Sonntag, 12. September 2021

Douglas Stuart: Shuggie Bain

 -  Booker Prize 2020

Leserunde auf whatchaReadin

Im Mittelpunkt dieses sehr bewegenden Romans stehen Shuggie Bain und seine Mutter Agnes, die Alkoholikerin ist.

Die Handlung beginnt im Jahr 1992, Shuggie ist 16 Jahre alt, arbeitet seit über einem Jahr in einem Supermarkt in Glasgow, träumt jedoch davon auf die Friseurschule zu gehen. Er lebt allein in einem möblierten Zimmer, umgeben von "Porzellanballerinas" (15), die immer wieder im Roman auftauchen und ein Leitmotiv bilden. Einerseits erinnern sie ihn an seine Mutter, andererseits symbolisieren sie, dass Shuggie anders ist: Er ist homosexuell und im Verlauf der Handlung wird deutlich, dass er das Tanzen liebt und alles, was "normale Jungs" ausmacht, ablehnt.

Die Handlung springt ins Jahr 1981, als Shuggie 5 Jahre alt ist und mit seinen beiden älteren Geschwistern Catherine, Alexander, Leek genannt, seiner Mutter Agnes und seinem Vater Shug bei seinen Großeltern mütterlicherseits lebt. Das Geschehen wird aus unterschiedlichen personalen Erzählperspektiven geschildert, hauptsächlich aus der Agnes und Shuggies, aber auch die Sicht der Geschwister und Shugs Gedankenwelt werden vor den Leser*innen ausgebreitet. Die Situation erscheint für fast alle Beteiligten trostlos.

"Sie (Agnes) spielte mit dem Gedanken, noch weiter zu kippen, als Mutprobe. Wie leicht es wäre, sich einzureden, sie könnte wirklich fliegen, bis sie nur noch fiel und unten auf dem Beton aufschlug. Die Hochhauswohnung, die sie immer noch mit ihren Eltern teilte, engte sie ein. Alles in dem Zimmer hinter ihr fühlte sich klein an, so niedrig und stickig, vom Zahltag bis zur Sonntagsmesse, ein Leben auf Pump, wo nichts rechtmäßig ihr zu gehören schien." (27)

Agnes ist eine Schönheit mit künstlichen Zähnen, die immer noch für Aufsehen sorgt. Ihren ersten, katholischen Mann hat sie für Shug verlassen, da er ihr nicht genügt hat, zu langweilig, zu fromm, zu brav.

"Big Shug Bain war im Vergleich mit dem Katholiken betörend gewesen. Er war eitel, wie es nur Protestanten sein konnten, stellte seinen windigen Wohlstand zur Schau und leuchtet rosig vor Prasserei und Verschwendung." (40)

Shuggie ist der einzig gemeinsame Sohn der beiden und Agnes erkennt, dass er anders als sein großspuriger Vater ist. Aus diesem Grund kauft sie ihm eine Puppe - sehr ungewöhnlich für die damalige Zeit. Sie achtet darauf, dass er sich gut ausdrückt, "dass er die Silben nicht verschliff." (66) Genauso wie sie selbst Wert auf ihre äußere Erscheinung und eine gute Aussprache legt, sie wahrt den Schein, um ihre Sucht zu verbergen, genauso wie ihre Eltern verbergen, dass sie nie aufgehört haben zu trinken.

"Agnes wusste genau, dass Wullie und Lizzie sich heimlich aus dem Zimmer stahlen, wenn sie dachten, keiner sah hin. Sonntags standen sie vom Esstisch auf oder gingen einmal zu oft aufs Klo. Dann setzten sie sich auf die Kante ihres großen Ehebetts, Schlafzimmertür zu, und holten die Plastiktüten unter dem Bett hervor. Schenkten sich was in eine alte Tasse und tranken schnell und leise im Dunkeln wie Teenager." (35)

Stuart zeichnet ein schonungsloses Bild derer, die unter der rigiden Politik Magret Thatcher keine anständige Arbeit finden, keine Chance mehr erhalten oder auch ergreifen können und die sich aus Verzweiflung bzw. Resignation dem Alkohol hingeben. Vor allem das Leid der Kinder, die in diesem brutalen, sozialen Milieu aufwachsen müssen, wird im Roman plastisch geschildert.

"Was immer sie zum Lachen brachte, tat er noch ein Dutzend Mal, bis ihr Lächeln dünn und falsch wurde und er nach dem nächsten Kunststück suchte, das sie glücklich machen würde. (67)

Catherine scheint einen anderen Weg einzuschlagen, da sie einen Job und einen Ehemann in Aussicht hat, ein Neffe Shugs, Donald Junior. Sie hat sich geschworen als Jungfrau in die Ehe zu gehen, ein Versuch ihre Macht zu demonstrieren?
Leek ist ein stiller Junge mit einem Talent zum Zeichnen, der seine Ruhe haben möchte, er hat die Kunst perfektioniert, "durch Menschen hindurchzusehen, sich aus Gesprächen auszuklinken, durch Hinterköpfe und offene Fenster seinen Tagträumen hinterherzuschreien." (80)

Die Situation verschlimmert sich für alle dramatisch, als sie im Jahr 1982 nach Pithead ziehen.
Die ehemalige Bergmanns-Siedlung wirkt wir ein apokalyptischer Alptraum.

"Dann lag die Siedlung vor ihnen. Ein Stück voraus endete die schmale staubige Straße am Fuß eines niedrigen braunen Hügels. Jede der drei oder vier kleinen Seitenstraßen ging im rechten Winkel von der Hauptstraße ab. Häuser mit niedrigen Dächern, gedrungen und kastenförmig, zu ordentlichen Reihen gedrängt. Jedes hatte in gleich großes Stück schütteren Garten, und jeder Garten wurde vom gleichen Raster weißer Wäscheleinen und grauer Pfosten zerschnitten. Die Siedlung war von torfigem Marschland umgeben, im Osten war das Land umgekrempelt worden, geschwärzt und verschlackt auf der Suche nach Kohle." (114)

Agnes Sucht dominiert die Familie, während es Catherine gelingt, sich abzusetzen, kümmern sich Leek und Shuggie um ihre Mutter. Die Verantwortung, die sie tragen müssen, ist beim Lesen kaum zu ertragen. Mit aufopfernder Liebe und voller Verzweiflung bemüht sich Shuggie, Agnes vom Trinken abzuhalten - ein unmögliches Unterfangen. Unwillkürlich fragt man sich, ob dieser Alptraum irgendwann ein Ende finden wird - in dem Wissen, dass dem kaum so sein kann, da Shuggie im Jahre 1992 alleine wohnt.
Im Roman wird ein schonungsloses Bild einer Frau gezeigt, der es nicht gelingt, sich von ihrer Sucht zu befreien und die von den Männern, die sie liebt, betrogen wird.

"Sie hatte ihn gelobt, und er hatte sie vollkommen brechen müssen, bevor er sie endgültig verließ. Agnes Bain war ein zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal Scherben übrig lassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte." (131)

Andererseits gelingt es ihr in wenigen lichten Momenten, ihrem Jüngsten Selbstvertrauen mit auf den Weg zu geben und ihn in seinem Anderssein zu bestärken, obwohl er von den anderen Kindern deswegen ausgelacht und ausgegrenzt wird.
"Du weißt, dass sie nur gewinnen, wenn du sie gewinnen lässt. (...)
"Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab." (312)

Der Roman trägt autobiographische Bezüge, wie in der Danksagung deutlich wird -
"Vor allem anderen verdanke ich die Entstehung dieses Buches den Erinnerungen an meine Mutter und ihren Kampf gegen die Sucht, und meinem Bruder, der mir alles gegeben hat, was er mir geben konnte." (494) -

und was man auch in mehreren Interviews lesen kann. Dadurch, dass er teilweise selbst erlebt hat, wovon er schreibt, wirkt der Roman immer authentisch. Ich hatte beim Lesen nie das Gefühl, er übertreibt oder das sei unrealistisch - alles ist stimmig. Auch die Figuren reden in einem authentischen Slang, der im Kontrast zur der metaphorischen Sprache steht, die mir persönlich gut gefallen hat. Für den Roman spricht auch, dass man ihn, trotz des extrem belastenden Inhalts, kaum aus der Hand legen kann und den ich uneingeschränkt empfehlen kann.


Vielen Dank dem Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar.