaren auf diesen jungen Mann ein, der es vermag ihre Leidenschaft neu zu entfachen und ihre Arbeit zu beflügeln.
Die jüngste Vergangenheit nimmt den größten Raum des Romans ein und dieser Teil der Geschichte entfaltet trotz der akribischen Beschreibung der Arbeitsweise der Künstlerin einen Sog, dem man nur schwerlich widerstehen kann und gipfelt in einem furiosen Finale.
Zu Beginn erscheint die Sprache Eves manieriert, wie eine der Mitleserinnen der Leserunde es treffend beschrieben hat, doch ist dies nur ein Stilmittel, das Eve treffend charakterisiert. Teilweise ist die dezidierte Beschreibung der künstlerischen Arbeit etwas langatmig, doch die sich steigernde Geschichte um Eve und Luka überwiegt eindeutig - und der Schluss ist wirklich genial, der die Bemerkung auf dem Buchrücken, Eve sei kein zartes Pflänzchen, sondern eine kompromisslose Künstlerin, die ihre Passion über alles stelle, eindrucksvoll bestätigt.
Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für diesen empfehlenswerten Roman!
- eine Wiederentdeckung.
In zwei aufeinander folgenden Nächten vertraut die ca. 40jährige Heleen, die in einer Nervenklinik liegt, der Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. Die Geschichte spielt in den Niederlanden zu Beginn des 20.Jahrhunderts."Nein, bitte, legen Sie die Näharbeit nicht weg. Lassen Sie mich bitte noch ein bisschen bei Ihnen sitzen, bringen Sie micht nicht ins Bett." (33)
Dadurch, dass Heleen durchgängig erzählt, ist die Beichte sehr intensiv und komprimiert. Beim Lesen entsteht ein Sog, der die Leser*innen in diese außergewöhnliche Lebensgeschichte hineinzieht. Die Fragen, die im Raum stehen, sind:
Warum ist Heleen in der Nervenklinik? Was hat sie zu beichten? Ist sie wirklich psychisch krank?
"Ich war die Älteste und habe erlebt, wie das Haus voll wurde." (23)
Neun Geschwister hat sie und muss nach 6 Jahren die Schule verlassen, um zum Einkommen des Haushalts beizutragen, nachdem ihr Vater bei einem Unfall ans Bett gefesselt ist. Damit erfüllt sich letztlich ein Traum für sie, dann bereits als Kind läuft sie einmal von zu Hause weg, da sie in die Welt hinaus gehen will.
Sie erhält eine Anstellung in dem Schneideratelier einer Französin und ist sich trotz ihrer 13 Jahre bewusst, "dass [sie] große braune Augen hatte, das Weiß bläulich wie Porzellan, und [ihre] Haare waren schwarz, ganz glatt und glänzend." (45)
Täglich betrachtet sie sich im Spiegel, dem sie gegenüber sitzt und stellt sich vor, sie trage die wunderschönen, kostbaren Kleider, an denen sie arbeitet. Als sie zu ihrem 15.Geburtstag von den anderen Angestellten ein braunes Kleid aus Baumwollsamt erhält, verschwindet das Spiegelmädchen. Sie erkennt, dass sie "ärmlich gekleidet" (48) ist und damit möchte sie, die sich nach Schönheit sehnt, und alles, was sie stört und irritiert, "hässlich" nennt, nicht abfinden.
Heleen nutzt die Bekanntschaft eines Handelsvertreters für Stoffe, um einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Dafür muss sie gegen den Willen ihres Vaters, der sie verdammt, ihr Elternhaus verlassen. Die Antwort ihrer Mutter zeigt, wie schwierig es für Frauen in dieser Zeit gewesen ist, einen eigenen, selbstbestimmten Weg einzuschlagen.
"Sie sagte nur, sie habe lebenslang ihre Pflicht getan. Und sich an die Gebote gehalten. Und auch auf ihrem Leben habe kein Segen gelegen." (83)
Heleen muss die ganze Nacht - und auch noch eine weitere, reden, sonst "werde [sie] vollkommen verrückt." (94)
Diese Beichte ermöglicht ihr, das Furchtbare, das sie getan hat, zu begreifen. Der Monolog gleicht einer intensiven Psychoanalyse, lässt die Gefühle und Erkenntnisse aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche steigen. In der 2.Nacht werden die Reaktionen der Nachtschwester kaum noch kommentiert, der Drang, sich alles von der Seele zu reden, wird größer. Was sie getan und erlebt hat, zeigt, dass sie, die selbst wenig Liebe erfahren hat, kaum Selbstvertrauen hat und sich fast ausschließlich über ihre Schönheit definiert. Ihre Angst, den Menschen, den sie über alles liebt, zu verlieren, weil sie älter wird, ist unerträglich für sie und führt letztlich zu einer Katastrophe.
Ein Roman, der aufgrund der Erzählweise einen Sog entfaltet, dem ich mich kaum entziehen konnte. Sehr intensiv erlebt man die Lebensgeschichte dieser aufstrebenden jungen Frau mit, die aus der Unterschicht kommend, aufsteigt, um zu fallen.
Ein Roman, dem ich viele Leser*innen wünsche!
"Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?" (353)
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1926 erhielt die sardische Schriftstellerin Grazia Deledda den Literaturnobelpreis, ihr Roman "Schilf im Wind" ist jetzt im Manesse Verlag in einer wunderschönen Neuedition aufgelegt worden. Das italienische Original erschien im Jahr 1913, etwa zu jener Zeit spielt auch das Geschehen in der Heimat der Schriftstellerin.Im Mittelpunkt steht "Efix, der Knecht der Damen Pintor" (5), der das Landgut der verarmten Adligen seit 30 Jahren bewirtschaftet. Einst verfügte die Herrschaft über mehrere Ländereien, doch wie ein Junge aus dem Dorf erzählt, liegt "nach dem Tod von Donna Maria Christina, Eurer seligen alten Herrin [...] ein böser Bann auf Eurem Hause" (15). Die jüngste der Pintor-Schwestern, Lia, sei davon gelaufen, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen und einen Bürgerlichen zu heiraten, ihr Vater Don Zame habe sie gesucht und sei an der Brücke getötet worden.
Und nun ist ein Brief Don Giacontos angekommen, der Sohn Lias, die inzwischen ebenfalls verstorben ist. Seine Ankunft bringt das Leben der drei verbleibenden Schwestern Pintor - Donna Ruth, Donna Esther und Donna Noemi - aus dem Gleichgewicht. Auch der Knecht Efix muss sich einer alten Schuld stellen und ist gezwungen seine geliebtes Landgut zu verlassen, um für diese Schuld zu sühnen.
Folglich sind Schuld und Sühne die bestimmenden Themen des Romans, der jedoch auch aufzeigt, dass unter den bestehenden Normen der Gesellschaft ein selbst bestimmtes Leben kaum möglich ist, da eine Heirat an Standeszugehörigkeit gebunden ist und die Liebe sich dem unterwerfen muss. Vor allem am Beispiel Donna Noemi wird deutlich, dass sie sich nach einer anderen Lebensweise sehnt, jedoch in den Mauern der Konventionen gefangen ist.
Während die Landschaftsbeschreibungen Bilder beim Lesen entstehen lassen und die Art und Weise, wie die Sarden kurz vor dem ersten Weltkrieg gelebt haben, deutlich wird - v.a. ihr tief verwurzelter Aberglaube, bleiben die Figuren bis auf Efix seltsam blass. Ihre Handlungen und Entscheidungen lassen sich nur teilweise nachvollziehen und das liegt nicht daran, dass uns die Normen und Konventionen der Gesellschaft heutzutage überholt erscheinen, sondern daran, dass die Geschichte hauptsächlich aus Efix personaler Sicht erzählt wird, so dass uns Donna Noemi oder auch Giaconto fremd bleiben. Man fiebert weder mit noch wird von der Geschichte gefangen genommen. Hinzu kommen viele Traumsequenzen, in denen Wünsche und Realität verschwimmen, was den Lesefluss zusätzlich erschwert.
Ein Roman, der sicherlich viele Leser*innen begeistern kann, zu dem ich aber leider keinen Zugang gefunden habe.
Von einem, der überlebte
Leserunde auf whatchaReadin
Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Noah Klieger, die er im "Frühling des Jahres 2018 in Tel Aviv [...] unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses" (9) dem Schriftsteller Takis Würger erzählt hat. Im Dezember 2018 verstarb Noah Klieger in Tel Aviv.Im Jahr 2017 lernte Würger den Auschwitz-Überlebenden in Günzburg kennen, wo er an einem bayrischen Gymnasium über die Shoah sprechen sollte, und sie entschieden, dass sie gemeinsam sein Leben festhalten wollten - zweieinhalb Monate lange erzählte Noah Klieger und Takis Würger hörte zu. Er selbst sagt, dass dieses Buch in der "Tradition der Oral History" erschienen ist. Die Geschichte wird so erzählt, wie Noah sie erinnert. Daraus resultieren einerseits Leerstellen in der Biographie - Ereignisse, zu denen man als Leser*in gern mehr erfahren hätte - andererseits ein nüchterner, fast sachlicher Stil, der eher einem Bericht als einer erzählten Geschichte gleicht. Die Erklärung, dass Noah Klieger die Geschichte genau in dieser Art und Weise erzählt haben wollte und dass manche Ereignisse so traumatisch sind, dass Menschen auch nach Jahrzehnten nicht darüber sprechen können, erfahren wir als Leser*innen erst im Nachwort von Takis Würger, Noahs Nichte Alice Klieger und von Sharon Kangisser Cohen, die erzähltheoretische Erklärungen für die Art und Weise der Darstellung liefert. Diese Informationen hätte ich für meinen Teil gerne als Vorwort gelesen, um die Lebensgeschichte und den Stil, in dem sie geschrieben wurde, besser einordnen zu können.
Zum Inhalt
Der erste Teil erzählt von Noahs Verhaftung in Belgien und seiner Deportation nach Auschwitz. Das Leben im Lager wird knapp geschildert, vieles nur angedeutet. All jene, die sich mit der Thematik beschäftigt haben und andere Romane "Gegen das Vergessen" gelesen haben, wissen die Leerstellen zu füllen. In der Leserunde wurde in dem Zusammenhang über die Frage diskutiert, ob Jugendliche, die zum ersten Mal eine Lebensgeschichte eines Holocaust-Überlebenden lesen, nicht zusätzliche Informationen bräuchten - sie sollten auf jeden Fall zuerst das Nachwort lesen.
Die perfide Grausamkeit der Täter, ihre Willkür und ihr Sadismus sind trotz des nüchternen Erzählstils greifbar und gleichzeitig unfassbar. Noah überlebt die schwere Arbeit, die Selektionen, bei denen er auf Josef Mengele trifft und auch den Todesmarsch. Er selbst hat sein Überleben "als einen Überlebenskampf, in dem er ein aktiver Teilnehmer war" (169) betrachtet.
Während der zweite Teil von der unmittelbaren Zeit nach der Befreiung der Lager berichtet, handelt der dritte Teil von der Überfahrt der Exodus von Frankreich nach Palästina, wo das Schiff von britischen Soldaten überfallen, angegriffen und zurück nach Frankreich gezwungen wurde. Dieser Teil der Geschichte, der Umgang mit den jüdischen Überlebenden, ist weniger bekannt und zeigt, dass für viele das Leiden nach der Kapitulation Deutschlands nicht vorüber gewesen ist.
Der letzte Teil dokumentiert, was aus den Menschen, denen Klieger begegnet ist, geworden ist und gibt einen kurzen Überblick über sein eigenes Leben als Zionist und Journalist.
Fazit
Obwohl ich es wichtig finde, dass die Lebensgeschichte Kliegers erzählt werden sollte und im Nachwort auch erläutert wird, warum sie auf diese Art und Weise geschildert wird, hat mich die Biographie dennoch nicht überzeugen können. Der Stil (Würgers (?) ist mir persönlich zu sachlich, zu nüchtern. Ich habe kaum Zugang zur Person Kliegers gefunden, kann mir jedoch vorstellen, dass persönliche Begegnungen mit Noah Klieger oder die Vorträge, die er regelmäßig in Deutschland gehalten hat, sehr bewegend waren, wie Würger in seinem Nachwort schildert. Der Roman vermag dies nur bedingt widerzuspiegeln, auch wenn er "ein Akt des Andenkens - eine Art symbolisches Grab oder eine Dokumentation des Erlittenen" (178) ist.
Vielen Dank dem Penguin Verlag für das Lese-Exemplar.
- Weltbestseller aus Korea
Leserunde auf whatchaReadin
So startet der Roman und gibt in Kurzfassung Jiyoungs Lebenssituation wider. Sie hat ihren Job bei einer Marketingfirma aufgegeben, um ihr Kind zu betreuen. Ihr Mann arbeitet bis spätabends in einer IT-Firma, ihre Eltern betreiben ein Restaurant in Seoul, ihre Schwiegereltern wohnen in Busan, so dass sie mit der Kindererziehung weitestgehend auf sich gestellt ist. Plötzlich legt sie ein sonderbares Verhalten an den Tag und spricht mit der Stimme ihrer Mutter und mit der ihrer ehemaligen Studienkollegin. In diesen "Rollen" spricht sie aus, was sie sich sonst offensichtlich nicht traut zu sagen: Dass die Vorbereitung eines Festessens für die ganze Familie sehr erschöpfend ist oder dass sie an den Feiertagen gerne ihre eigene Familie besuchen würde.
Ist es eine psychische Störung oder schauspielert Jiyoung?
Im folgenden Verlauf des Romans wird Jiyoungs Lebensgeschichte erzählt, angefangen mit ihrer Geburt im Jahr 1982. Sie hat noch eine ältere Schwester und als die Mutter wieder schwanger wird und es sich herausstellt, dass es erneut ein Mädchen wird, treibt sie ab.
"Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten waren gesellschaftlich akzeptiert, als ob eine Tochter zu bekommen ein medizinischer Grund wäre." (30)
Die Bemerkung ist mit einer Fußnote versehen, in der auf eine entsprechende Quelle dieser Aussage verwiesen wird. Diese Belege tauchen häufiger auf, so dass der Roman wie eine Mischung aus Fiktion und Sachbuch wirkt, ein Eindruck, den der nüchterne Stil unterstützt. Die Sprache steht jedoch nicht im Vordergrund, sondern die Lebensgeschichte Jiyoungs und auch die ihrer Mutter, die ebenfalls kurz skizziert wird.
Sie zeigen eindringlich die Diskriminierung der Frauen in Südkorea. Anhand zahlreicher Situationen, verschiedener Erlebnisse der Protagonistin und der weiterer Frauen, und anhand der Aussagen anderer Figuren wird aufgezeigt, wie Frauen systematisch unterdrückt werden und keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Das fängt vor der Geburt an, da weibliche Föten abgetrieben werden, setzt sich im Kindesalter fort, denn "Töchter opferten sich bereitwillig für ihre männlichen Geschwister." (37) In der Schule werden Jungen bevorzugt behandelt, dürfen z.B. als Erste essen und sind i.d.R. Klassensprecher.
Als die Familie in eine neue Wohnung umzieht, kann Jiyoungs Mutter jedoch durchsetzen, dass die beiden Mädchen ein eigenes Zimmer erhalten, während ihr Bruder weiterhin bei den Eltern schläft - eine kleine Rebellion. Ihre Stärke zeigt einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung.
Auf der anderen Seite gibt es viele Szenen, die empören und wütend machen. So wird Jiyoung sexuell von einem Mitschüler belästigt, doch ihr Vater gibt ihr die Schuld daran. Nachdem sie erfolgreich die Universität abgeschlossen hat, muss sie feststellen, dass ihre männlichen Mitbewerber immer die Nase vorn haben. Aber auch in der Arbeitswelt haben Frauen kaum eine Chance auf eine Karriere. Als in der Marketingfirma eine neue Projektgruppe gebildet wird, erhalten zwei männliche Mitarbeiter den Vorrang vor Jiyoung und ihrer Freundin. Da es ein langfristiges Projekt werden soll, hat man Angst, die weiblichen Mitarbeiter könnten aufgrund von Schwangerschaften ausfallen. Flexiblere Arbeitszeiten stehen nicht zur Debatte.
"Jiyoung fühlte sich wie in der Mitte eines Labyrinths. Fleißig und gewissenhaft arbeitend, hatte sie nach einem Ausgang gesucht, den sie, wie sie nun erkannte, von Anfang an nicht gegeben hatte." (144)
Dieser Roman ist ein politisches Bekenntnis, ein Appell für die Gleichberechtigung der Frauen in Korea. Es verleiht den Frauen eine Stimme und stellt schnörkellos ihre Lebenssituation dar. Jiyoung steht dabei stellvertretend für viele. Darin besteht meines Erachtens jedoch auch ein Schwachpunkt des Romans. Denn die Protagonistin bleibt letztlich ein Exempel, der alles widerfährt, was Frauen in Korea geschehen kann. Die Autorin hat alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten, die einer Frau zustoßen können, in dieser einen Person vereint, wodurch die Figur im letzten Teil nicht mehr authentisch wirkt.
Der Schluss selbst hält noch einen überraschenden Kunstgriff bereit und erklärt die nüchterne Erzählweise. Obwohl sprachlich kein Genuss und trotz der mangelnden Authentizität der Figur am Ende, ein starkes Statement gegen die Unterdrückung der Frauen - nicht nur in Korea.
Ein Roman, der hoffentlich auch weiterhin viele Leserinnen und vor allem Leser finden wird.
Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Leseexemplar.
- der Klassiker, neu übersetzt
Leserunde auf whatchareadin
dtv hat den Klassiker, der bereits im Jahr 1949 zum ersten Mal erschienen ist, mit einem sehr ansprechenden Cover in einer neuen Übersetzung wieder aufgelegt. Neben der neuen Rechtschreibung sind auch die von Orwell erfundenen Begriffe wie "Neusprache" oder Zwiegedanke (alte Übersetzung) modernisiert worden: "NeuSprech" und DoppelDenk (neue Übersetzung).Warum sollte man diesen Roman heute (wieder) lesen?
Das dem Roman vorangestellte Vorwort von Robert Habeck gibt eine Antwort darauf: "Georg Orwell ist der Analytiker des Totalitarismus" (5).
Als ich selbst den Roman zum ersten Mal gelesen habe, Mitte der 90er, ging es mir so wie Habeck, es war "für mich eine Metapher für die totalitären Regime der dunkelsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, des Stalinismus und des Nationalsozialismus." (8) Aber auch wenn der real existierende Sozialismus gescheitert ist, gewinnen autoritäre Regime an Zuspruch, rechter Populismus erfährt neuen Auftrieb und der Überwachung der Gesellschaft stimmen wir freiwillig zu, indem wir unsere Daten und unsere Privatsphäre preisgeben. Gerade im Zuge der Corona-Krise nutzen totalitäre Systeme, und nicht nur diese, die Gefahr durch das Virus radikal aus. Wie weit sind wir noch vom gläsernen Menschen entfernt? Auch die Manipulation durch die Sprache, die Umdeutung der Geschichte, die Frage, was die Wahrheit angesichts von Fake News und manipulierter Bilder ist, stellt sich heute dringender denn je. Der Roman zeigt, "wie nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterschieden werden kann. Und wenn das passiert, dann ist Demokratie am Ende." (12) Habeck spricht auch die Filterblasen und Twitterwolken an, in denen sozial selektierte Gesellschaften entstehen und ein Bewusstsein für abweichende Meinungen verloren geht. Das kann man gerade in der Corona-Krise gut beobachten.
Zum Inhalt
Winston Smith lebt einem totalitären Regime, in dem die Partei IngSoc - English Socialism - die Macht inne hat. Die Partei hat einen totalen Überwachungsstaat aufgebaut, so ist sie in der Lage, die Menschen in ihren Wohnungen per TeleSchirm zu beobachten. Die GedankenPolizei überwacht die Mimik und versucht jeden Gedanken, der illoyal ist und die Liebe zur Partei nicht widerspiegelt, sofort zu ahnden.
Es gibt die Innere Partei, die weniger als 2% der Bevölkerung ausmacht, die Äußere Partei, ca. 13%, zu der auch Winston gehört, und die sogenannten Prolls, die den Rest der Gesellschaft ausmachen und keine Aufstiegschancen haben und so davon beansprucht werden, ihren Alltag zu meistern, dass sie sich nicht erheben.
"Prolls werden nicht in die Partei aufgenommen. Nur die Begabtesten unter ihnen, die vielleicht zu einem Unruheherd werden könnten, werden von der Gedankenpolizei identifiziert und eliminiert." (257)
Die Erde ist unter drei Großmächten aufgeteilt, Ozeania, Euroasien und Ostasien, die permanent im Krieg miteinander liegen und um die verbleibenden Gebiete kämpfen. Der Krieg dient dazu Armut aufrechtzuerhalten, denn "langfristig konnte eine hierarchische Gesellschaft nur auf einem Fundament von Armut und Dummheit bestehen." (234)
An allem herrscht Mangel, Lebensmittel, Konsumgüter und Luxusartikel sind allenfalls für die Innere Partei erreichbar, während das Ministerium der Fülle davon spricht, allen gehe es besser als vor der Revolution. Nur billiger, synthetischer Gin ist reichlich vorhanden. Um das Leben erträglicher zu machen?
Aber es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten, da zum System ebenfalls gehört, die Vergangenheit permanent umzuschreiben und der Gegenwart anzupassen. Werden Lebensmittel rationiert, muss die Ankündigung, diese würden erhöht, neu geschrieben werden. Hat sich ein Parteiglied gegen die Partei gestellt, wird seine Existenz vernichtet, alle Zeitungsartikel, in denen er erwähnt wird, müssen überarbeitet werden.
"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Und wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." (58)
Das ist Winstons Beruf im Ministerium der Wahrheit (!), Zeitungsartikel umzuschreiben, die alten kommen in das sogenannte Erinnerungsloch und, weil es teilweise eine kreative Arbeit ist, empfindet Winston sogar eine gewisse Befriedigung dabei, obwohl er weiß, dass er dazu beigetragen hat, die Vergangenheit zu verfälschen.
Umso revolutionärer ist es, dass er selbst beginnt, Tagebuch zu führen, seine geheimen Gedanken niederzuschreiben - in einem für den TeleSchirm unsichtbaren, winzigen Teil seiner Wohnung. Mit wem wird er diese Gedanken teilen können, für wen schreibt er diese nieder? Er glaubt, dass einer der Inneren Partei, O´Brien, ebenfalls selbstständig denkt. Ein beiläufig dahin gesprochener Satz vor einigen Jahren lässt ihn in diesem Glauben, er sei nicht der letzte Mensch in Europa - ein Titel, den Orwell zunächst für seinen Roman favorisierte.
Sein "Freund" Syme hingegen ist ein Befürworter des Systems und arbeitet am endgültigen Lexikon von NeuSprech mit.
"Verstehen Sie nicht, dass es beim NeuSprech vor allem darum geht, das Denken so zu verschlanken, dass GedankenVerbrechen gar nicht mehr möglich sind, weil es keine Wörter mehr gibt, um sie zu formulieren?" (S.78)Fazit
Auch wenn der Roman einige Längen aufweist, da Orwell in manchen Passagen zu viel erklärt, um sicher zu gehen, dass seine Botschaft verstanden wird, bleibt dieser Roman empfehlenswert und gehört für mich zu den Romanen, die man unbedingt gelesen haben sollte - gerade, weil er an Aktualität gewonnen hat!
Vielen Dank dem dtv-Verlag für das Rezensionsexemplar!