Dienstag, 7. Dezember 2021

Bernhard Schlick: Die Enkelin

- gesucht und gefunden. 

Leserunde auf whatchaReadin

Kaspar, aus dessen personaler Sicht der Roman vorwiegend erzählt wird, ist Bibliothekar und mit Birgit verheiratet.

"Es war ein Abend wie viele andere. An manchen Abenden, wenn Birgit schon früh mit dem Trinken angefangen hatte, war mehr als zwei Taschen und ein Weinglas umgefallen und lag mehr als eine Vase in Scherben. An anderen Abenden, wenn sie erst kurz bevor er nach Hause kam, das erste Glas getrunken hatte, war sie fröhlich, gesprächig, zärtlich, und wenn's nicht Wein, sondern Champagner war, von einer Lebendigkeit, die ihn glücklich machte und wehmütig wie alles Gute, von dem man weiß, dass es nicht stimmt." (7)

Doch an diesem Abend findet er seine Frau tot in der Badewanne vor, betrunken eingeschlafen und ertrunken. Kaspar ist erschüttert, denn trotz ihrer Alkoholprobleme, trotz ihres Geheimnisses, das sie um das Schreiben ihres Roman gemacht hat, trotz ihrer Unstetigkeit liebt er sie bedingungslos.
Das Verständnis, das Kaspar für Birgit aufgebracht hat, und seine Liebe bringt sie selbst wunderbar zum Ausdruck:
"Du liebst mich immer noch, ich weiß. Es ist der große Trost in meinem Leben: was immer ich in meinem Leben nicht bin, was immer ich dir nicht bin - ich bin genug, dass ich bis jetzt von dir geliebt werde." (129)

Im Rückblick wird erzählt, wie die beiden sich im Mai 1964 im Osten Berlin kennengelernt haben und wie Birgit sich entscheidet, zu Kaspar in den Westen zu fliehen, was ihr auch gelingt. Sie haben sich ein gemeinsames Leben aufgebaut und doch gibt es ein Geheimnis, das Kaspar in Birgits Schreibzimmer entdeckt. Ein Dokument "Ein strenger Gott", das er nach langem Ringen liest und das Birgits Lebensgeschichte erzählt, davon wie die beiden sich kennengelernt haben, aber auch davon, dass sie eine Tochter zurückgelassen hat (das verrät auch schon der Klappentext!), die sie nie gewagt hat zu suchen.
Um das wieder gutzumachen, was Birgit nicht gelungen ist, begibt sich Kaspar im 2.Teil des Romans auf die Suche nach jener Tochter und findet sie - gemeinsam mit Birgits Enkelin ist sie Teil einer völkischen Siedlungsbewegung, die fest an die Ideale des Nationalsozialismus glauben, den Holocaust leugnen und die deutsche Demokratie unterwandern möchten, dabei aber unauffällig agieren. Eine Welt, die Kaspar völlig fremd ist, und doch möchte er einen Kontakt mit Sigrun, der Enkelin aufbauen.
In der Leserunde gab es viele Diskussionen darüber, wie Kaspar in dieser Situation agiert. Wie hätte man selbst reagiert? Sofort vehement widersprochen, versucht alle Lügen sofort und gleich argumentativ zu widerlegen? Kaspar wählt einen anderen Weg, einen behutsameren und indem wir gemeinsam mit Kaspar diesen Weg beschreiten, ermöglicht uns Schlink einerseits einen Blick auf diese völkische Welt, andererseits entlarvt er ihre falschen Werte und ihren Lügen, so dass der pädagogische Anspruch des Romans nicht verborgen bleibt. Das hat mich jedoch beim Lesen nicht gestört. Im Gegenteil, interessant ist eben die Frage: Wie gehe ich mit einem jungen Mädchen um, das bisher in einer Blase aus nationalsozialistischen Ideen und Bräuchen gelebt hat? Schlink vermeidet auch eine Schwarz-Weiß-Zeichnung der Figuren, z.B. kann man Svenjas, Birgits Tochter, Motivation sich den Rechten anzuschließen, verstehen, wenn man es auch definitiv nicht gutheißen kann. Lediglich die Darstellung der 14-jährigen Sigrun gerät teilweise etwas zu naiv und kindlich für ein Mädchen dieses Alters, aber sie entwickelt sich und der 3.Teil des Romans ist auch gleichzeitig der stärkste. 
Ein Roman, der zum Diskutieren und Nachdenken einlädt, und den ich uneingeschränkt weiter empfehlen kann.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.


Samstag, 20. November 2021

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt

- aber kein verlorener, dessen Heimkehr erwünscht ist.

Leserunde auf whatchaReadin

Dies ist der 2. Roman Kent Harufs und spielt wie seine anderen auch in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado.

Im Gegensatz zu den anderen drei Romanen: "Lied der Weite", "Abendrot" und "Kostbare Tage" (3./4./5. Roman des Autors) gibt es nur einen Handlungsstrang. Es wird ausschließlich die Geschichte Jack Burdettes, "einem Sohn der Stadt" erzählt, aus der Sicht des Ich-Erzählers Pat, dessen eigene Lebensgeschichte mit der von Jack verknüpft ist.
Dass Pat, der Herausgeben der Wochenzeitung Holt Mercury, den er von seinem Vater übernommen hat, befugt ist, diese Geschichte zu erzählen, verkündet er den Leser*innen gleich zu Beginn: "Ich kannte Jack Burdette mein ganzes Leben lang." (26)

Doch bevor der Ich-Erzähler im Rückblick Jacks Kindheit und Jugend auffächert, wird im ersten Kapitel von der Rückkehr des Sohnes in die Stadt berichtet.
"Am Ende kehrte Jack Burdette doch wieder nach Holt zurück. Keiner von uns hatte mehr damit gerechnet. Er war acht Jahre fort gewesen, und in dieser Zeit hatte niemand in Holt etwas von ihm gehört." (9)
Mit dieser Aussage baut Haruf sofort Spannung auf: Warum kehrt Jack zurück? Warum hat er Holt verlassen? Warum rechnet keiner mit seiner Rückkehr?

Erste Hinweise werden gestreut. Der Sheriff, von dem aufgebrachten Besitzer des Geschäfts für Herrenbekleidung informiert, warnt Jack, der in seinem roten Cadillac unbeweglich an der Straßenseite parkt. „Wir regen uns immer noch ein bisschen auf, wenn jemand uns unrecht tut. Und sich anschließend einfach aus dem Staub macht.“ (22)

Was hat dieser Jack angestellt? Die Frage drängt sich umso mehr auf, als der Sheriff ihm "den Lauf (seiner Pistole) unvermittelt gegen das Ohr (schlägt)" (23)
Er lässt ihn aussteigen, liest ihm nicht einmal seine Rechte vor, und schlägt ihm in der Stille des Novemberabends, "es war immer noch diese ruhige Stunde in der Main Street, dieser kurze friedliche Augenblick, nichts bewegte sich, weit und breit war keine Menschenseele unterwegs“ (25), erneut mit der Pistole auf den Hinterkopf.
Dieser Kontrast zwischen Stille, Frieden und der plötzlichen Brutalität verdeutlicht, dass Jack etwas Unverzeihliches getan haben muss und dass die Ruhe Holts empfindlich gestört wurde und jetzt erneut empfindlich gestört wird. Ein unglaublich starker Einstieg, der zeigt, dass die Heimkehr des verlorenen Sohnes nicht freudig aufgenommen wird - anders als im Gleichnis.

Im Rückblick erfährt man, dass  Jack die erste Klasse wiederholen muss, allerdings wird er danach einfach jedes Jahr versetzt, weil kein Lehrer bzw. keine Lehrerin ihn länger als ein Jahr unterrichten möchte.
Auch seine familiäre Situation ist schwierig. "Es gab reichlich Spannungen in der Familie" (28), der Vater dominant, die Mutter verhärmt. Nach dem tragischen Tod des Vaters verlässt Jack seine Mutter und "quartierte sich im Hotel Letitia ein." (51)
Auf der High School retten ihn sein Footballtalent oder vielmehr seine Größe und Stärke, und vor allem Wanda Jo Evans, seine glühendste Verehrerin, die all seine Hausaufgaben und Schularbeiten für ihn erledigt. Jack schlägt aller Warnungen in den Wind und Pat glaubt, in Jacks Handeln ein Muster erkannt zu haben: "ein Muster, das eine plötzliche Entscheidung und eine überstürzt damit einhergehende Handlung mit sich brachte."(51)
Während er in der Highschool noch ein Footballstar gewesen ist,"ein lokales Phänomen" (53), ist er am College Boulder, das auch Pat besucht, nur einer von vielen.
Während Pat sich auf dem College wohlfühlen, gilt das nicht für Jack, denn er "hätte es nicht zugelassen, dass sich sein Horizont nennenswert erweiterte." (73) Ohne an dieser Stelle mehr zu verraten, scheitert Jack und kehrt zunächst nach Holt zurück, bevor er dann verschwindet, während Pat in Holt bleibt und  beteuert, dass er "diese Geschichte so wahrheitsgetreu wie nur möglich zu erzählen. Aus meinen eigenen Gründen." (86) Also ist er irgendwie darin verwickelt. 

Haruf gelingt es meisterhaft, eine Stimmung in wenigen Sätzen und Beschreibungen heraufzubeschwören.  Sofort ist man als Leser*in Teil der Situation, die er in unserem Kopf mit Worten entstehen lässt. Mit feiner Ironie nimmt er das Verhalten der Holtener aufs Korn, ohne sie zu verurteilen oder bloßzustellen, und bewirkt so, dass man eigenes Verhalten hinterfragt. Ein Roman, der zum Diskutieren und Nachdenken einlädt.

Interessanterweise bezeichnet der Verlag den Roman, als solchen habe ich ihn gelesen, als Parabel.
Parabeln haben neben der Bildebene, also das, was wir lesen (die Geschichte Jack Burdettes), immer auch eine Gedankenebene oder Sachebene, also eine Lehre, die wir auf unser eigenes Leben beziehen sollen.
Die Frage, die sich mir gestellt hat: Welche Lehre will uns Haruf vermitteln? Dass wir gegen narzisstische, brutale Menschen letztlich verlieren müssen? Dass jemand, der seinen Willen unbedingt durchsetzen will und vor keinem Mittel zurückschreckt, den Sieg davonträgt? Das ist wenig aufbauend, auch wenn es allzu oft der Wahrheit entspricht. Vielleicht Parabel insofern, dass das Verhalten der Holtener ein Spiegel für eigenes Verhalten sein kann. Die Bezeichnung "Novelle" finde ich jedoch zutreffender - es wird ein außerordentliches Ereignis erzählt, das spannend, fast wie ein klassisches Drama aufgebaut ist.
Aber letztlich ist es für den Lesegenuss und wahrscheinlich auch für den 2014 verstorbenen Autor unerheblich, wie wir den Text bezeichnen ;)

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Leseexemplar und ich hoffe inständig, dass auch der 1.Roman Harufs noch übersetzt wird.

Samstag, 13. November 2021

Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

"Manchmal geht es nicht anders" (80) 

Leserunde auf whatchaReadin

Im letzten Jahr habe ich Marco Balzanos Roman "Ich bleibe hier" gelesen, der mir sehr gut gefallen hat.

Umso höher die Erwartungen an den neuen Roman, der von der Rumänin Daniela Matei erzählt, die in ihrer ausweglosen Situation beschließt, ihre Familie zu verlassen, um in Italien als Pflegerin zu arbeiten. Zunächst ein befremdlicher Gedanke, Kinder und Ehemann im Stich zu lassen, doch Daniela hat sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht.

Im ersten Teil des Romans "Wo bist du" erzählt der inzwischen 16-jährige Sohn Danielas Manuel aus der Ich-Perspektive.

"Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen" (13), sagt seine Mutter zu ihm, denn Daniela hätte nach der Geburt ihrer ersten Tochter Angelica eigentlich keine Kinder mehr bekommen können. Umso mehr wird Manuel, der acht Jahre nach seiner Schwester auf die Welt kommt, zu ihrem Liebling.

"Angelica ist gut organisiert und alles andere als kleinlich. Sie drückt sich nie vor der Arbeit, im Gegenteil. Sie ist eine, die sich aufopfert. (...) sie zieht den Karren, bis sie zusammenbricht." (13f.)

Folglich ist es Angelica, die sich um Manuel kümmert, als Daniela ihre Familie ohne Abschied verlässt. Der Vater Filip Matei ist Arbeiter in einer Fabrik gewesen, die schon lange geschlossen ist. Auch Daniela hat ihre Arbeit verloren. "Seit einem Jahr schlugen wir uns mit den Schecks der Arbeitslosenversicherung durch." (18)

In einem Brief, den Daniela hinterlässt, erklärt sie ihren Kindern: "Ich muss fort, damit ihr studieren könnt und anständig zu essen bekommt. Denn ich möchte, dass ihr die gleichen Chancen habt wie die andern." (19)

Sie verspricht Geld zu schicken, was sie auch tut, und bittet Angelica, sich um ihren Vater und Bruder zu kümmern. Daniela glaubt nicht, dass Filip sich aus seiner Lethargie wird lösen können, um der Familie zu helfen. Obwohl Danielas Arbeit die finanzielle Situation der Familie verbessert, Angelica studieren und Manuel auf ein Privatgymnasium gehen kann, wäre es Manuel lieber, seine Mutter wäre bei ihm. Er ist wütend auf sie, weil sie aus der Ferne keinen echten Anteil an seinem Leben nehmen kann. Auch Filip verlässt die beiden Kinder, da er eine Anstellung als Lastwagenfahrer gefunden hat: "Minus zwei" (36), ist Manuels Kommentar. Einzig zu seinem Opa Mihai hat er ein inniges Verhältnis und liebt es, mit ihm im Garten zu arbeiten.

Im 2.Teil des Romans "Weit weg" kommt Daniela zu Wort und erzählt von ihren verschiedenen Arbeitsstellen in Italien, als Pflegerin und Kindermädchen, und davon, warum sie ihre Familie zurückgelassen hat.

Zu Filip sagt sie am Telefon: "Ich hab deine leeren Versprechungen satt, deine beschissenen Schwüre: Ich such mir eine Arbeit, ich streng mich an, ich hör auf zu trinken." (78)

"Manchmal geht es nicht anders", hatte sie im Bus gesagt. Dieser Satz nahm mir die Schuld." (80)

Das, was sie in Italien erwartet, ist harte Arbeit, eine Arbeit, für die sie eigentlich nicht ausgebildet ist. Sie muss bei den alten Menschen, die sie pflegt, wohnen, hat kaum Zeit für sich selbst. Oftmals ist sie am Rande ihrer Kräfte. Als sie nach Rumänien zurückkehrt, attestiert ihr ein Arzt die "Italienkrankheit".

"Damit bezeichnen Psychiater eine spezielle Form von Depression, die jene befällt, die jahrelang fern von zu Hause und den Kindern leben, um anderswo Alte, Bedürftige und Kranke zu versorgen." (155)

In diesem Teil wird deutlich, dass sich Balzano intensiv mit der Thematik befasst hat - er war auch in Rumänien, um sich selbst ein Bild von der Situation der Eurowaisen vor Ort zu machen. Seine Intention ist es, den rumänischen Pflegekräften und ihren Kindern eine Stimme zu geben, wie er im Nachwort betont. Es ist ihm wichtig alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, so dass folgerichtig im letzten Teil des Romans Angelica ihre Sicht der Ereignisse dargelegt.

Das Konzept, die Ereignisse aus drei Perspektiven zu erzählen, geht auf, denn
"Außerdem gibt es keine gemeinsamen Erinnerungen, jeder hat seine eigene und macht aus ihr, was er will." (230)
Bolzano hat für den Roman mit zahlreichen Frauen und ihren Kindern gesprochen, dadurch wirken die drei Figuren in sich stimmig und authentisch. Abgesehen von den Kindern, die Daniela in Italien betreut, vermeidet er Klischees und zeichnet ein differenziertes Bild der handelnden Personen.
Ein Roman, der mich nachdenklich gemacht hat und der dazu führt, dass ich die Frauen, die auch bei uns als Pflegerinnen eingesetzt werden, mit anderen Augen sehe. Klare Leseempfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar!

Donnerstag, 4. November 2021

Colm Toíbín: Der Zauberer

 - ein Roman über das Leben Thomas Manns.

Leserunde auf whatchaReadin

"Am nächsten Morgen erzählte Klaus seiner Mutter beim Frühstück, sein Vater habe magische Kräfte und kenne die richtigen Worte, um ein Gespenst zu bannen.
"Papa ist ein Zauberer", sagte er.
"Er ist der Zauberer!", wiederholte Erika.
Anfangs nur ein Witz, oder ein Mittel, die Tischrunde aufzuheitern, blieb der neue Spitzname für ihren Vater haften. Erika forderte jeden Besuchen auf, ihren Vater, wie sie, mit diesem neuen Namen anzureden." (169)

Der Zauberer - Thomas Mann - ist eine der berühmtesten und bekanntesten deutschen Autoren, der für mich den bürgerlichen, kultivierten, distinguierten Schriftsteller wie kein anderer verkörpert. Unzählige Biographien, wissenschaftliche Arbeiten sind über Thomas Mann und sein Werk verfasst worden, und jetzt dieser Roman eines irischen Autors, der neben vielen Fakten auch Fiktion enthalten muss. Kennt man den Autoren Thomas Mann nach der Lektüre oder nur die fiktive Figur, die Toíbín erschaffen hat? Eine Problematik, die man über dem Lesen irgendwann vergisst, denn allzu flüssig und leicht liest sich die Lebensgeschichte dieses herausragenden Schriftstellers, den Toíbín einem breiten Publikum zugänglich machen will.

Die Handlung setzt im Jahr 1891 in Lübeck ein, Thomas ist 16 Jahre alt, gemeinsam wartet er mit seinem älteren Bruder Heinrich und mit den jüngeren Schwestern Lula und Carla auf die Mutter, während sein Brüderchen Viktor schläft. Im Haus des angesehenen Kaufmanns und Senator Mann findet eine Gesellschaft statt, auf der Julia Mann, aus Brasilien stammend, die Hauptfigur ist. Unwillkürlich fühlt man sich in Thomas Manns "Buddenbrooks" versetzt, der in seinem ersten Roman, für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhalten hat, den Zerfall seiner eigenen Familie verarbeitet hat.

"Jahre später fragte sich Thomas, ob der Entschluss seines Vaters, statt der bärtigen Tochter eines der heimischen Schiffsmagnaten oder einer der alteingesessenen Kaufmanns- und Bankiersfamilien Julia da Silva-Bruns zu ehelichen, deren Mutter dem Vernehmen nach Blut südamerikanischer Indianer in ihren Adern hatte, nicht der Beginn des Verfalls der Manns gewesen war (...)" (10)

Und das ist eine der  Schwerpunkte des Romans, der immer wieder aufzeigt, dass Mann reale Ereignisse als Grundlage seiner Romane, Novellen und Erzählungen verwendet und literarisch verarbeitet hat. 

Doch zunächst erwartet der Vater, dass Thomas die Firma in nächste Jahrhundert führt, während der verträumte Heinrich früh eine Laufbahn als Dichter einschlagen will. Allerdings ist Thomas Interesse an der Firma nur geheuchelt, wie Heinrich erkennt.

"Ich habe dich während des Mittagessens dabei beobachtet, wie du den kleinen Geschäftsmann gegeben hast", sagte er zu Thomas. "Alle außer mir sind darauf hereingefallen. Wann wirst du ihnen endlich verraten, dass du nur Theater spielst?" (15)

Interessanterweise nimmt Toíbín dieses Motiv ganz am Ende wieder auf, nachdem Thomas Mann, der seinen Vater zu dessen Lebzeiten enttäuscht hat, inzwischen selbst ein bedeutender Mann ist.

"Sein eigener Vater wäre von ihm eingeschüchtert gewesen. Niemand allerdings wäre eingeschüchtert gewesen, der ihn dabei gesehen hätte, wie er allein im Waschraum der Notarkanzlei, mit seinem alternden Gesicht konfrontiert wurde. Er hätte sich vielmehr gewundert über die halb spöttischen Blicke, die er sich im Spiegel zuwarf, das flüchtige listige, wissende Grinsen, das über sein Gesicht huschte, als freute er sich diebisch darüber, dass er, wie sein Felix Krull, wieder einmal nicht "aufgeflogen" war."(544)

Das ganze Leben als Rolle in einem Schauspiel?

Damit weist Toíbín auf eine Facette der Persönlichkeit Thomas Manns hin, die dieser zeitlebens unterdrückt bzw. nicht ausgelebt hat: seine homosexuellen Neigungen, abgesehen von einigen (fiktiven?) Erfahrungen in seiner Jugend.

Sowohl sein Werk als auch seine Tagebuchaufzeichnungen, die größtenteils erhalten sind, sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache. Doch er hat sich für das Leben eines bürgerlichen Familienvaters entschieden und glaubt man Toíbín und dessen Quellen, führten Katia Pringsheim und Thomas Mann eine glückliche Ehe, die von gegenseitigem Respekt bestimmt gewesen ist. Und sie scheint seine Neigungen toleriert zu haben.

"Eingeschrieben in ihre stillschweigende Übereinkunft war die Klausel, dass, so wie Thomas nichts tun würde, was ihr häusliches Glück in Gefahr bringen könnte, Katia die Natur seiner Neigungen klaglos anerkennen, die Personen, an denen sein Blicke am liebsten haften blieben, nachsichtig und gutgelaunt zur Kenntnis nehmen und, wenn angebracht, ihre Bereitschaft zum Ausdruck bringen würde, Thomas in all seinen verschiedenen Manifestationen zu würdigen und zu schätzen." (134)

Als Familienvater scheint er weniger "erfolgreich" gewesen zu sein. Einzig zu seiner Tochter Elisabeth hatte er ein inniges Verhältnis, auch diese Facette des Menschen Thomas Mann stellt Toíbín gut dar.

Neben der Lebensgeschichte Manns und der Entstehungsgeschichte seiner Werke spiegelt der Roman zwangsläufig auch die politische Geschichte Deutschlands vom Ende des Kaiserreiches bis zum Beginn des geteilten Deutschlands wider. Vor allem mit seinem Bruder Heinrich führte er immer wieder politische Debatten über das Machtstreben Kaiser Wilhelms II und er befürwortet den 1.Weltkrieg. Die Passagen des Romans, die sich mit Manns langem Schweigen zur Nazi-Herrschaft auseinander setzen, seine Rolle im Exil, seine Radioansprachen an die deutsche Nation und seine Stellung in den USA nach dem Krieg gehören meines Erachtens zu den besten Passagen des über 500 Seiten langen Romans.

Ebenso interessant sind die Stellen, in denen uns der fiktive Thomas Mann Einblick in die Entstehung seiner Werke gibt und auch in seine Arbeitsweise, die sehr diszipliniert gewesen ist. Jeden Vormittag hat er geschrieben und durfte nicht gestört werden. Die literarischen Sujets mussten zu ihm kommen, entstammten oft seinem unmittelbaren Umfeld.

"Aus der Gegenwart werde ich nicht klug. Sie ist ein einziges Durcheinander. Und über die Zukunft weiß ich nichts." (310)

Insgesamt ein Roman, der einen Einblick in das Leben dieses großartigen Schriftstellers gewährt.

Indem er aus Thomas Mann personaler Perspektive erzählt wird, haben wir als Leser*innen das Gefühl direkt in seinen Kopf blicken zu können. Dabei werden die positiven Seiten Manns ebenso herausgestellt wie auch seine Schattenseiten.

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank an den Hanser Verlag für dieses auch optisch sehr schöne Leseexemplar.

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Franck Bouysse: Rauer Himmel

 - ein Roman Noir.

Leserunde auf watchaReadin

Das düstere Cover mit den zart von Schnee bedeckten Weinreben passt perfekt zur Stimmung im Roman, der in einer "gottverlassenen Ecke in den Cevennen" (7) spielt. "Einem Ort namens Les Doges, mit zwei Bauernhöfen, ein paar hundert Meter voneinander entfernt, weite Flächen mit Bergen, Wäldern und hier und da ein paar Wiesen mit einigen Monaten Schnee im Jahr und mit Felsgestein, auf dem das Ganze ruht." (7) 
Auf einem dieser Bauernhöfe wohnt der 50-jährige Einzelgänger und Außenseiter Gus, der sich nur widerwillig im Leben eingefunden hat, wie wir bzgl. seiner Geburt erfahren.
"Jedenfalls zögerten selbst die erbarmungsvollsten Seelen nicht, mit dem Finger auf diesen Fisch zu zeigen, der seit seiner Geburt gegen den Strom schwamm." (8)

Er hat es nicht leicht gehabt im Leben, von der Mutter gehasst, vom Vater verprügelt, von den anderen Kindern des Dorfes gehänselt, nur von seiner Großmutter hat er Liebe erfahren. Zuneigung empfindet er zu seinem Hund Mars und mit seinem Nachbarn Abel, der 20 Jahre älter ist, verbindet ihn eine Art Männerfreundschaft, die vor allem in gegenseitiger Hilfe auf dem Hof besteht und im gemeinsamen Trinken.
"Abel und Gus´ Vater hätten eigentlich Leidensgenossen sein können, aber sie hatten sich nie gut verstanden. Sicher wegen eines ergebenen Geheimnisses, das alle anderen vergessen hatten, das sie aber zweifellos aus Famlientreue gehegt und gepflegt hatten. Alles Sturköpfe hier!" (26)

Doch die bisherige friedliche Koexistenz der beiden Männer wird gestört:
"Bisher hatte er (Gus) seine Tage wie Perlen auf einer Halskette aufgereiht, eine sah aus wie die andere; doch an diesem Tag im Januar 2006, genauer gesagt, am zweiundzwanzigsten, schickte er sich an, eine seltsame Perle aufzureihen, eine, die wirklich nicht wie alle anderen aussah.“ (11)

Zwei Ereignisse machen diesen Tag zu etwas Besonderem. Abbé Pierre, ein wohltätiger Abt, der in der Résistance gekämpft hat - eine historische Figur - stirbt.
"Gus hätte nicht sagen können, warum ihn die Nachricht derart aufwühlte. (...) Er wusste nicht warum, aber es war dennoch so, als ob der Abbé zu seiner Familie gehörte, und die war nicht sehr groß, seine Familie. Eigentlich hatte er gar keine mehr, wenn man einmal von Abel und Mars absah. Aber wer würde denn allen Ernstes behaupten, dass ein Nachbar und ein Hund eine echte Familie darstellen können?" (14)

Der Tod des Abbé löst Erinnerungen in Gus aus und an seinen Reflexionen erkennen wir als Leser*innen, dass er zwar ein Eigenbrötler ist, aber weder dumm noch einfältig. Jemand, mit dem man mitfühlt, was auch daran liegt, dass der Roman ausschließlich aus Gus Perspektive erzählt wird.
"Gus dachte, dass es wirklich ein seltsamer Tag war, mit all diesen Erinnerungen, die wie Krähenschwärme aus dem Neben auftauchten. Erinnerungen, bei denen man nie weiß, wohin sie gehen oder ob es überhaupt gut ist, sie zu haben, die aber zurückkommen und sich ohne Vorwarnung aufdrängen." (19)

Das 2.Ereignis geschieht, während Gus Drosseln jagt, Abel jedoch die gleiche Idee hat und offensichtlich von seinem Hof aus als Erster schießt.
"Er (Gus) zielte auf einen anderen Vogel. Gerade wollte er den Abzug betätigen, hatte aber auch dieses Mal keine Zeit mehr abzudrücken. Schrille Schreie begannen die Leere zu zerreißen, Schreie, die offensichtlich von der Stelle kamen, an der die Schüsse abgegeben worden waren, und die nichts mit dem Gesang einer Drossel zu tun hatten." (22)

Als Gus auf dem Hof Abels nachsieht, entdeckt einer einen frischen Blutfleck im Schnee und flieht völlig panisch nach Hause, doch er kann das Erlebte nicht vergessen.
"Die mit den Detonationen vermischten Schreie schwollen unter seiner Schädeldecke an, wie Kolloide aus Lehm, die sich an andere Partikel klebten und eine unaufhaltsame aufquellende Paste bildeten." (24)

Sein Verdacht richtet sich auf Abel, den er am nächsten Tag aufsucht. Erst am Ende des Romans kommt die ganze Wahrheit ans Licht, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll ;).

Die zitierten Textstellen offenbaren die außergewöhnliche Sprache, die mit ihren ungewöhnlichen Metaphern eine düstere Atmosphäre schafft und immer wieder zum Verweilen einlädt. Insgesamt ein sehr spannender Roman, den ich sehr gerne gelesen habe, auch wenn es kein Krimi im üblichen Sinne ist. Gus ist weder ein Ermittler noch deckt ein anderer die "Schreie" und den Blutfleck auf. Die Auflösung des Ganzen ist mir persönlich etwas unwahrscheinlich erschienen - da laufen wirklich sehr viele Fäden zusammen, andererseits muss ich zugeben, hat der Autor vorher viele Brotkrumen gelegt, die uns als Leser*innen darauf hätten stoßen müssen. Und letztlich ist die "Auflösung" nicht so wichtig, denn die Atmosphäre und die Sprache überzeugen ebenso wie die Spannung bis zum Ende hin.
Besonders die Figur Gus, der als Kind Grausames erfahren und gesehen hat, wirkt authentisch und glaubwürdig, so dass ich eine klare Lese-Empfehlung aussprechen kann.

Vielen Dank dem Polar Verlag für das Lese-Exemplar.

Donnerstag, 14. Oktober 2021

Jo Lendle: Eine Art Familie

 "Drei eigenartige Menschen, von Zufällen zusammengewürfelt" (Buchrücken)

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte Ludwig Lendles, der im ersten Weltkrieg als Soldat gedient hat und dort seine große Liebe Gerhard kennen gelernt hat. Zeit seines Lebens ist es ihm nicht möglich seine Homosexualität offen auszuleben, statt dessen lebt er in einer Art Familie.

Seine Familie besteht aus Alma Grau, deren Vater als Gardist bei einem Attentat im Jahr 1912 ums Leben kommt. Tragischerweise stirbt auch ihre Mutter auf dem Weg zu ihrem toten Mann. Da ist Alma 11 Jahre alt und nachdem sie in einigen Pflegefamilien gelebt hat, wird sie zu ihrem Paten geschickt: Ludwig Lendle, der jedoch kaum älter als sie und auch nicht mit ihr verwandt ist. Er liebt klassische Musik und ist noch im Studium. In der Wohnung, die er vom Ehepaar Mensch gemietet hat, lebt auch die Haushälterin Fräulein Paula Gerner, gemeinsam bilden sie ein Zweckgemeinschaft, die mit wenigen Unterbrechungen, bis zum Lebensende Ludwigs bestehen bleibt.

Der Roman erzählt die verschiedenen Lebensstationen Ludwigs, der der Großonkel des Autors ist, der Ludwigs Tagebuchaufzeichnungen gefunden hat und auf deren Basis diese Biographie entstanden ist. Das Tagebuch, in dem auch Alma immer heimlich gelesen hat, scheint recht sachlich und trocken formuliert zu sein, so dass auch der Roman selbst relativ nüchtern erscheint und  nur wenig Innensicht bietet - am ehesten noch erfahren wir Almas Gedanken, die sich in ihren Paten verliebt - hoffnungslos.

Wilhelm, Ludwigs Bruder, wird überzeugter Nationalsozialist, während er selbst sich politisch neutral verhält, allerdings mit Giftgasen und ihren Gegenmitteln experimentiert. Seine Notizen bleiben auch in dieser Lebensphase nüchtern, selbst beim Anblick der jüdischen Ghettos - ein Umstand, der meines Erachtens stärker hätte problematisiert werden müssen.

Nach dem Krieg bleibt er zunächst im Osten, in Leipzig, gelangt jedoch noch lange vor dem Mauerbau in den Westen. Eine Episode, die recht interessant erzählt wird. Immer wieder rückt auch Alma in den Mittelpunkt, die sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und von Ludwig finanziell unterstützt wird. Am Ende des Romans steht der Vater des Autors im Fokus.

Der Roman schildert das Leben Ludwig Lendles, bietet einen Einblick in die deutsche Geschichte nach dem 1.Weltkrieg bis zum Ende der 60er Jahre, Alltagsgeschichte sozusagen. Auch Almas Entwicklung wird erzählt, obwohl ich den Eindruck habe, dass sie sich nur wenig verändert. Daneben enthält der Roman teilweise interessante Gedanken und Denkanstöße, trotzdem hat mich die Lektüre eher gelangweilt. Man springt von Lebensstation zu Lebensstation, ohne dem Menschen Ludwig Lendle wirklich nahe zu kommen. Das mag an der Außenperspektive liegen oder auch daran, dass diese Lebensgeschichte mich nicht ausreichend interessiert hat oder auch an der episodenhaften Erzählweise. Nur die Sprache hat mir gefallen.

Insgesamt kein Roman, den ich weiterempfehlen würde.


Montag, 11. Oktober 2021

Eva Menasse: Dunkelblum

- ein Dorf, das

"Gott (…) zusammen mit dem Teufel gebaut hat zur Mahnung an alle" (9)

Leserunde auf whatchaReadin

Eine dunkle Welt offenbart sich den Leser*innen zu Beginn des Romans. "Dunkelblum", der Name ist Programm, denn in dem Dorf im Burgenland, das ganz nahe an der ungarischen Grenze liegt, verbirgt sich ein Geheimnis aus der NS-Zeit.

"Das, was nicht allseits bekannt ist, regiert wie ein Fluch." (9)

Der Roman wartet mit einer Fülle von Figuren auf, die man erstmal überblicken muss:
Die Grafen und die alte Gräfin, die längst verschwunden sind, nachdem ihr Schloss zerstört und abgebrannt ist.

"Seit die Grafen ihre Gruft vier- und damit ihren Exodus besiegelt hatten, war die Zeit im Grunde stehengeblieben." (12)

Vor allem bei den Alten, die den Krieg noch mit erlebt haben, allen voran der Alt-Nazi Dr. Alois Ferbenz, der mit den Heuraffl-Brüdern, mit Bernecker, dem geflickten Schurl und dem jungen Graun jeden Tag im heruntergekommenen Hotel Tüffer trinkt, das die Reschen Resi von der jüdischen Familie übernommen hat, als diese den Ort verlassen musste.

"Die Geschichten des Ortes sedimentierten in der alten Frau Reschen wie in einer unzugänglichen Mine. Was sie aufnahm, blieb drin, es wurde dort handlich und glänzend und von ihr gelegentlich in Ruhe betrachtet." (164)

Da gibt es Antol Grün, den Greißler (=kleiner Lebensmittelhändler), der von Ängsten geplagt wird und der den Fremden, der seit kurzem im Hotel wohnt, überall Fragen stellt und Holzkästl mit sich führt, noch von früher kennt. Der Fremde will, dass die Toten bestattet werden können und die ewige Ruhe haben.
Welche Toten? Wer ist der Fremde? Woher kennt Antol ihn?

Während des Lesens werden zahlreiche Fragen aufgeworfen, unablässig stellt man Hypothesen auf, um sie zu verwerfen oder sie bestätigt zu sehen. Es ist ein sehr aktiver Leseprozess, der fordert, gleichzeitig aber auch einen Sog erzeugt, weil man hinter die Geheimnisse dieses Ortes und die der Menschen blicken möchte.
Mit dem Fremden trifft gleichzeitig Lowetz wieder in Dunkelblum ein, dessen Eltern gestorben sind und der entscheiden muss, was mit seinem Elternhaus geschieht. Seine Mutter ist von drüben, eine Ungarin, und das Haus liegt im alten Teil von Dunkelblum, das
"war eine Welt für sich, unübersichtlich, labyrinthisch, im Sommer lauschig und kühl. Man konnte ihn als unheimlich empfinden, wie einen traumhaften Irrgarten, imstande, einen zu verschlingen, aber eben so sehr als Zuflucht, wo niemand einen finden konnte, der nicht von hier war." (32)

Lowetz Haus steht neben dem von Fritz, der im Endkampf um Dunkelblum verletzt wurde, und dessen Mutter Agnes 1956 wahnsinnig geworden ist, vom „Ungeheuer“, das sich wieder regte. Und wieder erwacht der mörderische Lindwurm aus seinem Dornröschenschlaf, denn an der Grenze warten Menschen aus der DDR, die in den Westen wollen, im Sommer 1989.

Zudem arbeiten plötzlich junge Leute auf dem jüdischen Friedhof von Dunkelblum, dessen Existenz man gerne vergessen würden. Ein Störfaktor ist auch Flocke, die jüngste Tochter vom Malnitz, die auf einer Gemeinderatssitzung dem designierten, überforderten Bürgermeister Koreny vorschlägt ein Grenzmuseum zu eröffnen. Eine Rolle spielt der Reiseunternehmer Rehberg, der von Ferbenz Leuten in der Vergangenheit tyrannisiert wurde und an einer Ortschronik schreibt. Geholfen hat ihm dabei Lowetz Mutter, die plötzlich verstorben ist. Ein Zufall? Und wo sind die Unterlagen, die sie gesichtet hat?

Man hat das Gefühl alles hängt mit allem zusammen und wie ein Spinnennetz ziehen sich die Abhängigkeiten durch Dunkelblum. Auch die, die dieses Geflecht teilweise durchschauen oder etwas wissen wie die alte Graun bleiben stumm.

"Sie stimmte in das tosende Dunkelblumer Schweigen mit ein." (255) 
"Sie hatte sich damals nicht getraut. Sie wollte nicht die Einzige sein. Sie kannte die Machtverhältnisse, alle kannten sie." (249)

Eine mächtige Figur der Vergangenheit ist Horka, einst die rechte Hand des Dr. Ferbenz.
"Der Horka war der Schwarze Mann von Dunkelblum" (74), er steht stellvertretend dafür, dass die Verbrechen nach dem Kriegsende nicht abrupt geendet haben.

"Die bösen Nazis brachten weiterhin ungestört die guten Nazis um und alle möglichen anderen auch. Allein im ersten Jahr nach Kriegsende waren es mindestens drei Morde, der Radfahrer in den Weingärten, eine Schießerei an der Grenze, bei der offenbar ein missliebiger Zeuge umgebracht worden war." (250)

Die metaphorische Sprache, die Anspielungen, die geheimnisvollen Andeutungen, die düstere Atmosphäre verführen von Beginn an weiterzulesen und fast glaubt man, man habe einen Krimi vor sich. Doch Menasse geht es weniger darum, das Geheimnis dieses Ortes öffentlich aufzudecken, ein Ort, der tatsächlich an der ungarischen Grenze existiert und in der sich ein schreckliches Verbrechen zugetragen hat.
Ihr geht es um die Psychologie der Menschen, die bereit sind, dieses Geheimnis zu bewahren, die Machtstrukturen akzeptieren, es dulden und gutheißen, dass die Nazi-Schergen auch nach dem Krieg weiterhin ihr Unwesen treiben können und größtenteils unbehelligt bleiben.

"Dunkelblum" muss man zweimal lesen, um alle Bezüge und Hinweise zu entschlüsseln. Beeindruckend, wie Menasse alle Fäden in der Hand hält und mutig, letztlich nicht alles eindeutig aufzuklären und einige Fragen in der Schwebe zu lassen. So ist man als Leser*in selbst gefordert, die Leerstellen zu füllen.

Ein Roman, der einen so schnell nicht loslässt und den ich uneingeschränkt weiter empfehlen kann.


Sonntag, 12. September 2021

Douglas Stuart: Shuggie Bain

 -  Booker Prize 2020

Leserunde auf whatchaReadin

Im Mittelpunkt dieses sehr bewegenden Romans stehen Shuggie Bain und seine Mutter Agnes, die Alkoholikerin ist.

Die Handlung beginnt im Jahr 1992, Shuggie ist 16 Jahre alt, arbeitet seit über einem Jahr in einem Supermarkt in Glasgow, träumt jedoch davon auf die Friseurschule zu gehen. Er lebt allein in einem möblierten Zimmer, umgeben von "Porzellanballerinas" (15), die immer wieder im Roman auftauchen und ein Leitmotiv bilden. Einerseits erinnern sie ihn an seine Mutter, andererseits symbolisieren sie, dass Shuggie anders ist: Er ist homosexuell und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass er das Tanzen liebt und alles, was "normale Jungs" ausmacht, ablehnt.

Die Handlung springt ins Jahr 1981, als Shuggie 5 Jahre alt ist und mit seinen beiden älteren Geschwistern Catherine, Alexander, Leek genannt, seiner Mutter Agnes und seinem Vater Shug bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt. Das Geschehen wird aus unterschiedlichen personalen Erzählperspektiven geschildert, hauptsächlich aus der Agnes und Shuggies, aber auch die Sicht der Geschwister und Shugs Gedankenwelt werden vor den Leser*innen ausgebreitet. Die Situation erscheint für fast alle Beteiligten trostlos.

"Sie (Agnes) spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien." (27)

Agnes ist eine Schönheit mit künstlichen Zähnen, die immer noch für Aufsehen sorgt. Ihren ersten, katholischen Mann hat sie für Shug verlassen, da er ihr nicht genügt hat, zu langweilig, zu fromm, zu brav.

"Big Shug Bain war im Vergleich mit dem Katholiken betörend gewesen. Er war eitel, wie es nur Protestanten sein konnten, stellte seinen windigen Wohlstand zur Schau und leuchtet rosig vor Prasserei und Verschwendung." (40)

Shuggie ist der einzig gemeinsame Sohn der beiden und Agnes erkennt, dass er anders als sein großspuriger Vater ist. Aus diesem Grund kauft sie ihm eine Puppe - sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit. Sie achtet darauf, dass er sich gut ausdrückt, "dass er die Silben nicht verschliff." (66) Genauso wie sie selbst Wert auf ihre äußere Erscheinung und eine gute Aussprache legt, sie wahrt den Schein, um ihre Sucht zu verbergen, genauso wie ihre Eltern verbergen, dass sie nie aufgehört haben zu trinken.

"Agnes wusste genau, dass Wullie und Lizzie sich heimlich aus dem Zimmer stahlen, wenn sie dachten, keiner sah hin. Sonntags standen sie vom Esstisch auf oder gingen einmal zu oft aufs Klo. Dann setzten sie sich auf die Kante ihres großen Ehebetts, Schlafzimmertür zu, und holten die Plastiktüten unter dem Bett hervor. Schenkten sich was in eine alte Tasse und tranken schnell und leise im Dunkeln wie Teenager." (35)

Stuart zeichnet ein schonungsloses Bild derer, die unter der rigiden Politik Magret Thatcher keine anständige Arbeit finden, keine Chance mehr erhalten oder auch ergreifen können und die sich aus Verzweiflung bzw. Resignation dem Alkohol hingeben. Vor allem das Leid der Kinder, die in diesem brutalen, sozialen Milieu aufwachsen müssen, wird im Roman plastisch geschildert.

"Was immer sie zum Lachen brachte, tat er noch ein Dutzend Mal, bis ihr Lächeln dünn und falsch wurde und er nach dem nächsten Kunststück suchte, das sie glücklich machen würde. (67)

Catherine scheint einen anderen Weg einzuschlagen, da sie einen Job und einen Ehemann in Aussicht hat, ein Neffe Shugs, Donald Junior. Sie hat sich geschworen als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ein Versuch ihre Macht zu demonstrieren?
Leek ist ein stiller Junge mit einem Talent zum Zeichnen, der seine Ruhe haben möchte, er hat die Kunst perfektioniert, "durch Menschen hindurchzusehen, sich aus Gesprächen auszuklinken, durch Hinterköpfe und offene Fenster seinen Tagträumen hinterherzuschreien." (80)

Die Situation verschlimmert sich für alle dramatisch, als sie im Jahr 1982 nach Pithead ziehen.
Die ehemalige Bergmanns-Siedlung wirkt wir ein apokalyptischer Alptraum.

"Dann lag die Siedlung vor ihnen. Ein Stück voraus endete die schmale staubige Straße am Fuß eines niedrigen braunen Hügels. Jede der drei oder vier kleinen Seitenstraßen ging im rechten Winkel von der Hauptstraße ab. Häuser mit niedrigen Dächern, gedrungen und kastenförmig, zu ordentlichen Reihen gedrängt. Jedes hatte in gleich großes Stück schütteren Garten, und jeder Garten wurde vom gleichen Raster weißer Wäscheleinen und grauer Pfosten zerschnitten. Die Siedlung war von torfigem Marschland umgeben, im Osten war das Land umgekrempelt worden, geschwärzt und verschlackt auf der Suche nach Kohle." (114)

Agnes Sucht dominiert die Familie, während es Catherine gelingt, sich abzusetzen, kümmern sich Leek und Shuggie um ihre Mutter. Die Verantwortung, die sie tragen müssen, ist beim Lesen kaum zu ertragen. Mit aufopfernder Liebe und voller Verzweiflung bemüht sich Shuggie, Agnes vom Trinken abzuhalten - ein unmögliches Unterfangen. Unwillkürlich fragt man sich, ob dieser Alptraum irgendwann ein Ende finden wird - in dem Wissen, dass dem kaum so sein kann, da Shuggie im Jahre 1992 alleine wohnt.
Im Roman wird ein schonungsloses Bild einer Frau gezeigt, der es nicht gelingt, sich von ihrer Sucht zu befreien und die von den Männern, die sie liebt, betrogen wird.

"Sie hatte ihn gelobt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte." (131)

Andererseits gelingt es ihr in wenigen lichten Momenten, ihrem Jüngsten Selbstvertrauen mit auf den Weg zu geben und ihn in seinem Anderssein zu bestärken, obwohl er von den anderen Kindern deswegen ausgelacht und ausgegrenzt wird.
"Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt. (...)
"Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab." (312)

Der Roman trägt autobiographische Bezüge, wie in der Danksagung deutlich wird -
"Vor allem anderen verdanke ich die Entstehung dieses Buches den Erinnerungen an meine Mutter und ihren Kampf gegen die Sucht, und meinem Bruder, der mir alles gegeben hat, was er mir geben konnte." (494) -

und was man auch in mehreren Interviews lesen kann. Dadurch, dass er teilweise selbst erlebt hat, wovon er schreibt, wirkt der Roman immer authentisch. Ich hatte beim Lesen nie das Gefühl, er übertreibt oder das sei unrealistisch - alles ist stimmig. Auch die Figuren reden in einem authentischen Slang, der im Kontrast zur der metaphorischen Sprache steht, die mir persönlich gut gefallen hat. Für den Roman spricht auch, dass man ihn, trotz des extrem belastenden Inhalts, kaum aus der Hand legen kann und den ich uneingeschränkt empfehlen kann.


Vielen Dank dem Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar.

Donnerstag, 19. August 2021

Leo Tolstoi: Kreutzersonate

 - eine Novelle.

Klassiker der Weltliteratur

Leserunde auf whatchaReadin

Die Novelle spielt auf einer Zugfahrt, der Ich-Erzähler ist bereits den 2.Tag unterwegs und teilt das Abteil mit einer „hässlichen, nicht mehr jungen, zigarettenrauchenden Dame“ (7) und ihrem Bekannten, einem Anwalt, der tadellos angezogen ist sowie einem kleinen, fahrig wirkenden Herr, der zunächst jedes Gespräch meidet.
Es kommt zu einem Streitgespräch zwischen einem älteren Kaufmann und der Dame, nachdem diese mit dem Anwalt über Ehescheidungen gesprochen hat und der zu dem Alten gewandt fragt: „Früher hat es sowas nicht gegeben, nicht wahr?“ (11)

Die modernen Ansichten der Dame, man solle aus Liebe heiraten, stehen denen des Alten, das Weib habe den Mann zu fürchten und ihm zu gehorchen, gegenüber. 
Dieses Gespräch ist jedoch nur der Anlass, dass der kleine, fahrig wirkende Herr sich ins Gespräch einschaltet und die Position vertritt, es gebe keine wahre Liebe, eine Gegenseitigkeit der Gefühle sei unmöglich, „genausowenig, wie zwei gekennzeichnete Erbsen in einer ganzen Fuhre Erbsen nebeneinander zu liegen kommen könnten.“ (21)
Zudem sei man irgendwann übersättigt. Die Ehe werde seiner Meinung nach geschlossen, damit man den Beischlaf vollziehen könne, nicht aus gemeinsamen Idealen heraus. Die Folge sei Betrug, da die Anziehung nachlasse. Er stellt sich als der Posdnyschew vor, der seine Frau umgebracht hat. Die Einleitung ist vollzogen und im Folgenden schildert er dem Ich-Erzähler, wie es zu jener schrecklichen Tat gekommen ist, wobei er immer wieder gesellschaftliche Missstände anspricht und über die Rolle der Sexualität spricht.
Obwohl alle wüssten, dass die Männer vor der Ehe ihrem Vergnügen nachgehen, müssten die Mädchen jungfräulich sein. Tolstoi prangert sehr offen diese Diskrepanz an und sein Protagonist verurteilt dies deutlich, da er glaubt, ein „Schürzenjäger“ könne nie mehr ein reines Verhältnis zu einer Frau haben, während die jungen Mädchen die Betrogenen sind. Er glaubt die Lösung in der Enthaltsamkeit gefunden zu haben. Ziel sei es, dass sich alle Menschen in Liebe vereinten, "was ist es dann, was dem Erreichen dieses Ziels im Weg steht? Es sind die Leidenschaften. Und unter den Leidenschaften ist die stärkste, bösartigste und hartnäckigste die sexuelle, die der körperlichen Liebe (…)" (57)
Ideal ist demnach die Jungfräulichkeit, eine sehr radikale Ansicht, die im Nachwort erläutert wird.

Tolstoi erlitt Ende der 1870er, Anfang der 1880er Jahre eine schwere Lebenskrise, obwohl ein weltberühmter Autor, Familienvater und glücklicher Ehemann glaubte er, sein Leben sei sinnlos. Die Autorin des Nachwortes, Olga Martynova, sieht die Ursache in Tolstois Widersprüchlichkeit. Einerseits wurde er von seinen Leidenschaften Eifersucht, Jähzorn und Wolllust getrieben, wie sein Protagonist, andererseits wollte er eben jene überwinden. Daher entwickelte er nach seiner Lebenskrise eine "Weltanschauung, die nicht nur jede Gewalt (von der Wehrpflicht bis zum Fleischverzehr) ablehnte, nicht nur das Eigentum als eine abscheuliche Form des Lebens auf Kosten anderer verurteilte, sondern auch die Ehe, die Kunst, die Kirche und vieles andere, was früher Inhalt seines Lebens gewesen war, ganz verleugnete oder harter Kritik unterzog." (184) So gelangte er u.a. zu der radikalen Ansicht, dass die absolute Keuschheit ein erstrebenswertes Ideal ist. Gleichzeitig könne man auf diese Art und Weise Frauen zu ihrer Gleichberechtigung verhelfen, da sie nicht mehr gezwungen seien, die Rolle der Verführerin zu spielen, sich nicht mehr in der Ehe prostituieren zu müssen.
Eine gleichberechtigte, respektvolle Partnerschaft, in der die Sexualität eine erfüllende Rolle spielt, scheint Tolstoi nicht für möglich gehalten zu haben. 

Eine Novelle, die zur Diskussion dieser radikalen Thesen einlädt, gleichzeitig aber auch das Psychodrama einer Ehe erzählt. Schließlich hat Posdnyschew seine Frau aus Eifersucht getötet. Wie es dazu kommen konnte, erzählt er seinem Zuhörer mit Leidenschaft und zunehmender Unruhe. Wie eine aus unserer Leserunde treffend beschrieben hat, könne man die Novelle auch als Psychogramm einer Ehe lesen statt als moralischen Leitfaden. So oder so ist sie lesenswert ;).

Vielen Dank dem Pinguin-Verlag für das Leseexemplar.


Donnerstag, 12. August 2021

Daniele Krien: "Der Brand"

 - ein Paar zieht in der Lebensmitte Bilanz.

Leserunde auf whatchaReadin

Rahel, aus deren personaler Erzählperspektive das Geschehen geschildert wird, hat in den Sommerferien mit ihrem Ehemann Peter, mit dem sie seit fast 30 Jahren verheiratet ist, ein Hütte in den Bergen gemietet. Alles ist vorbereitet:

"Den Papierkram in der Praxis (sie ist Psychotherapeutin) hat sie erledigt, (...). In ihrer Stammbuchhandlung hat sie ein Buch auf Empfehlung gekauft und eines von Elizabeth Strout, das schon lange auf ihrer Wunschliste stand - eine hochgelobte Mutter-Tochter-Geschichte." (7)

Mit dem Roman von Strout ist "Die Unvollkommenheit der Liebe" gemeint, ein Titel, der auch zum derzeitigen Verhältnis zwischen Rahel und Peter passt. Der Aufenthalt in den Bergen sollte ihnen einen Neustart ermöglichen, doch die Hütte brennt ab. Zufällig meldet sich kurz darauf Ruth, eine Freundin von Rahels verstorbener Mutter Edith. Zu Ruth und deren Mann Victor hat Rahel zeitlebens ein sehr gutes Verhältnis gehabt, deren Haus in der Uckermark ist für sie immer ein Zufluchtsort gewesen. 

"Bei ihnen in Dorotheenflede kam ihr Leben zur Ruhe. Ediths rastloses Dasein, das Rahel und ihrer Schwester Tamara eine Kindheit mit wechselnden Stiefvätern, etlichen Umzügen kreuz und quer durch Dresden und verschiedenen Schulen beschert hatte, war wie ein Sturm auf hoher See gewesen, und obwohl auch Dorotheenfelde kein dauerhafter Hafen wurde, so hatte es hier doch immerhin heilsame Flauten gegeben." (15)

Da Victor einen Schlaganfall gehabt hat und kurzfristig einen Rehaplatz erhalten hat, bittet Ruth Rahel und Peter auf ihr Haus aufzupassen und die Tiere zu versorgen. Rahel sagt zu, ohne Peter zu fragen. Ein Verhaltensmuster, das eines der Probleme aufzeigt, die zwischen ihnen herrschen - Rahels Dominanz.

Sie ist die lebenslustigere, aktivere der beiden und kann es kaum ertragen, dass Peter nicht mehr mit ihr schläft. So bezieht jeder ein eigenes Zimmer in Dorotheenfeld und Peter bietet an, sich um die Tiere - ein Pferd, mehrere Katzen sowie einen flugunfähigen Storch, zu kümmern. Damit er nicht mit Rahel reden muss? Gleichzeitig spiegeln die Tiere das Verhalten der Figuren wider, die in der ländlichen Einsamkeit miteinander auskommen müssen.

Rahel entdeckt in Victors Atelier, der im Verband Bildender Künstler der DDR gewesen ist und in den Nullerjahren ein Comeback erlebt hat, Zeichnungen von sich als Kind sowie von ihrer Mutter. Der Gedanke, Victor könne ihr Vater sein, drängt sich auf. Ihre unstete Mutter Edith hat nie verraten, wer Rahels Vater gewesen ist.

Schließlich bittet Rahel Peter um ein Gespräch und es stellt sich heraus, dass der Bruch aufgrund ihrer Illoyalität entstanden ist. Peter hatte in seinem Literaturseminar eine Konfrontation mit einem nicht-binären Menschen (Olivia P.) und war der Situation nicht gewachsen, ebensowenig wie dem anschließenden medialen Shitstorm. 

"Die ganze Sache mit Olivia P., das Spießrutenlaufen an der Uni, der Hass, die Vulgarität, das alles habe ihn zutiefst erschüttert, und als er angeschlagen nach Hause gekommen sei, sei er von ihr verhöhnt worden, und etwas in ihm sei zerbrochen. (...) Und das Begehren ... hat einfach aufgehört." (57)

Wird es wieder zurückkehren?

Zu allem Überfluss kündigt sich Selma, ihre Tochter mit ihren zwei Kindern an.

"Wenn Selma nur nicht so wäre, wie sie ist. Egal, wie viel Aufmerksamkeit und Liebe sie ihrer Tochter schenkt- Selma braucht mehr." (61)

Der Besuch gestaltet sich schwierig, nicht nur wegen unterschiedlicher Erziehungsfragen - dürfen Kinder unter dem Tisch essen? - sondern auch deshalb, weil es in Selmas Ehe ebenfalls kriselt. Andererseits führen die gemeinsamen Probleme dazu, dass Rahel und Peter sich annähern. Wird es Peter gelingen erneut Nähe zuzulassen, kann Rahel sich zurücknehmen und seine Bedürfnisse akzeptieren? Wird es ihr gelingen die Beziehung zu ihrer Tochter zu verbessern? Und kann Rahel die Frage nach ihrer Herkunft lösen?

Krien zeichnet ein realistisches Bild der verschiedenen Beziehungen - nicht ohne Humor. Sie spielt mit den Geschlechterstereotypen und stellt sie dadurch in Frage.

"Männern wird immer vorgeworfen, wir wären triebgesteuert, aber so langsam habe ich das Gefühl, dass ihr Frauen uns auch in dieser Hinsicht überholt." (105)

Peter repräsentiert den gelehrten Universitätsprofessor, der die heutige Jugend nicht mehr versteht, sich aus der Gesellschaft zurückzieht, auf Teilhabe verzichtet, dadurch aber die Möglichkeit versäumt, mit der Zeit zu gehen, sich anzupassen und trotzdem seine Meinung darzulegen.

"(...) du hast ein Idealbild vom umfassend gebildeten Studenten einer längst vergangenen Epoche, als Studieren die Ausnahme und nicht die Regel war." (139)

Jammern allein kann keine Lösung sein. Trotzdem sind die Figuren nicht unsympathisch, man kann ihre Gefühle und Befindlichkeiten nachvollziehen, wenn auch nicht alles gutheißen.

Krien erzählt von einem Ehepaar in der Mitte ihres Lebens, die eine Neuorientierung suchen und sich dabei nicht verlieren wollen. Ein lesenswerter Roman, nicht nur für Paare in der Midlifecrisis.

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar.

Dienstag, 20. Juli 2021

Stefan Zweig: Schachnovelle

 - ein Psychodrama.

Leserunde auf whatchaReadin

Die Novelle spielt ausschließlich auf einem "großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte" (5). Der Ich-Erzähler, ein Österreicher, erfährt von einem Freund, dass der Weltschachmeister Mirko Czentovic an Bord ist, dessen ungewöhnlicher Werdegang im Folgenden geschildert wird. Der 12-jähriger Slawe wurde als Waise von einem Pater aufgenommen. Er lernt weder korrekt zu schreiben noch zeigt er sich in Mathematik fähig, aber es stellt sich per Zufall heraus, dass er eine Begabung fürs Schachspielen hat, obwohl er nicht in der Lage ist, Partien blind zu spielen. Das verrät "einen Mangel an imaginativer Kraft" (12), trotzdem steigt er zum Weltmeister auf. Der Freund des Ich-Erzählers stellt fest, dass Czentovic nur an Schach und Geld interessiert und vor allem von sich überzeugt ist.
Die Neugier des Ich-Erzählers ist geweckt und er will dieses Genie kennenlernen, was ihm auch gelingt, als er selbst mit einem reichen Schotten McConnor Schach spielt, um den Weltmeister anzulocken. Dieser wiederum lässt sich vom Geld verführen und spielt gegen einige "drittklassigen Spielern", die er natürlich besiegt. Bis ein Unbekannter ins Spiel kommt, der dem Weltmeister ein Remis entlockt. Neugierig geworden sucht der Ich-Erzähler diesen Schachvirtuosen auf, der sich als Wiener Rechtsanwalt Dr. B. entpuppt, der "am selben Abend, da Schuschnigg seine Abdankung bekannt gab, und einen Tag, ehe Hitler in Wien einzog" (S.41), also am 11.3.1938 von der Gestapo verhaftet wird, da seine Kanzlei Kontakt zur Krone hatte, Vermögenswerte von Klöstern heimlich gesichert hat und er selbst von einem Spion verraten wird. Er wird jedoch nicht in ein Konzentrationslager deportiert, sondern in einem Hotel in Isolationshaft genommen.

Die Novelle führt den Leser*innen an diesem Beispiel die perfide Grausamkeit des nationalsozialistischen Regimes vor Augen, da sich Dr.B. zum Nichtstun gezwungen wird und ohne soziale Kontakte allein in seinem Zimmer auf die Verhöre warten muss.

"Man tat uns nichts - man stellte uns nur in das vollkommene Nicht, denn bekanntlich erzeugt kein Ding auf Erden einen solchen Druck auf die menschliche Seele wie das Nichts." (43)

Dieses Nichts beginnt ihn innerlich zu zerstören, doch per Zufall gelingt es ihm vor einem Verhör ein Buch aus einem Mantel zu entwenden - "ein Schachrepititorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien." (55)

Das, was Czentovic nicht gelingt, das Blindspielen, vermag Dr. B. und zunächst scheint es ein Segen für ihn zu sein. Mithilfe der Repitition berühmter Schachpartien kann er den endlosen Verhören und der Einsamkeit entkommen. Indem er jedoch beginnt, gegen sich selbst zu spielen, seine Persönlichkeit in ein "Ich Schwarz" und "Ich Weiß" (63) zu spalten, die imaginativ - ohne echtes Schachbrett - gegeneinander wetteifern und Züge antizipieren müssen, steigert er sich in eine Manie, bis hin zur "Schachvergiftung" (66), die zu seinem Zusammenbruch führt.

Er muss in ein Krankenhaus und dem Arzt gelingt es, ihn in die Freiheit zu entlassen, so dass er sich jetzt auf dem Schiff befindet. Jener Arzt hat ihn auch davor gewarnt, wieder Schach zu spielen. Und doch reizt es ihn gegen den behäbig langsamen Schachweltmeister anzutreten. In der Partie offenbaren sich die unterschiedlichen Spielweisen - Czentovic überlegt sehr lange, bevor er zieht, während Dr. B. bereits alle möglichen Spielzüge antizipiert hat und blitzschnell reagiert. Seine Ungeduld wächst und dem Ich-Erzähler fällt auf, "dass seine Schritte trotz aller Heftigkeit dieses Auf und Abs immer nur die gleiche Spanne Raum ausmaßen [...] schaudernd erkannte [er], es reproduzierte unbewusst dieses Auf und Ab das Ausmaß seiner einstmaligen Zelle" (78). Das reale Schachspiel hat Dr. B. wieder in den Bann seiner Isolationshaft hineingezogen, in der er gegen sich selbst gespielt hat. Dem Ich-Erzähler gelingt es während der 2.Partie, in der Dr. B. den Bezug zur Realität verliert, diesen wieder zurückzuholen und man kann vermuten, dass er nie mehr ein Schachbrett anrühren wird.


Eine lesenswerte Novelle, die, wie im Nachwort ausgeführt, ganz unterschiedliche Lesarten hat. Im Vordergrund stehen die sehr gut erzählte Geschichte -

"Zweig reißt die Aufmerksamkeit des Lesers geradezu an sich, zieht ihn förmlich in die imaginäre Welt seiner Erzählung hinein." (89, Nachwort) -

und das Aufeinandertreffen zweier Lebensweisen. Die langsame „Schachmaschine“ trifft auf den schnellen, imaginativ Denkenden und treibt ihn in den Wahnsinn. Die perfide Grausamkeit der Isolationshaft der Nazis wird ebenfalls deutlich vor Augen geführt - was macht das psychisch aus einem Menschen. Und nicht zuletzt die Spaltung der Persönlichkeit, die Schachmanie, die entsteht und droht wieder aufzubrechen, wenn der entsprechende Reiz gesetzt wird - eine Folge der Haft. Zu Recht ist die Novelle Zweigs bekanntestes Werk!

Klare Lese-Empfehlung ;)

Sonntag, 27. Juni 2021

Annalena McAfee: Blütenschatten

"Standbild, dann Rücklauf."

Leserunde auf whatchaReadin

Die Künstlerin Eve Laing wandelt durch das nächtliche London und besucht um die Weihnachtszeit das Haus, in dem sie noch vor neuen Monaten mit ihrem Mann Kristof, einem erfolgreichen Architekten, gelebt hat. Die 60-Jährige hat ihn jedoch für einen Jüngeren verlassen und reflektiert in dieser einen Nacht, in der die Geschichte spielt, über ihr Leben.

"Es dauerte ein ganzes Leben, um es aufzubauen, und nur eine Sekunde, um es zu zerstören. Familienleben. Das ging als Erstes flöten. Dann die Würde, und mit ihr der gute Ruf. Alles andere folgte in dem Strudel. Nur ihre Arbeit ist geblieben. Der Junge fing ihren Blick ein und hielt ihn fest. Standbild, dann Rücklauf." (11)

Bereits zu Beginn des Romans wird Eves derzeitige Situation beschrieben, doch wie es dazu gekommen ist und was die einzelnen Aussagen bedeuten, entfaltet sich, während sie selbst durch London läuft und immer wieder innehält (Standbild) und in Rückblicken (Rücklauf) an das zurückdenkt, was sie an diesen Punkt geführt hat, in dem sie gezwungen ist, loszulassen.

Erzählt wird ausschließlich aus ihrer Sicht, allerdings in der Sie-Form, so dass die Distanz gewahrt bleibt, die auch dadurch entsteht, dass Eve sich als recht unsympathische Figur präsentiert. Gemeinsam mit zwei "Freundinnen", Mara und Wanda, hat sie in London die Kunstakademie besucht und anschließend Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre in New York gelebt. Den Begriff "Freundinnen" müsste man allerdings ersetzen durch "Feindinnen". Das, was sich die drei gegenseitig aus Missgunst und Neid angetan, haben, ist bitterböse.

Eves Gedanken kreisen

1. Um ihre Tochter Nancy

"Was erwartete ihre Tochter denn, dieses liberale Dummchen mit ihrer Glutenunverträglichkeit und ihrer Schwachsinnstoleranz?" (63)

- von der sie enttäuscht ist, die sie verachtet und mit der sie den Kontakt abgebrochen hat.

2. Um ihre Beziehung zu Florian Kis

Bekannt wurde Eve durch ein Porträt "Mädchen mit Blume", das der angesagte Künstler und ihr Lehrer Florian Kis von ihr gemalt hat und das sie in einer unterwürfigen Pose, nackt zu den Füßen des Malers zeigt. Dass er sie sexuell ausgenutzt und als dessen Muse galt, nagt immer noch an ihr.

"Und was war mit Florian Kis? Nun ja, daran arbeitete sie sich heute noch ab." (45)

"Nachdem sie sich endgültig von Florian losgeeist hatte, taumelte sie von einem Abenteuer, zuweilen auch einem Missgeschick ins nächste, doch damals gab es in Eves Liebesleben keine langen Schatten." (53).

3. Um ihre eigene Kunst und damit verwoben ihre Konkurrenz zu Wanda Wilson 

Nur die "Blütenschatten" interessieren sie, denn als Künstlerin hat sie sich einen Namen durch ihr Werk "Underground Florilegium" gemacht.

"Darin hatte sie auf Harry Becks klassischer Tube-Map aus den 1030er Jahren die Namen der Stationen mit ihren botanischen Bildern ersetzt." (31)

Allerdings glaubt sie ihre "florale" Kunst erfahre nicht die notwendige Wertschätzung und der Neid auf die inzwischen erfolgreiche Performance-Künstlerin Wanda, die ihr Elend theatralisch zu inszenieren versteht, frisst sie auf. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung, die Eve Wanda attestiert, trifft ebenso auf sie selbst zu.

Alles muss sich um sie und ihre Kunst drehen, so ist sie geschmeichelt, dass ihr neuester Assistent Luka, der 30 Jahre jünger ist als sie, sich ernsthaft für sie zu interessieren scheint.

4. Um Luka und ihre Arbeit am Poison Florilegium

Die zynische Eve lässt sich mit Haut und Haaren auf diesen jungen Mann ein, der es vermag ihre Leidenschaft neu zu entfachen und ihre Arbeit zu beflügeln.

Die jüngste Vergangenheit nimmt den größten Raum des Romans ein und dieser Teil der Geschichte entfaltet trotz der akribischen Beschreibung der Arbeitsweise der Künstlerin einen Sog, dem man nur schwerlich widerstehen kann und gipfelt in einem furiosen Finale. 

Zu Beginn erscheint die Sprache Eves manieriert, wie eine der Mitleserinnen der Leserunde es treffend beschrieben hat, doch ist dies nur ein Stilmittel, das Eve treffend charakterisiert. Teilweise ist die dezidierte Beschreibung der künstlerischen Arbeit etwas langatmig, doch die sich steigernde Geschichte um Eve und Luka überwiegt eindeutig - und der Schluss ist wirklich genial, der die Bemerkung auf dem Buchrücken, Eve sei kein zartes Pflänzchen, sondern eine kompromisslose Künstlerin, die ihre Passion über alles stelle, eindrucksvoll bestätigt.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für diesen empfehlenswerten Roman!


Dienstag, 8. Juni 2021

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

- eine Wiederentdeckung.

Leserunde auf whatchaReadin

In zwei aufeinander folgenden Nächten vertraut die ca. 40jährige Heleen, die in einer Nervenklinik liegt, der Nachtschwester ihre Lebensgeschichte an. Die Geschichte spielt in den Niederlanden zu Beginn des 20.Jahrhunderts.
Der Roman ist vollständig als Monolog der Ich-Erzählerin konzipiert, die Reaktionen der Nachtschwester erfahren wir lediglich aus ihren Kommentaren.

"Nein, bitte, legen Sie die Näharbeit nicht weg. Lassen Sie mich bitte noch ein bisschen bei Ihnen sitzen, bringen Sie micht nicht ins Bett." (33)

Dadurch, dass Heleen durchgängig erzählt, ist die Beichte sehr intensiv und komprimiert. Beim Lesen entsteht ein Sog, der die Leser*innen in diese außergewöhnliche Lebensgeschichte hineinzieht. Die Fragen, die im Raum stehen, sind:

Warum ist Heleen in der Nervenklinik? Was hat sie zu beichten? Ist sie wirklich psychisch krank? 

"Ich war die Älteste und habe erlebt, wie das Haus voll wurde." (23)

Neun Geschwister hat sie und muss nach 6 Jahren die Schule verlassen, um zum Einkommen des Haushalts beizutragen, nachdem ihr Vater bei einem Unfall ans Bett gefesselt ist. Damit erfüllt sich letztlich ein Traum für sie, dann bereits als Kind läuft sie einmal von zu Hause weg, da sie  in die Welt hinaus gehen will.

Sie erhält eine Anstellung in dem Schneideratelier einer Französin und ist sich trotz ihrer 13 Jahre bewusst, "dass [sie] große braune Augen hatte, das Weiß bläulich wie Porzellan, und [ihre] Haare waren schwarz, ganz glatt und glänzend." (45)

Täglich betrachtet sie sich im Spiegel, dem sie gegenüber sitzt und stellt sich vor, sie trage die wunderschönen, kostbaren Kleider, an denen sie arbeitet. Als sie zu ihrem 15.Geburtstag von den anderen Angestellten ein braunes Kleid aus Baumwollsamt erhält, verschwindet das Spiegelmädchen. Sie erkennt, dass sie "ärmlich gekleidet" (48) ist und damit möchte sie, die sich nach Schönheit sehnt, und alles, was sie stört und irritiert, "hässlich" nennt, nicht abfinden.

Heleen nutzt die Bekanntschaft eines Handelsvertreters für Stoffe, um einen sozialen Aufstieg zu erreichen. Dafür muss sie gegen den Willen ihres Vaters, der sie verdammt, ihr Elternhaus verlassen. Die Antwort ihrer Mutter zeigt, wie schwierig es für Frauen in dieser Zeit gewesen ist, einen eigenen, selbstbestimmten Weg einzuschlagen.

"Sie sagte nur, sie habe lebenslang ihre Pflicht getan. Und sich an die Gebote gehalten. Und auch auf ihrem Leben habe kein Segen gelegen." (83)

Heleen muss die ganze Nacht - und auch noch eine weitere, reden, sonst "werde [sie] vollkommen verrückt." (94)

Diese Beichte ermöglicht ihr, das Furchtbare, das sie getan hat, zu begreifen. Der Monolog gleicht einer intensiven Psychoanalyse, lässt die Gefühle und Erkenntnisse aus dem Unterbewusstsein an die Oberfläche steigen. In der 2.Nacht werden die Reaktionen der Nachtschwester kaum noch kommentiert, der Drang, sich alles von der Seele zu reden, wird größer. Was sie getan und erlebt hat, zeigt, dass sie, die selbst wenig Liebe erfahren hat, kaum Selbstvertrauen hat und sich fast ausschließlich über ihre Schönheit definiert. Ihre Angst, den Menschen, den sie über alles liebt, zu verlieren, weil sie älter wird, ist unerträglich für sie und führt letztlich zu einer Katastrophe.

Ein Roman, der aufgrund der Erzählweise einen Sog entfaltet, dem ich mich kaum entziehen konnte. Sehr intensiv erlebt man die Lebensgeschichte dieser aufstrebenden jungen Frau mit, die aus der Unterschicht kommend, aufsteigt, um zu fallen.

Ein Roman, dem ich viele Leser*innen wünsche!



Sonntag, 23. Mai 2021

Grazia Deledda: Schilf im Wind

 "Warum bricht uns das Schicksal, wie der Wind das Schilf bricht?" (353)

Leserunde auf whatchaReadin

1926 erhielt die sardische Schriftstellerin Grazia Deledda den Literaturnobelpreis, ihr Roman "Schilf im Wind" ist jetzt im Manesse Verlag in einer wunderschönen Neuedition aufgelegt worden. Das italienische Original erschien im Jahr 1913, etwa zu jener Zeit spielt auch das Geschehen in der Heimat der Schriftstellerin.

Im Mittelpunkt steht "Efix, der Knecht der Damen Pintor" (5), der das Landgut der verarmten Adligen seit 30 Jahren bewirtschaftet. Einst verfügte die Herrschaft über mehrere Ländereien, doch wie ein Junge aus dem Dorf erzählt, liegt "nach dem Tod von Donna Maria Christina, Eurer seligen alten Herrin [...] ein böser Bann auf Eurem Hause" (15). Die jüngste der Pintor-Schwestern, Lia, sei davon gelaufen, um ein selbst bestimmtes Leben zu führen und einen Bürgerlichen zu heiraten, ihr Vater Don Zame habe sie gesucht und sei an der Brücke getötet worden.

Und nun ist ein Brief Don Giacontos angekommen, der Sohn Lias, die inzwischen ebenfalls verstorben ist. Seine Ankunft bringt das Leben der drei verbleibenden Schwestern Pintor - Donna Ruth, Donna Esther und Donna Noemi - aus dem Gleichgewicht. Auch der Knecht Efix muss sich einer alten Schuld stellen und ist gezwungen seine geliebtes Landgut zu verlassen, um für diese Schuld zu sühnen.

Folglich sind Schuld und Sühne die bestimmenden Themen des Romans, der jedoch auch aufzeigt, dass unter den bestehenden Normen der Gesellschaft ein selbst bestimmtes Leben kaum möglich ist, da eine Heirat an Standeszugehörigkeit gebunden ist und die Liebe sich dem unterwerfen muss. Vor allem am Beispiel Donna Noemi wird deutlich, dass sie sich nach einer anderen Lebensweise sehnt, jedoch in den Mauern der Konventionen gefangen ist.

Während die Landschaftsbeschreibungen Bilder beim Lesen entstehen lassen und die Art und Weise, wie die Sarden kurz vor dem ersten Weltkrieg gelebt haben, deutlich wird - v.a. ihr tief verwurzelter Aberglaube, bleiben die Figuren bis auf Efix seltsam blass. Ihre Handlungen und Entscheidungen lassen sich nur teilweise nachvollziehen und das liegt nicht daran, dass uns die Normen und Konventionen der Gesellschaft heutzutage überholt erscheinen, sondern daran, dass die Geschichte hauptsächlich aus Efix personaler Sicht erzählt wird, so dass uns Donna Noemi oder auch Giaconto fremd bleiben. Man fiebert weder mit noch wird von der Geschichte gefangen genommen. Hinzu kommen viele Traumsequenzen, in denen Wünsche und Realität verschwimmen, was den Lesefluss zusätzlich erschwert.

Ein Roman, der sicherlich viele Leser*innen begeistern kann, zu dem ich aber leider keinen Zugang gefunden habe.

Sonntag, 28. März 2021

Takis Würger: Noah

 Von einem, der überlebte

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Noah Klieger, die er im "Frühling des Jahres 2018 in Tel Aviv [...] unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses" (9) dem Schriftsteller Takis Würger erzählt hat. Im Dezember 2018 verstarb Noah Klieger in Tel Aviv.

Im Jahr 2017 lernte Würger den Auschwitz-Überlebenden in Günzburg kennen, wo er an einem bayrischen Gymnasium über die Shoah sprechen sollte, und sie entschieden, dass sie gemeinsam sein Leben festhalten wollten - zweieinhalb Monate lange erzählte Noah Klieger und Takis Würger hörte zu. Er selbst sagt, dass dieses Buch in der "Tradition der Oral History" erschienen ist. Die Geschichte wird so erzählt, wie Noah sie erinnert. Daraus resultieren einerseits Leerstellen in der Biographie - Ereignisse, zu denen man als Leser*in gern mehr erfahren hätte - andererseits ein nüchterner, fast sachlicher Stil, der eher einem Bericht als einer erzählten Geschichte gleicht. Die Erklärung, dass Noah Klieger die Geschichte genau in dieser Art und Weise erzählt haben wollte und dass manche Ereignisse so traumatisch sind, dass Menschen auch nach Jahrzehnten nicht darüber sprechen können, erfahren wir als Leser*innen erst im Nachwort von Takis Würger, Noahs Nichte Alice Klieger und von Sharon Kangisser Cohen, die erzähltheoretische Erklärungen für die Art und Weise der Darstellung liefert. Diese Informationen hätte ich für meinen Teil gerne als Vorwort gelesen, um die Lebensgeschichte und den Stil, in dem sie geschrieben wurde, besser einordnen zu können.

Zum Inhalt

Der erste Teil erzählt von Noahs Verhaftung in Belgien und seiner Deportation nach Auschwitz. Das Leben im Lager wird knapp geschildert, vieles nur angedeutet. All jene, die sich mit der Thematik beschäftigt haben und andere Romane "Gegen das Vergessen" gelesen haben, wissen die Leerstellen zu füllen. In der Leserunde wurde in dem Zusammenhang über die Frage diskutiert, ob Jugendliche, die zum ersten Mal eine Lebensgeschichte eines Holocaust-Überlebenden lesen, nicht zusätzliche Informationen bräuchten - sie sollten auf jeden Fall zuerst das Nachwort lesen.

Die perfide Grausamkeit der Täter, ihre Willkür und ihr Sadismus sind trotz des nüchternen Erzählstils greifbar und gleichzeitig unfassbar. Noah überlebt die schwere Arbeit, die Selektionen, bei denen er auf Josef Mengele trifft und auch den Todesmarsch. Er selbst hat sein Überleben "als einen Überlebenskampf, in dem er ein aktiver Teilnehmer war" (169) betrachtet.

Während der zweite Teil von der unmittelbaren Zeit nach der Befreiung der Lager berichtet, handelt der dritte Teil von der Überfahrt der Exodus von Frankreich nach Palästina, wo das Schiff von britischen Soldaten überfallen, angegriffen und zurück nach Frankreich gezwungen wurde. Dieser Teil der Geschichte, der Umgang mit den jüdischen Überlebenden, ist weniger bekannt und zeigt, dass für viele das Leiden nach der Kapitulation Deutschlands nicht vorüber gewesen ist.

Der letzte Teil dokumentiert, was aus den Menschen, denen Klieger begegnet ist, geworden ist und gibt einen kurzen Überblick über sein eigenes Leben als Zionist und Journalist.

Fazit

Obwohl ich es wichtig finde, dass die Lebensgeschichte Kliegers erzählt werden sollte und im Nachwort auch erläutert wird, warum sie auf diese Art und Weise geschildert wird, hat mich die Biographie dennoch nicht überzeugen können. Der Stil (Würgers (?) ist mir persönlich zu sachlich, zu nüchtern. Ich habe kaum Zugang zur Person Kliegers gefunden, kann mir jedoch vorstellen, dass persönliche Begegnungen mit Noah Klieger oder die Vorträge, die er regelmäßig in Deutschland gehalten hat, sehr bewegend waren, wie Würger in seinem Nachwort schildert. Der Roman vermag dies nur bedingt widerzuspiegeln, auch wenn er "ein Akt des Andenkens - eine Art symbolisches Grab oder eine Dokumentation des Erlittenen" (178) ist.

Vielen Dank dem Penguin Verlag für das Lese-Exemplar.


Sonntag, 14. März 2021

Benedict Wells: Hard Land


- ein "euphancholischer" Roman.

"Neues Wort. Mischung aus Euphorie und Melancholie" (98)

- ein Gefühl, das beides vereint, beschreibt das Empfinden beim Lesen des Romans ziemlich gut.

Der Ich-Erzähler, Sam Turner, inzwischen 17 Jahre alt, schildert rückblickend, was im Sommer 1985 und in dem Jahr danach geschehen ist.

"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb." (11)
"Es war der Anfang der Sommerferien, und von dem Berg an Langeweile, der vor mir aufragte, hatte ich noch nicht mal die Spitze abgetragen." (11)

Sam schwankt zwischen der Angst um seine Mutter, die einen Gehirntumor hat(te) und der es gesundheitlich besser geht, und dem Wunsch etwas zu erleben. Er will endlich hinter die 49 Geheimnisse (=Anzahl der Kapitel im Roman) seiner Heimatstadt Grady im Bundesstaat Missouri zu kommen, von denen der einzige Schriftsteller der Stadt William J.Morris in seinem Gedichtzyklus "Hard Land" (!) spricht. Diesen Schriftsteller hat Wells wahrscheinlich erfunden, da die Gedichte, in denen Sam während des Sommers liest,  jeweils in Zusammenhang mit der Handlung des Roman stehen.

Interessanterweise erklärt Wells den Aufbau seines Romans, indem er den Highschool-Lehrer, der den Gedichtzyklus im Unterricht bespricht, erklären lässt, "Hard Land" sei wie ein klassisches Drama konstruiert:
Exposition (Die Wellen) - Komplikation (Der Ball in der Luft) - Peripetie (Die Prüfung) - Retardation (Der Streich) - Katharsis (Die Pointe)

Ohne den Inhalt vorwegnehmen zu wollen, es passt perfekt. Im ersten Teil werden die Figuren und der Ort vorgestellt. Sam, der keine Freunde hat, litt als Kind unter Panikattacken und war deswegen in psychotherapeutischer Behandlung. Immer noch fällt es ihm schwer, sich unter Gleichaltrigen cool und gelassen zu verhalten. Im Kino Metropolis, in dem er einen Job bekommt, lernt er eine Clique aus zwei Jungen und einem Mädchen kennen, die nach den Ferien aufs College gehen wird. Zunächst weisen sie ihn freundlich zurück, doch nachdem er sich Kristie offenbart, ihr seinen Kummer und seine Ängste anvertraut hat, verschiebt sich das Gleichgewicht und er wird in dieses seltsame Trio aufgenommen, bestehend aus dem stillen, ruhigen Brandon mit dem Spitznamen Hightower (Football-Spieler), dem redseligen, filmbegeisterten Cameron, der homosexuell ist, und der selbstbewusst wirkenden Kristie, die in einigen Situation unsicher wirkt und Sätze und Wörter wie "die Quittung der Nacht" sammelt.

Im zweiten Teil steht die Beziehung zu Kirstie, in die sich Sam verliebt, im Mittelpunkt. Aber Sam erzählt auch von seinem innigen Verhältnis zu seiner Mutter, die ihn dazu drängt, arbeiten zu gehen, Zeit mit seinen neuen Freunden zu verbringen, weil sie sieht, wie er aufblüht und sie bald nicht mehr für ihn da sein kann.
Auch sein Vater unterstützt ihn erstaunlicherweise darin, obwohl Sam ein eher distanziertes Verhältnis zu ihm hat.
"Mein Vater war mir oft wie ein heruntergelassene Jalousie vorgekommen. Doch an jenem Mittag konnte ich zumindest durch die Ritzen spähen." (47) 

Mit Hightower entwickelt sich eine ernsthafte Freundschaft, gemeinsam joggen sie jeden Morgen und Sam erfährt, dass er als 12-Jähriger seine Mutter verloren hat und bei seinem Stiefvater lebt.

An seinem Geburtstag, der Peripetie, muss Sam drei Prüfungen ablegen - wie ein klassischer Held - und er erkennt, dass es "nicht die gleichen neunundvierzig Geheimnisse für alle gab, sondern jeder seine eigenen hatte" (186).

Die Pointe des Romans ist die gleiche, auf die auch der (fiktive) Gedichtzyklus hinausläuft, und rundet diesen Coming of Age-Roman ab. Freundlicherweise liefert Wells auch eine Erklärung dieses Begriffs, indem er sie ebenfalls dem Lehrer in den Mund legt.
"Der klassische Held [ist] oft auf einer inneren oder äußeren Reise. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen." (306)

oder wie es bei William Morris heißt:
"Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt." (306)

Benedict Wells trifft den Ton der Jugendlichen und die Themen, mit denen sie sich  auf dem Weg zum Erwachsensein auseinandersetzen, z.B die Frage: Wer bin ich überhaupt oder wie sollte ich sein? Sams Antwort zum Rat der Schulpsychologin, aus sich herauszugehen, lautet:

"Nur, wenn man darüber nachdenkt, ist es ja eine Bankrotterklärung an das eigene Ich, wenn man besser dran ist, da rauszuschlüpfen und es wie eine kaputte Hülle zurückzulassen." (26)

Wells gelingt es hervorragend, dass man sich in die Heranwachsenden hineinversetzen kann und an ihrem Reifen und Wachsen teilnimmt. Die Figuren und auch die Zeit wirken völlig authentisch, die Song- und Filmtitel erinnern an die eigene Jugend ;).

Ein warmherziger Roman - Hard Land könnte man im Englischen auch als Heart Land verstehen - den ich allen ans "Herz" legen möchte, die gerne übers Erwachsenwerden lesen, und denen, deren Ball noch hoch in der Luft fliegt.


Leserunde auf whatchaReadin
Vielen Dank an den Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.

Freitag, 5. März 2021

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

- Weltbestseller aus Korea

Leserunde auf whatchaReadin


"Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt, 34 nach koreanischer Zählung, denn in Korea gilt ein Kind in seinem Geburtstjahr bereits als einjährig (...). Sie hat vor drei Jahren geheiratet und letztes Jahr eine Tochter geboren." (7)

So startet der Roman und gibt in Kurzfassung Jiyoungs Lebenssituation wider. Sie hat ihren Job bei einer Marketingfirma aufgegeben, um ihr Kind zu betreuen. Ihr Mann arbeitet bis spätabends in einer IT-Firma, ihre Eltern betreiben ein Restaurant in Seoul, ihre Schwiegereltern wohnen in Busan, so dass sie mit der Kindererziehung weitestgehend auf sich gestellt ist. Plötzlich legt sie ein sonderbares Verhalten an den Tag und spricht mit der Stimme ihrer Mutter und mit der ihrer ehemaligen Studienkollegin. In diesen "Rollen" spricht sie aus, was sie sich sonst offensichtlich nicht traut zu sagen: Dass die Vorbereitung eines Festessens für die ganze Familie sehr erschöpfend ist oder dass sie an den Feiertagen gerne ihre eigene Familie besuchen würde.

Ist es eine psychische Störung oder schauspielert Jiyoung?

Im folgenden Verlauf des Romans wird Jiyoungs Lebensgeschichte erzählt, angefangen mit ihrer Geburt im Jahr 1982. Sie hat noch eine ältere Schwester und als die Mutter wieder schwanger wird und es sich herausstellt, dass es erneut ein Mädchen wird, treibt sie ab. 

"Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten waren gesellschaftlich akzeptiert, als ob eine Tochter zu bekommen ein medizinischer Grund wäre." (30)

Die Bemerkung ist mit einer Fußnote versehen, in der auf eine entsprechende Quelle dieser Aussage verwiesen wird. Diese Belege tauchen häufiger auf, so dass der Roman wie eine Mischung aus Fiktion und Sachbuch wirkt, ein Eindruck, den der nüchterne Stil unterstützt. Die Sprache steht jedoch nicht im Vordergrund, sondern die Lebensgeschichte Jiyoungs und auch die ihrer Mutter, die ebenfalls kurz skizziert wird.

Sie zeigen eindringlich die Diskriminierung der Frauen in Südkorea. Anhand zahlreicher Situationen, verschiedener Erlebnisse der Protagonistin und der weiterer Frauen, und anhand der Aussagen anderer Figuren wird aufgezeigt, wie Frauen systematisch unterdrückt werden und keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Das fängt vor der Geburt an, da weibliche Föten abgetrieben werden, setzt sich im Kindesalter fort, denn "Töchter opferten sich bereitwillig für ihre männlichen Geschwister." (37) In der Schule werden Jungen bevorzugt behandelt, dürfen z.B. als Erste essen und sind i.d.R. Klassensprecher.

Als die Familie in eine neue Wohnung umzieht, kann Jiyoungs Mutter jedoch durchsetzen, dass die beiden Mädchen ein eigenes Zimmer erhalten, während ihr Bruder weiterhin bei den Eltern schläft - eine kleine Rebellion. Ihre Stärke zeigt einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung.

Auf der anderen Seite gibt es viele Szenen, die empören und wütend machen. So wird Jiyoung sexuell von einem Mitschüler belästigt, doch ihr Vater gibt ihr die Schuld daran. Nachdem sie erfolgreich die Universität abgeschlossen hat, muss sie feststellen, dass ihre männlichen Mitbewerber immer die Nase vorn haben. Aber auch in der Arbeitswelt haben Frauen kaum eine Chance auf eine Karriere. Als in der Marketingfirma eine neue Projektgruppe gebildet wird, erhalten zwei männliche Mitarbeiter den Vorrang vor Jiyoung und ihrer Freundin. Da es ein langfristiges Projekt werden soll, hat man Angst, die weiblichen Mitarbeiter könnten aufgrund von Schwangerschaften ausfallen. Flexiblere Arbeitszeiten stehen nicht zur Debatte.

"Jiyoung fühlte sich wie in der Mitte eines Labyrinths. Fleißig und gewissenhaft arbeitend, hatte sie nach einem Ausgang gesucht, den sie, wie sie nun erkannte, von Anfang an nicht gegeben hatte." (144)

Dieser Roman ist ein politisches Bekenntnis, ein Appell für die Gleichberechtigung der Frauen in Korea. Es verleiht den Frauen eine Stimme und stellt schnörkellos ihre Lebenssituation dar. Jiyoung steht dabei stellvertretend für viele. Darin besteht meines Erachtens jedoch auch ein Schwachpunkt des Romans. Denn die Protagonistin bleibt letztlich ein Exempel, der alles widerfährt, was Frauen in Korea geschehen kann. Die Autorin hat alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten, die einer Frau zustoßen können, in dieser einen Person vereint, wodurch die Figur im letzten Teil nicht mehr authentisch wirkt.

Der Schluss selbst hält noch einen überraschenden Kunstgriff bereit und erklärt die nüchterne Erzählweise. Obwohl sprachlich kein Genuss und trotz der mangelnden Authentizität der Figur am Ende, ein starkes Statement gegen die Unterdrückung der Frauen - nicht nur in Korea.

Ein Roman, der hoffentlich auch weiterhin viele Leserinnen und vor allem Leser finden wird.

Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Leseexemplar.

Donnerstag, 11. Februar 2021

George Orwell: 1984

 - der Klassiker, neu übersetzt

Leserunde auf whatchareadin

dtv hat den Klassiker, der bereits im Jahr 1949 zum ersten Mal erschienen ist, mit einem sehr ansprechenden Cover in einer neuen Übersetzung wieder aufgelegt. Neben der neuen Rechtschreibung sind auch die von Orwell erfundenen Begriffe wie "Neusprache" oder Zwiegedanke (alte Übersetzung) modernisiert worden: "NeuSprech" und DoppelDenk (neue Übersetzung). 

Warum sollte man diesen Roman heute (wieder) lesen?

Das dem Roman vorangestellte Vorwort von Robert Habeck gibt eine Antwort darauf: "Georg Orwell ist der Analytiker des Totalitarismus" (5).

Als ich selbst den Roman zum ersten Mal gelesen habe, Mitte der 90er, ging es mir so wie Habeck, es war "für mich eine Metapher für die totalitären Regime der dunkelsten Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, des Stalinismus und des Nationalsozialismus." (8) Aber auch wenn der real existierende Sozialismus gescheitert ist, gewinnen autoritäre Regime an Zuspruch, rechter Populismus erfährt neuen Auftrieb und der Überwachung der Gesellschaft stimmen wir freiwillig zu, indem wir unsere Daten und unsere Privatsphäre preisgeben. Gerade im Zuge der Corona-Krise nutzen totalitäre Systeme, und nicht nur diese, die Gefahr durch das Virus radikal aus. Wie weit sind wir noch vom gläsernen Menschen entfernt? Auch die Manipulation durch die Sprache, die Umdeutung der Geschichte, die Frage, was die Wahrheit angesichts von Fake News und manipulierter Bilder ist, stellt sich heute dringender denn je. Der Roman zeigt, "wie nicht mehr zwischen Lüge und Wahrheit unterschieden werden kann. Und wenn das passiert, dann ist Demokratie am Ende." (12) Habeck spricht auch die Filterblasen und Twitterwolken an, in denen sozial selektierte Gesellschaften entstehen und ein Bewusstsein für abweichende Meinungen verloren geht. Das kann man gerade in der Corona-Krise gut beobachten.

Zum Inhalt

Winston Smith lebt einem totalitären Regime, in dem die Partei IngSoc - English Socialism - die Macht inne hat. Die Partei hat einen totalen Überwachungsstaat aufgebaut, so ist sie in der Lage, die Menschen in ihren Wohnungen per TeleSchirm zu beobachten. Die GedankenPolizei überwacht die Mimik und versucht jeden Gedanken, der illoyal ist und die Liebe zur Partei nicht widerspiegelt, sofort zu ahnden.

Es gibt die Innere Partei, die weniger als 2% der Bevölkerung ausmacht, die Äußere Partei, ca. 13%, zu der auch Winston gehört, und die sogenannten Prolls, die den Rest der Gesellschaft ausmachen und keine Aufstiegschancen haben und so davon beansprucht werden, ihren Alltag zu meistern, dass sie sich nicht erheben.

"Prolls werden nicht in die Partei aufgenommen. Nur die Begabtesten unter ihnen, die vielleicht zu einem Unruheherd werden könnten, werden von der Gedankenpolizei identifiziert und eliminiert." (257)

Die Erde ist unter drei Großmächten aufgeteilt, Ozeania, Euroasien und Ostasien, die permanent im Krieg miteinander liegen und um die verbleibenden Gebiete kämpfen. Der Krieg dient dazu Armut aufrechtzuerhalten, denn "langfristig konnte eine hierarchische Gesellschaft nur auf einem Fundament von Armut und Dummheit bestehen." (234)

An allem herrscht Mangel, Lebensmittel, Konsumgüter und Luxusartikel sind allenfalls für die Innere Partei erreichbar, während das Ministerium der Fülle davon spricht, allen gehe es besser als vor der Revolution. Nur billiger, synthetischer Gin ist reichlich vorhanden. Um das Leben erträglicher zu machen?

Aber es gibt keine Vergleichsmöglichkeiten, da zum System  ebenfalls gehört, die Vergangenheit permanent umzuschreiben und der Gegenwart anzupassen. Werden Lebensmittel rationiert, muss die Ankündigung, diese würden erhöht, neu geschrieben werden. Hat sich ein Parteiglied gegen die Partei gestellt, wird seine Existenz vernichtet, alle Zeitungsartikel, in denen er erwähnt wird, müssen überarbeitet werden.  

"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Und wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." (58)

Das ist Winstons Beruf im Ministerium der Wahrheit (!), Zeitungsartikel umzuschreiben, die alten kommen in das sogenannte Erinnerungsloch und, weil es teilweise eine kreative Arbeit ist, empfindet Winston sogar eine gewisse Befriedigung dabei, obwohl er weiß, dass er dazu beigetragen hat, die Vergangenheit zu verfälschen.

Umso revolutionärer ist es, dass er selbst beginnt, Tagebuch zu führen, seine geheimen Gedanken niederzuschreiben - in einem für den TeleSchirm unsichtbaren, winzigen Teil seiner Wohnung. Mit wem wird er diese Gedanken teilen können, für wen schreibt er diese nieder? Er glaubt, dass einer der Inneren Partei, O´Brien, ebenfalls selbstständig denkt. Ein beiläufig dahin gesprochener Satz vor einigen Jahren lässt ihn in diesem Glauben, er sei nicht der letzte Mensch in Europa - ein Titel, den Orwell zunächst für seinen Roman favorisierte.

Sein "Freund" Syme hingegen ist ein Befürworter des Systems und arbeitet am endgültigen Lexikon von NeuSprech mit.

"Verstehen Sie nicht, dass es beim NeuSprech vor allem darum geht, das Denken so zu verschlanken, dass GedankenVerbrechen gar nicht mehr möglich sind, weil es keine Wörter mehr gibt, um sie zu formulieren?" (S.78)

Dadurch wird die "Reichweite des Bewusstseins" kleiner (78) und "das richtige Bewusstsein heißt Nichtdenken - gar nicht mehr denken müssen. Das richtige Bewusstsein ist die Bewusstlosigkeit." (79)

Ein Zustand, von dem Winston weit entfernt ist. Seine verbotenen Gedanken kreisen darum, wie man sich in solch einem System Hoffnung auf eine Änderung bewahren und Kontakt zu denjenigen aufnehmen kann, die ebenso denken. Ob es möglich sein wird, Widerstand zu leisten und sich einen freien Willen zu bewahren?

Orwells Dystopie gibt kaum Anlass zur Hoffnung, an der Situation könne sich etwas ändern.

Fazit

Auch wenn der Roman einige Längen aufweist, da Orwell in manchen Passagen zu viel erklärt, um sicher zu gehen, dass seine Botschaft verstanden wird, bleibt dieser Roman empfehlenswert und gehört für mich zu den Romanen, die man unbedingt gelesen haben sollte - gerade, weil er an Aktualität gewonnen hat!


Vielen Dank dem dtv-Verlag für das Rezensionsexemplar!