Mittwoch, 28. Dezember 2016

Mein Lesejahr 2016

- Leserunden, Lesen mit Mira, Lesevorlieben, Lieblingsliteratur.


Mein Lesejahr 2016 war besonders ereignisreich und das aus vielerlei Gründen. Einer davon ist meine Mitgliedschaft bei whatchareadin, die jetzt ein Jahr alt ist und die mein Leseverhalten maßgeblich beeinflusst hat und das sicherlich auch weiterhin tun wird.

Und das mit seinen Leserunden, angefangen mit Sam Millars "True Crime", an der der Autor sogar selbst teilgenommen hat, um unsere Fragen zu beantworten. Oder mit der großartigen Leserunde zu "Widerfahrnis", in der heftig über Sprache und Handlung diskutiert wurde.

Auch einen Roman wie "Hool" hätte ich sicherlich nicht ohne Weiteres lesen wollen, habe im Rahmen einer weiteren Leserunde dann doch zugegriffen und es nicht bereut. Für mich die größte Überraschung in diesem Jahr.
Der Austausch beim Lesemontag, die Genre- und Themenleserunden sorgen für immer neue Buchtipps und eine intensivere Auseinandersetzung mit der eigenen Lektüre.
So habe ich Ian McEwan, den ich den letzten Jahren etwas aus den Augen verlor, dank whatchareadin wiederentdeckt, sowohl durch die Tipps der anderen als auch in der Leserunde zu "Nussschale".

Nicht zu vergessen sind jedoch diejenigen, die dieses Forum am Leben halten, wie Helmut Pöll, den Adminstrator, und die vielen Blogger/innen, die ihre Leidenschaft fürs Lesen leben. Mit einigen von ihnen tausche ich mich regelmäßig aus, lese und teile ihr Blogs und folge ihren Bewertungen:

Renie´s Lesetagebuch, die mich erst zu whatchareadin geführt hat und mit der ich meine Vorliebe für den Louisoder-Verlag teile.

Annes Lesetagebuch, die meinen Fokus wieder stärker auf die Bücher gegen das Vergessen gelenkt hat.

Anne Parden, die Kriminalromane und Jugendromane gerne liest und deren Rezensionen mich schon sehr oft inspiriert haben, den entsprechenden Roman zu lesen.

Inas Bücherkiste, deren Rezensionen ein Lesegenuss sind.

Eine besondere Freundschaft hat sich mit Mira ergeben, mit der ich seit August auch gemeinsam lese, Lesen mit Mira, und die ich dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse getroffen habe. So war dieses Ereignis in zweierlei Hinsicht ein Highlight in meinem Lesejahr.


Lesevorlieben
Im letzten Lesejahr hat sich herauskristallisiert, dass ich meine Liebe für die Gegenwartsliteratur wieder gefunden habe - seit dem Studium habe dieses Genre berufsbedingt sträflich vernachlässigt. Inzwischen machen aber Romane aus diesem Bereich einen Großteil dessen aus, was ich lese, daneben bleibe ich den Krimis treu und habe ein Faible für Romane entwickelt, die eine Familiengeschichte über mehrere Generationen erzählen und dabei einen Einblick in die politische Geschichte gewähren - dazu gehören auch die Romane gegen das Vergessen, die ich besonders in unserer Zeit wieder und immer noch wichtig finde.
Da ich selbst zwei Kinder habe, bleibe ich der Kinder- und Jugendliteratur verbunden, etwas vernachlässigt habe ich dieses Jahr die Fantasyliteratur, aber der Tag hat eben nur 24 Stunden und leider verdiene ich mit dem Lesen kein Geld.
Seit gut einem Jahr habe ich auch ein Abo bei Audible, eine gute Gelegenheit unliebsame Tätigkeiten mit Literatur zu versüßen, so dass ich neben dem Lesen immer auch ein Buch höre - und manchmal gewinnt ein Roman auch durch die guten Vorleser/innen.



Lieblingsbücher 2016


Gegenwartsliteratur

Da ich aus diesem Genre so viele Bücher gelesen habe, fällt es mir wirklich schwer meine Favoriten zu benennen. Doch drei sehr unterschiedliche möchte ich besonders hervorheben.

1. Das Ende der Einsamkeit von Benedict Wells

Jules hatte einen Motarradunfall und liegt im Krankenhaus. In Rückblicken erfahren wir schrittweise sein bisheriges Leben. Seine Eltern sind früh verunglückt, so dass er mit seinen unterschiedlichen Geschwistern- Marty und Liz- als Jüngster zurückbleibt. Dieser Verlust prägt ihn. Während Marty ein erfolgreicher Geschäftsmann wird, verfällt Liz den Drogen und Jules findet keinen Weg ins Leben, bis er wieder auf seine große Liebe Alva trifft.
Eine Familien - und Liebesgeschichte, gefühlvoll ohne kitschig zu sein, die berührt und lange nachhallt.

2. "Widerfahrnis" von Bodo Kirchhoff
- Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016
Dem alternden Verleger Reither widerfährt eine unerwartete Reise mit Leonie Palm, die in der gleichen Wohnanlage für Senioren lebt wie er. Gemeinsam unternehmen sie eine Fahrt bis nach Sizilien und reisen letztlich in ihre eigene Vergangenheit.
Der Plot ist handlungsarm, trotzdem berichtenswert, aber die besondere Sprache Kirchhoffs, der das eigene Erzählen ironisch kommentiert, machen das Besondere dieser Novelle aus.

3. "Hool" von Philipp Winkler
Heiko ist ein Hooligan aus Hannover und im Roman erhält man als Leser/in einen Einblick in seine Welt. Da aus der Ich-Perspektive erzählt wird, ist man inmitten der Schlägerei, der unglücklichen Familienkonstellation, der Ausweglosigkeit und der Tragödien in Heikos Leben.
Trotz der ungefilterten Sprache mit Fäkal- und Kraftausdrücken besticht der Roman dadurch, dass er nachfragt, wie Heiko in diese Situation geraten ist, indem seine Vergangenheit schrittweise aufgedeckt wird.



Romane aus anderen Kulturkreisen

Eine überflüssige Frau von Rabih Alameddine
Ob sie eine überflüsslige Frau sei, diese Frage stellt sich die 72-jährige Aaliya Saleh, die allein in Beirut lebt. Im Roman reflektiert sie über ihr Leben - die Schwierigkeiten mit ihrer Familie, ihre misslungene Ehe, ihre Einsamkeit. Sie arbeitet in einer Buchhandlung und übersetzt jedes Jahr ein literarisches Werk, ohne dieses zu veröffentlichen - aus Liebe zur Literatur.
Ein großartiger Roman - eine psychologische Studie, ein Buch über Bücher, ein Einblick in das Leben im Libanon.

Zeitgeschichtliche Romane

Ab heute heiße ich Margo von Cora Stephan

Der Roman erzählt die Geschichte Deutschlands beginnend mit der NS-Zeit über die Wiedervereinigung hinaus am Beispiel zweier unterschiedlicher Frauen: Margo und Helene, die jedoch zeitlebens (ungewollt) verbunden sind.
Während Margo nach dem Krieg im Westen eine erfolgreiche Geschäftsfrau wird, tritt Helene in den Dienst der DDR, bis diese untergeht.
Der Roman erzählt sehr feinfühlig das Leben dieser beiden Frauen, von Margos Naivität während der Nazi-Zeit, von Helenes Erfahrungen in Ravensbrück, von den Wunden, die beide aus dem Krieg tragen und wie sie den Rest ihres Lebens damit umgehen.
Zeitgeschichte, die man miterleben darf, spannend und unterhaltsam präsentiert.

Kriminalromane

Die Nacht mit Nancy von Wilson Collison

Ein Landhaus, ein älteres Gastgeberpaar, zwei Ehepaare, eine alleinstehende Frau - Nancy- und ein Anwalt und ein Verbrechen?
Die junge, hübsche Nancy schreit des Nachts in ihrem Zimmer auf, als die Gastgeberin zu ihr eilt, findet sie dort die beiden Ehemänner und den Anwalt - ein Skandal in den 30er Jahren an der Ostküste der USA.
Akribisch rekonstruiert der Anwalt Jimmie Landon die Geschehnisse der Nacht und deckt dabei viele Geheimnisse auf, die nicht ans Licht hätten kommen sollen.
Eine ironisch erzählte Kriminalgeschichte, die mir beim Lesen viel Spaß gemacht hat und mit einer echten Überraschung am Ende aufwartet.

Fantasyromane und Lesen mit Mira

Der Zauberer von Oz von Frank L.Baum

Ein zauberhaftes Märchen über ein kleines Mädchen, das mit einem Sturm ins geheimnisvolle Land Oz getragen wird, dort treue Freunde findet und das Geheimnis des Zauberers von Oz aufdeckt.
Ein fantastisches Abenteuer, das Mira und mir sehr gut gefallen hat.

Dystopie

Mirror von Karl Osberg

Mirror ist ein Gerät, eine Art Smartphone, das dich begleitet. Der MirrorBrain, das Hauptelement, ist mit einem Clip im Ohr verbunden, der zuhören und auch sprechen kann. Eine Kamera umfasst dein Umfeld, ein Armband misst deine Körperfunktionen, auf dem Bildschirm der "Brille", erscheint dein eigenes Gesicht. Der Mirror sammelt Daten über dich und ist vernetzt im MirrorNet.
Entworfen, um dir das Leben angenehm zu machen, dir Ratschläge zu geben, dich zu begleiten, entwickelt sich die Technik schnell zu einem Alptraum, wie der Protagonist Andy feststellen muss.
Eine erschreckend realistische Dystopie, die sehr nachdenklich macht.

Romane gegen das Vergessen

Manja von Anja Gmeyner

Der Roman erzählt von fünf Kindern aus unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft und spielt zu Beginn der Nazi-Herrschaft in Berlin. Vier Jungen - Heini Heidemann, ein sensibler Arztsohn, Harry Hartung, ein zarter Junge, dessen Vater ein erfolgreicher jüdischer Bankier ist, Karl Müller, Sohn eines Kommunisten, und Franz Meißner, dessen Vater ein Nazi ist - freunden sich mit dem jüdischen Mädchen Manja an. Sie ist es, die alle zusammenhält, und in ihrem gemeinsamen Spiel an einem geheimen Treffpunkt gehen die Kinder vollständig auf. Doch die politischen Verhältnisse zerstören ihre Idylle und ihre Freundschaft wird auf eine harte Probe gestellt.
Ein sensibler Roman über eine außergewöhnliche Freundschaft in schrecklichen Zeiten.


Zum Schluss noch Statistik
Gelesene Bücher 2016: 85 Bücher






Sonntag, 25. Dezember 2016

Eugen Ruge: Follower

- Vierzehn Sätze über einen fiktiven Enkel.

Gebundene Ausgabe, 320 Seiten
Rowohlt Verlag, 26. August 2016


Vielen Dank an den Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
Gelesen habe ich diesen Roman gemeinsam mit Mira und Anne, die jedoch abgebrochen hat. Mira hat fast bis zum Schluss durchgehalten.

Fünf Jahre nach seinem Erfolg "In Zeiten des abnehmenden Lichts", das die Geschichte der Familie Umnitzer parallel zum Untergang der DDR erzählt, hat Eugen Ruge nun einen Roman vorgelegt, der in der Zukunft spielt - im September 2055.
In 14 Kapiteln, die jeweils nur aus einem langen Satz bestehen, erzählt Ruge aus der personalen Perspektive Nio Schulz von dessem Verschwinden in einer medial überwachten Welt, was die Leser/innen mittels Ermittlungsprotokollen erfahren.

Nio ist der Enkel Alexander Umnitzers, der im Mittelpunkt des vorherigen Romans steht und der im Verlauf dieses Romans als bekannter Schriftsteller stirbt, wobei er sich dieser neuen vernetzten, kommerzialisierten Welt verweigert - ähnlich wie sein Vater Kurt den veränderten politischen Verhältnissen im wiedervereinigten Deutschland kritisch gegenübergestanden hat.

Inhalt

Nio Schulz weilt in HTUA-China, das wie der Rest der Welt in kommerzielle Sektoren eingeteilt ist, um die neueste Geschäftsidee seines Konzern anzupreisen: true barefoot running. Er wacht in seinem Hotelzimmer auf und stellt sich die Frage, ob er sich tatsächlich in der Realität befinde,

"besonders die unfarbenen Gardinen kamen Schulz auf einmal unecht vor, als gäbe es gar kein Fenster dahinter, schlimmer noch: als wären sie in Wirklichkeit gar nicht zu öffnen, Nachbildungen aus einem unbeweglichen Material, und dieser Eindruck wurde ihm so unangenehm, dass er das Licht gleich wieder ausschaltete, (...)" (S.8)

Nio greift nach seiner Glass, eine Art Brille, die das Smartphone ersetzt und vielfältige Informationen liefert: Gesundheitsdaten, Posts, Nachrichten, Anrufe, Informationen zur Umgebung.
Sie muss über den persönlichen Fingerprint aktiviert werden. Als die Aktivierung misslingt, spielt sich in Nios Kopf

"das komplette Horrorszenario der Totalsperrung seines Accounts ab(...), und dabei ging es nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie um die konkreten Konsequenzen, (...) sondern um den Account selbst, um alles was verlorenginge, und das waren nicht nur ein paar tausend E-Mails und Fotos und Seminarmitschnitte, nicht nur sein Kalender und seine Kontakte sondern es war ein hochkomplexes und persönliches System, alle Apps und Settings, vom Begrüßungsjingle bis zur Nachrichtenübersicht, alle Playlists, Profile, Filter, Favoriten, seine Links zu Lieblingsseiten oder zu Lieblingsclips oder zu Lieblingsirgendwas (...) (S.39)

Die Glass entspricht seiner Identität - ohne diese hat er keine Ich. Nio selbst fällt auf, dass er, wenn er an vergangene Ereignisse wie einen Schulausflug oder einen Urlaub denkt, sich nur an die Fotos erinnern kann, aber nicht mehr an das Erlebte selbst.
Erinnert er sich jedoch an die Zeit, die er aus seiner offiziellen Biographie gelöscht hat - er hat eine Zeitlang die Band "Anderdok" gehört, die angeblich "Hate-Texte" produzierten, kann er sich plötzlich wieder an die Liedtexte erinnern:

"Ich bin jemand, der ich nicht bin
ich gehe, aber ich weiß nicht, wohin,
ich fühle, aber ich weiß nicht, was
ich will lieber tot sein als DAS" (S.45)

Nach dieser Vorausdeutung erfahren die Leser/innen, dass nach Nio gefahndet wird, da er verschwunden ist- Ruge streut "offizielle" Dokumente und Persönlichkeitsprofile von Nio und seinen sozialen Kontakten ein. Diese ermitteln aufgrund vielfältiger gesammelter Daten, wie Mobilität und Vernetzung einen Personen-Typus. Die totale Überwachung - selbst die Teile seiner Biographie, die Nio glaubt, gelöscht zu haben, sind den Behörden bekannt.

Auch die aktuelle Flüchtlingskrise findet Einzug in den Roman, denn die europäischen Grünen stimmen der Erweiterung des Transit-Schutzwalls zu, worüber Schulz erleichtert ist,

"denn seit irgendwelche Restwelt-Migranten, pardon, exzonale Asylbegehrende begonnen hatten, den Wall mit schwerem militärischem Gerät zu durchbrechen, war auch er insgeheim für die sogenannte technische Erweiterung gewesen" (S.55).

Nio selbst scheint in einer Krise zu sein. Seine Chefin hält ihn für "negertief", so spricht sie "negativ" aus und hat offenkundig ein Verhältnis mit seinem Geschäftspartner "Jeff", der über jenen Killerinstinkt und das positive Denken verfügt, das Nio abgeht, der von ständigen Zweifeln geplagt wird. Er ist einer Selbsthilfegruppe für besonders maskulin denkende Männer, denn die Welt wird beherrscht von politischer Korrektheit - political correct, "kurz p.c. oder, wie es in Schulz´ Kopf klang: pisi" (S.28).
So gibt es er/sie/trans und getrennte Fahrstühle für Männer und Frauen, statt zu sagen, sie habe ein "Sinti-und-Roma-Nase" müsste es eigentlich heißen "Nase der Sinti, der Roma, der Jenischen oder anderer ursprünglich zur Daueremigration gezwungenen Bevölkerungsgruppen Europas" (S.81).

Seine "Freundin" Sabena arbeitet für eine Dessous-Firma und sitzt in Minneapolis am Flughafen fest. Sie kann sich vorstellen - nach einem entsprechenden Gentest - mit Nio ein Kind zu bekommen, dass sie selbst austrägt, in einer Welt der Leihmütter und Männern, die Kinder gebären, eine neuer Trend. Eine Situation, die Nio offenkundig überfordert.

Es ist eine "schöne" , neue, aber gar nicht so unrealistisch erscheinende Welt, die Ruge vor uns ausbreitet und es gelingt ihm sehr überzeugend einen Eindruck zu vermitteln, wie sich ein Mensch unter der mulitmedialen Dauerberieselung fühlen muss:

"jetzt klingelt ihm eine Werbung für rezeptfreie Male-Power-Pillen in den Ohren, wieso wird das nicht als Spam identifiziert, fragt sich Schulz, @g-24 meldet, dass die Präsidentin der Weltbank Maxi Merkel-Shapiro jetzt wieder Max heißt, und @Fem Fatal sendet eine ihrer typischen Botschaften an @dpa Aboriginies = Ureinwohner = rassistisch, intoniert der Sprachassistent ein bisschen zu heiter, vergeblich um eine Satzmelodie bemüht, während Schul den riesigen Bildschirm betrachtet, der offenbar zu einem SB-Restaurant namens McBaker gehört (...) (S.158)

Sehr interessant ist das Genesis-Kapitel, in dem Ruge den Weg von der Entstehung des Universums bis hin zu Nio Schulz- mit detaillierten Angaben zu seinen Vorfahren, u.a. zu seinem Urgroßvater Kurt - schildert. In Kurzfassung, aber mit naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Fakten, die untermauern sollen, wie erstaunlich es ist, dass Nio überhaupt existiert.

Schulz versucht sich zunächst unbewusst dieser Welt zu entziehen, indem er einem für ihn erkennbaren Weg folgt (Follower), das 13.Kapitel gleicht einem apokalyptischen Szenario, wobei offen bleibt, ob das alles eben nicht nur ein (Alp-)Traum ist - ist Schulz nur ein fiktiver Enkel, wie es im Untertitel heißt - oder ob es ihm gelingen wird, in dieser total vernetzten, überwachten Welt einen eigenen Weg zu finden.

Bewertung
Der Roman ist eine echte Herausforderung beim Lesen, da man der Informationsflut, mit der Schulz konfrontiert wird, ausgeliefert ist. Hinzu kommen der innere Monolog Nios mit seinen teilweise sehr negativen Gedanken und Selbstzweifeln und die Tatsache, dass jedes Kapitel (mehrere Seiten) tatsächlich nur aus einem Satz besteht. Die Persönlichkeitsprotokolle sind mit Tabellen und Grafiken versehen, was den Lesefluss zusätzlich behindert.
Gleichzeitig vermittelt die Sprache diese neue Welt perfekt und offenbart Ruges genaue Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit exakt zu beschreiben - schließlich ist er diplomierter Mathematiker.
Die Handlung ist bis auf die Protokolle und das Genesis-Kapitel vollständig auf Nio konzentriert, so dass zwischenmenschliche Interaktionen eher dürftig sind, wir ganz in die Gedankenwelt Nios und seiner "Glass" eintauchen - was auch teilweise eine Herausforderung ist.
Andererseits scheint er teilweise aus dieser Zeit zu fallen, so trainiert er seinen Körper, statt Muskelimplantate zu verwenden. Er hat noch etwas Echtes. Sonst könnte er die Realität dieser Welt auch nicht anzweifeln. Aber ist er eine innerhalb des Romans reale Figur?
Interessanterweise erfährt Nio im Zusammenhang mit der Meldung über den Tod seines Großvaters, dass dieser einen Roman mit dem Titel "Follower" geschrieben habe. Und heißt es nicht im Untertitel - fiktiver Enkel? Der Roman - nur ein Gedankenspiel Alexander Umnitzers, seine Dystopie?

Für die dargestellte Welt spielt das jedoch keine Rolle - Ruge führt uns eine Realität vor Augen, wie sie in naher Zukunft möglich ist. Eine von Firmen beherrschte Welt, mit zerstörter Umwelt, so dass Klimabomben über dem entvölkerten Australien gezündet werden müssen. Einer Vernetzung und Informationsflut, die uns keinen Raum mehr lässt, zur Ruhe zu kommen. Selbst der Schlaf wird medikamentös eingeleitet, keine Natur nirgends. Ganz am Ende erinnert sich Nio an die vergangene Idylle zurück:

"er kann schlafen, schlafen,
Ferien,
die Tauben schweigen,
unten in der Küche klappert jemand mit dem Geschirr,
jetzt riecht es nach frisch gemähtem Gras,
und wenn man ganz still ist, 
wenn man die Luft anhält
dann hört man das leise Zing-Zing von Großvaters Sense." (S.320)

Ein Roman, der herausfordert, aber nachdenklich stimmt und eine mögliche Zukunft aufzeigt.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Tana French: Geheimer Ort

- ein spannender, psychologischer Krimi aus Irland.

Taschenbuch, 704 Seiten
Fischer Verlag, 29. Oktober 2015

Inhalt
Stephen Moran, der auch schon im 3.Fall der Dublin-Krimis ermittelt hat, ist inzwischen bei den ungelösten Fällen gelandet. Weil er damals selbst die Festnahme durchgeführt hat, statt das dem Morddezernat zu überlassen, hat sich dessen Tür für ihn verschlossen. Doch nun erhält er unerwartet die Chance, sie wieder zu öffnen.
Holly Mackey, die er im damaligen Fall als 11jährige Zeugin vernommen hat, Tochter des Undercover-Ermittlers Frank Mackey, besucht ihn, um ihm ein Bild zu geben, das an ihrer Schule am sogenannten Geheimnisort aufgehangen worden ist. Ein schwarzes Brett, an das die Mädchen des renommierten Mädcheninternats St.Kilda anonym ihre Geheimnisse heften können.
Das Bild zeigt den 16jährigen Chris Harper, der im Jahr zuvor im Park erschlagen wurde, darauf mit ausgeschnittenen Buchstaben: ICH WEISS, WER IHN GETÖTET HAT.
Trotz intensiver Ermittlungen ist es den Detectives im Morddezernat, Thomas Costello, inzwischen pensioniert, und Antoinette Conway nicht gelungen, den Fall aufzuklären. Ein Mauer aus Schweigen schlug ihnen entgegen.

Stephen gelingt es, dass Conway ihn zur Wiederaufnahme der Ermittlungen mit ans Internat nimmt und es scheint so, dass nur eine von acht Mädchen das Bild hätte aufhängen können.
Die erste Gruppe besteht aus dem Alpha-Weibchen Joanne, der hübschen Gemma, der verängstigten Alison und der dümmlich wirkenden Orla.
Zu der zweiten Vierergruppe gehören Holly selbst sowie ihre einstmals schüchterne Freundin Becca, die draufgängerische Julia und die sympathische, etwas abwesend wirkende Selena. Die vier Mädchen teilen sich jeweils ein Zimmer und sind beste Freundinnen.
Stephen versucht im Verhör jedem Mädchen gerecht zu werden, eine psychologische Studie der verschiedenen Typen - spannend und sehr unterhaltsam. Er macht seine Sache gut und beeindruckt Conway. Doch es fällt beiden auf, dass die Gruppe um Holly  ein Geheimnis umgibt, nach Aussage der anderen sind sie durchgeknallt. Doch ihr Verhalten hat eine andere Ursache, die hier nicht verraten werden soll.

Abwechselnd werden die Ermittlungen aus der Ich-Perspektive Stephens erzählt und aus der Sie-Perspektive die Erlebnisse der 4-er Gruppe um Holly, beginnend acht Monate vor dem Mord an Chris, der angeblich mit Selena verabredet war. Zu Beginn jedes Kapitels, das aus dem Leben der Mädchen erzählt, steht die Information, wie lange Chris noch zu leben hat, das erzeugt eine zusätzlich Dynamik und Spannung.So ergeben beide Handlungsstränge ein immer differenziertes Bild, wie es zu dem Mord gekommen ist.
Der Handlungsstrang der Ermittlung umfasst nur einen Tag im Internat und ist geprägt von den Mutmaßungen des Duos, das allmählich zu einem Team zusammenwächst. Immer wieder werden die einzelnen Mädchen verhört und es stellt sich heraus, dass einige von ihnen in einem engeren Verhältnis zu Chris gestanden haben, als sie bei den Ermittlungen vor einem Jahr zugegeben haben. Warum haben sie geschwiegen? Was ist in der Nacht wirklich geschehen? Der Kreis der Verdächtigen schrumpft immer weiter und mit Einbruch der Nacht gelingt es den Ermittlern den Fall zu lösen.

Bewertung
Tana French ist für mich eine Meisterin der Spannung, dabei geschieht überhaupt nicht viel. Im Mittelpunkt stehen die Gespräche mit den Zeugen und möglichen Verdächtigen, die Mutmaßungen der beiden Detectives, wobei wir auch Anteil an den Gedanken Stephen Morans haben und an seinem Bestreben unbedingt Teil der Morddezernates zu werden - also seinen Job im Internat gut zu machen. Dabei versucht er für sich einen Weg zu finden, seiner Partnerin gleichzeitig zu imponieren, gute Arbeit zu leisten, ihr gleichzeitig aber zu signalisieren, dass er gerne mit ihr zusammen arbeiten will, obwohl sie zunächst sehr unzugänglich scheint.
French hat eine Vorliebe für die Lebenssituation junger Heranwachsender, ihre Gedanken und Gefühle, ihre Sorgen und vor allem die erste Liebe und die Freundschaft, die eine ganz besondere Rolle in diesem Krimi spielt. Wie weit würde ich gehen, um meine Freundinnen zu beschützen? Wie wichtig ist unsere Freundschaft? Um diese Fragen kreist der Roman und er endet daher auch nicht mit der Verhaftung, sondern erzählt aus der Sicht der Mädchen auch von der Zeit nach Chris Tod bis zu Hollys Gang zum Polizeipräsidium.
Schon in den Vorgängerromanen, vor allem im 2.Fall beweist Tana French meisterhaft, dass sie sich in die Lage dieser jungen Mädchen und Jungen herein versetzen kann. Wenn Stephen die Gefühle während der ersten großen Liebe rekapituliert, die diese Mädchen umgibt, möchte man am liebsten sagen, genau so war es. So ist dieser Krimi auch eine psychologische Studie, die Motive für die Handlung stehen im Vordergrund - Aktion gibt es kaum, aber man vermisst sie auch nicht. Ein bemerkenswerter Roman, den ich unbedingt weiterempfehlen kann.


Montag, 19. Dezember 2016

Jane Gardam: Eine treue Frau

"Du darfst mich nicht verlassen."

Hörbuch
gelesen von Eva Mattes
7 Std. 1 Min.



Der zweite Teil der Edward Feathers Reihe, nach "Ein untadeliger Mann", den man nicht zwingend vorher gehört bzw. gelesen haben muss.

Inhalt
Stehen im ersten Teil vor allem Edward Feathers, genannt Old Filth, und die schrittweise Annäherung an seine Kindheit und das schreckliche Geheimnis in Wales im Mittelpunkt, ist es dieses Mal seine Frau Elisabeth (Betty).

Ausführlich wird geschildert, wie Edward die unkonventionelle Betty, die selbst in Fernost aufgewachsen ist und in einem Lager der Japaner war, in dem ihre Eltern gestorben sind, bittet, seine Frau zu werden. Zunächst schreibt er ihr, da ist er auf dem Weg von England nach Hong Kong, wo sie sich gemeinsam mit Isabelle Ingoldby, einer Schulfreundin, aufhält. Isabelle erzählt Betty von dem amourösen Abenteuer mit Edward, der erst nach Bettys Tod erfahren wird, dass sich die beiden kannten.
Als die beiden zusammentreffen, besteht Betty darauf, dass er ihr auch mündlich einen Heiratsantrag macht. Edward tut dies in seiner untadeligen Art auf einer Yacht (ein Empfang, auf dem er eingeladen ist) - ohne Leidenschaft und mit der ihm eigenen Sachlichkeit. Verknüpft an seine Frage ist das Versprechen, ihn niemals zu verlassen. Sein ganzes Leben sei bisher von Verlusten geprägt und er könne es nicht ertragen, noch einmal verlassen zu werden.
Betty willigt ein, seine Frau zu werden und lernt unmittelbar darauf Edwards beruflichen Rivalen Terry Veneering kennen. Eine Stunde zu spät, wie sie lakonisch feststellt.
Veneering ist mit einer Chinesin verheiratet und hat einen kleinen Sohn, Harry, mit dem sich Betty anfreundet. Als sie am nächsten Morgen erfährt, dass Harrys Flugzeug, das ihn nach England ins Internat zurückbringen sollte, abgestürzt ist, eilt sie panisch, fast schon hysterisch zu Veneerings Hotel, wo sie glücklicherweise erfährt, dass Harry das Flugzeug verpasst hat.
Da Edward sich  nicht meldet, nimmt sie Veneerings Einladung an und verbringt mit ihm eine unvergessliche Nacht. Erst ganz am Ende erfährt man, wo Feathers in dieser Zeit gesteckt hat.
Lange überlegt sie, ob sie Edwards Heiratsantrag nicht doch noch ablehnen soll, vor allem nachdem Albert Ross, Edwards bester Freund, ihr eröffnet, dass er von ihrem Abenteuer weiß.
Sie verbringt einige Zeit bei ihrer Schulfreundin Amy, die Missionarin geworden ist, und entschließt sich letztlich doch, Edward zu ehelichen.
Sie unternehmen eine lange Hochzeitsreise - quer durch Asien bis nach Europa und Betty ist sich sicher, dass es die richtige Entscheidung gewesen ist. Erzählt wird ihre ersten Zeit in London, in einer winzigen Wohnung und wie Betty allmählich das Zepter der Familie in die Hand nimmt.
Nach einer Fehlgeburt stellt sich heraus, dass sie Krebs hat und in London die Gebärmutter entfernt bekommen muss. Gleichzeitig wird auch Harry dort operiert, er hat ein Tumor ein Bein. Betty kümmert sich um ihn und trifft erneut mit Veneering zusammen, der ihr jene Perlen daraufhin schenkt, die sie im ersten Teil schon ihre Schandperlen nennt und die im Tulpenbeet vergraben werden. Es klärt sich in diesem 2.Teil auf, ob Edward jemals den Unterschied der beiden Perlenketten bemerkt hat.
Die Zeit nach der Operation verbringt Betty lange allein in jenem Haus in Dorset, das sie später mit Edward kaufen wird. Ein Wendepunkt in ihrem Leben. Dort findet er sie und dieses Ereignis ist es auch, auf das er ganz am Ende des Romans wieder zurückblickt.
Die Zeit in Hong Kong wird in wenigen Episoden erzählt, statt dessen werden die Ereignisse in Dorset, wie sie auch im ersten Teil geschildert werden, nun aus Bettys Sicht erzählt. Der Anruf Veneerings, dass Harry gestorben ist, die gemeinsame Fahrt nach London mit Edward...
Das wirft auf einige Ereignisse ein neues Licht. Sehr bewegend ist ihre Todesszene.

Das witzige Zusammentreffen zwischen Feathers und Veneering wird dieses Mal aus der Sicht Terrys erzählt, was es nicht weniger komisch macht und den untadeligen Mann in einem etwas anderen Licht erscheinen lässt.

Bewertung
Der Roman ist ebenso überzeugend wie der erste. Besonders interessant ist, dass einige Ereignisse noch einmal erzählt werden, allerdings aus einer anderen Perspektive. Dadurch erhalten sie eine neue Bedeutung und als Hörer/in erschließt sich manches aus dem ersten Teil, was offen geblieben ist. Standen im ersten Roman eher die Traumatisierung der Raj-Waisen und Feathers Kindheit im Mittelpunkt, so sind es jetzt die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Ehe und das Dreieck: Edward, Betty und Terry.
Die Entscheidung für Edward und immer wieder die Frage, ob sie ihn nicht doch verlassen soll, bestimmt Bettys Leben. Hat sie das Leben geführt, das sie wollte? War sie am Ende nicht nur ein Kopie einer Oberschicht-Lady? So wie sie an ihrer Hochzeit ihre Mutter kopiert hat? Hat sie ihren Traum gelebt?
Vielleicht liefert der letzte Roman weitere Antworten. Dass die vorsichtige Annäherung und Aussprache zwischen den beiden alten Rivalen am Ende steht, verweist wahrscheinlich schon auf den nächsten Band, "Letzte Freunde".
Definitiv mein nächstes Hörbuch!


Freitag, 16. Dezember 2016

Patrick Süskind: Die Taube

- eine psychologische Erzählung.

Taschenbuch, 100 Seiten
Diogenes Verlag, erschienen 1987

Vielen Dank an meine Lesefreundin Mira, die mir diese Erzählung geschenkt hat.

Inhalt

"Als ihm die Sache mit der Taube widerfuhr, die seine Existenz von einem Tag zum andern aus den Angeln hob, war Jonathan Noel schon über fünfzig Jahre alt, blickte auf eine wohl zwanzigjährige Zeitspanne von vollkommener Ereignislosigkeit zurück und hätte niemals mehr damit gerechnet, daß ihm überhaupt noch irgend etwas anderes Welsentliches würde widerfahren können als dereinst der Tod." (S.5)

Mit nur wenigen Sätzen umreißt der Erzähler das tragische Leben des Protagonisten, dessen Eltern als Juden im 2.Weltkrieg aus Frankreich deportiert wurden, so dass Jonathan gemeinsam mit seiner Schwester im Süden auf dem Bauernhof seines Onkels aufwächst. Anfang der 50er Jahre schickt ihn dieser zum Militärdienst, er wird nach Indochina verschifft und dort verletzt. Als er zurückkehrt, ist seine Schwester nach Kanada ausgewandert.
Er soll verheiratet werden, doch seine zukünftige Frau verlässt ihn vor der Hochzeit, da ist sie von einem anderen schwanger.
Diese tragischen Ereignisse werden in sachlichem Ton kurz und knapp zusammengefasst und gipfeln in Jonathans Erkenntnis:
"daß auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt." (S.8)

So trifft er seine erste eigene Entscheidung und zieht nach Paris. Dort mietet er sich eine winzige Mansarde, in der er heimisch wird und tritt eine Stelle als Wachmann einer Bank an. Täglich öffnet er dem Direktor der Bank das Tor, salutiert, während der Wagen vorüber fährt und verabschiedet ihn. In fünf Monaten kann er von seinem Ersparten endlich seine winzige Wohnung sein Eigentum nennen, alles verläuft nach seinem fatalistischen Plan - bis eines Tages jene Taube im engen Gang für seiner Tür sitzt:
"Sie hatte den Kopf zur Seite gelegt und glotzte Jonathan mit ihrem linken Auge an. Dieses Auge, eine kleine, kreisrunde Scheibe, braun mit schwarzem Mittelpunkt, war fürchterlich anzusehen. Es saß wie ein aufgenähter Knopf am Kopfgefieder, wimpernlos, brauenlos, ganz nackt, ganz schamlos nach außen gewendet und ungeheuer offen; zugleich aber war da etwas zurückhaltend Verschlagenes in dem Auge" (S.15)

Die Taube und ihr Blick - ein Symbol für all das, was Jonathan sein Leben lang verdrängen will? Ein Blick in sein Inneres, auf das Verlassensein, seine tiefe Einsamkeit? Sie blickt ihn schamlos an, sieht ihn - erkennt ihn und sein Leben.
Fast traut er sich nicht mehr hinaus, ist nicht in der Lage sich seinem Leben zu stellen. Meisterhaft beschreibt Süskind in zeitdehnendem Erzählen und der ihm so eigenen Beobachtungsgabe, die alle Sinne umfasst, wie Jonathan sich durch seinen Tag quält. Wie plötzlich alle Selbstverständlichkeiten durcheinander geraten, wie das endlose Stehen vor der Bank, das gleichzeitig sein Leben widerspiegelt. Stillstand, keine Veränderung, Kontrolle und Disziplin gegen die Unwägbarkeiten des Lebens; der immer gleiche Tagesablauf als Schutz vor Verletzungen und dem erneuten Verlassen werden.
Doch die Taube hat seine Welt auf den Kopf gestellt:

"Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken, so daß sie die Säule berührten. Dann ließ er sich sachte zurückfallen, gegen die eigenen Hände und gegen die Säule, und lehnte sich an, zum ersten Mal in seiner dreißigjährigen Dienstzeit. Für ein paar Sekunden schloß er die Augen. So sehr schämte er sich." (S.51)

Seine Panik geht so weit, dass er in einem Hotel übernachtet, bis ein reinigendes Gewitter, das großartig beschrieben ist, ihn rettet.

Bewertung
Auf der Rückseite des Buches ist eine Rezension des Rheinischen Merkurs abgedruckt:

"Ein rares Meisterstück zeitgenössischer Prosa, eine dicht gesponnene, psychologisch raffiniert umgesetzte Erzählung."

Treffender lässt sich die Erzählung nicht bewerten. Meisterstück für mich vor allem wegen der genauen Beschreibung der inneren und äußeren Vorgänge Jonathans. Sein körperliches Unwohlsein, seine Ängste beim Anblick der Taube, seine Unsicherheit, das ist als Leser/in unmittelbar erfahrbar. Alle Sinne werden angesprochen, das ist Süskind, so wie ich ihn auch aus dem Roman "Das Parfüm" kenne.
Der Schutzpanzer, den sich der Protagonist über Jahre aufgebaut hat, wird seziert und am Ende erfolgreich aufgebrochen.

Eine kurze Erzählung, die nachdenklich stimmt und beim Lesen viel Freude schenkt.

Mittwoch, 14. Dezember 2016

Angelika Felenda: Der eiserne Sommer

- ein historischer Kriminalroman.


Taschenbuch, 435 Seiten
Erschienen im Suhrkamp Verlag am 12. September 2016


Vielen Dank an den Suhrkamp-Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.



Inhalt
Der Roman spielt in München, am Vorabend des 1.Weltkrieges. Während in Sarajewo das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie verübt wird, geschieht am Isarufer ein Mord.
Die Ermittlungen leitet der junge Kommissär Sebastian Reitmeyer, der ursprünglich Jura studiert hat, aufgrund des Todes seiner Eltern jedoch gezwungen war einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Er lebt bei seiner Tante und radelt immer zum Dienst.
Während seiner Ermittlungen stößt er auf seinen Jugendfreunde Sepp Leitner, Anwalt und politisch links aktiv, der ihn spontan zu einer Soiree im Haus von Dohmbergs einlädt.

"Zu den Dohmbergs? Nein. Auf gar keinen Fall! Er zog die Schultern hoch und ließ sie schwer ausatmend wieder sinken. Das Kapitel war für ihn abgeschlossen. Früher einmal, als Gymnasiast und als Student der Jurisprudenz, war er in solchen Häusern ein und aus gegangen. So auch bei Ludwig von Dohmberg, einem hohen Tier im Justizministerium und mit einer englischen Adligen verheiratet. Damals war er mit den beiden älteren Kindern befreundet gewesen, mit Lukas, mit dem er gemeinsam Geigenunterricht hatte, und seiner Schwester Caroline (...)" (S.49)

Letztere trifft er in der Gerichtsmedizin, sie ist es, die ihm mitteilt, der junge Mann vom Isarufer sei einer seltsamen Stichverletzung - Medulla-Stiche genannt, zum Opfer gefallen. Eine Verletzung, die an der Halsschlagader zu sehen ist und nur von Kundigen ausgeführt werden kann.
Das Opfer Hubert Neugebauer hat offensichtlich hochrangige Offiziere und den bekannten Kunstmaler von Rager erpresst - mit brisantem Fotomaterial, auf dem homoerotische Akte zu sehen sind. Am liebsten würde das Polizeipräsidium den Fall verschwinden lassen, doch Reitmeyer und vor allem sein junger, recht eigenwilliger Polizeischüler Rattler lassen sich nicht ohne Weiteres von den Ermittlungen abhalten. (Rattlers visionäre Ansichten über zukünftige Polizeiarbeit treffen dabei meist ins Schwarze.)

Auch der zweite Tote, ein Masseur aus dem noblen Hotel Regina, das für entsprechende Zusammenkünfte bekannt ist, scheint in eine Erpressergeschichte verwoben zu sein.

Carolines und Lukas jüngerer Bruder Franz, der bei der Leibgarde dient, hat zumindest das erste Opfer gekannt und dem 2. Opfer Zahlungen geleistet. Somit gehört er zum Kreis der Verdächtigen...

Neben der Ermittlungsarbeit Reitmeyers erhält der Leser Einblick in die Tagebuchaufzeichnungen eines Offiziers. Anscheinend hat das Kriegsministerium ihn angeheuert:

"Offensichtlich ist das Treiben gewisser Offiziere der militärischen Führung nicht verborgen geblieben. Da ich das Umfeld kenne, ist man von oberer Stelle an mich herangetreten. Nur aus Pflichtgefühl gegenüber meiner Nation habe ich mich bereit erklärt, den Aufrag anzunehmen. Ich soll beobachten und berichten. Meine Auslagen werden erstattet." (S.13)

Doch jener Offizier steckt selbst in finanziellen Schwierigkeiten und nutzt seine Erkundigungen dazu, diese zu minimieren. Dabei wird in den Aufzeichnungen immer so viel verraten, wie der Kommissär bereits herausgefunden hat.

Mit allen Mitteln will das Militär kurz vor der zu erwartenden Kriegserklärung Österreichs an Serbien verhindern, dass es in Misskredit gerät. Die Polizei darf per Gesetz nicht gegen das Militär ermitteln und soll möglichst seine Ermittlungsergebnisse für sich behalten - im Gegenteil, Reitmeyer wird geradezu ermutigt einen Mantel des Schweigens über alles zu breiten.
So viel sei verraten, mit unkonventionellen Methoden gelingt es ihm trotzdem den Fall zu lösen und das Ende wartet mit einigen Überraschungen auf.

Bewertung
Ein spannender Krimi, der gleichzeitig einen interessanten Einblick in die politisch angespannte Lage und das Leben in München kurz vor Ausbruch des 1.Weltkrieges bietet.
Faszinierend sind die Möglichkeiten und Methoden der Polizeiarbeit vor rund 100 Jahren, die ohne die technischen Errungenschaften des 20. und 21.Jahrhunderts auskommen mussten - keine Computer, keine DNA-Analyse, statt dessen Verbrecherkarteien und Fingerabdrücke. Auch die Pathologen hatten mit widrigen Umständen zu kämpfen, so beschreibt Kommissär Reitmeyer eindringlich den Gestank im Sommer, gelobt seien die heutigen Möglichkeiten der Kühlung.

Nichtsdestotrotz wird auch in diesem Krimi der Fall mit entsprechender Kopfarbeit gelöst und offenbart am Ende eine überraschende Lösung mit machtpolitischem Hintergrund.
Die Einbettung dieses brisanten Kriminalfalls - der heutzutage in der Klatschpresse landen würde - in seinen historischen Kontext zu einer Zeit, in der Homosexualität verboten war und gegen das Militär nicht ermittelt werden durfte, zeichnet diesen Krimi aus und bereitet ein besonderes Lesevergnügen.
Und weckt hohe Erwartungen an den Folgeband "Wintergewitter" , der bereits erschienen ist.


Buchtrailer


Erinnert hat mich der Kriminalroman an die Reihe von Volker Kutscher um seinen Kommissar Gereon Rath. Diese spielen jedoch in Berlin und sind angesiedelt in der Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus bis hin deren Machtergreifung. Beide Kommissare sind vom Charakter her recht eigenwillig angelegt, doch die Parallelitäten zeigen, dass die Verknüpfung von Kriminalroman und Geschichte eine erfolgreiche Kombination ist und entsprechendes Publikum findet.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Philipp Winkler: Hool

- eine aufschlussreiche Milieustudie und ein beeindruckender Debütroman.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 310 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
Erschienen am: 19.September 2016
ISBN-13: 978-3351036454

Vielen Dank an den Aufbau Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar im Rahmen der Leserunde auf Whatchareadin zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Heiko ist ein Hooligan, der unter der Führung seines Onkels Axel und gemeinsam mit seinen Jugendfreunden zu Matches fährt, um sich mit anderen Gruppen zu schlagen. Ziel ist es, dass möglichst viele der eigenen "Mannschaft" oben bleiben, wer am Boden liegt, hat verloren. Nachgetreten wird nicht, selbst unter den Hooligans scheint es so etwas wie einen Ehrenkodex zu geben. Verbindendes Element zwischen den Hooligans ist die Zugehörigkeit zu einem Fußballclub - Heiko gehört zu Hannover 96. Zuerst Stadion, wo jeder nach einer hierarchischen Ordnung einen Platz hat, dann Kämpfe, obwohl diese auch ohne entsprechende Fußballspiele abgemacht werden.

Wie gerät man in dieses Milieu? Heikos Mutter hat die Familie verlassen und seine ältere Schwester Manuela, ihn und ihren arbeitsunfähigen Mann Hans zurückgelassen, um eine neues Leben zu beginnen. Ein Verlust, der tief sitzt, über den Heiko aber nicht sprechen will.
In den regelmäßigen Rückblenden fächert sich allmählich Heikos Vergangenheit auf. Ist man zu Beginn noch angewidert von seiner Lust an der Gewalt und seiner derben Sprache, so empfindet man allmählich Verständnis für den Ich-Erzähler.
Heiko hat es wirklich nicht leicht gehabt: Der Verlust der Mutter, die Alkoholsucht seines Vaters, der ihn wohl auch geschlagen hat, die neue "Mutter" Mie, die Hans von einer Urlaubsreise aus Thailand "mitgebracht" hat und die ein Schattendasein im Haus fristet. Seine Freundin Yvonne, die er sehr mag, hat ihn wegen ihrer Drogenprobleme verlassen. Nur seine Schwester hat scheinbar den Absprung geschafft und versucht sich als Lehrerin mit Mann und Kind eine bürgerliche Existenz aufzubauen, auch wenn ihre Vergangenheit sie sehr belastet:

">Heiko. Ich hasse Mama dafür. Ich hasse sie dafür, dass sie einfach abgehauen ist. Ich hasse sie dafür, dass wir ihr so egal sind.< Ich wollte ihr sagen, dass es mir ähnlich geht. Dass das keine Familie ist. Und auch nie eine war. Jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte, war sie das nicht. Ich wollte Manuela sagen, dass sie meine Schwester ist. Ich meine; natürlich ist sie das. Aber eigentlich wollte ich damit noch etwas anderes sagen. Statt all dem und noch mehr, was ich vielleicht hätte sagen können, sagte ich aber gar nichts. Denn ich bekam die Schnauze mal wieder nicht auf." (S.54)

So muss sich Heiko eine Ersatzfamilie suchen. Er lebt bei Arnim, der wegen Mord im Gefängnis war und Kampfhunde sowie einen Geier hält und in einem heruntergekommenen Haus im Außenbereich der Stadt lebt. Mit den Tierkämpfen verdient er sein Geld, was Heiko anwidert. Gegenüber Tieren erlaubt er sich Fürsorglichkeit, auch wenn er die Tauben füttert, während sein Vater in der Reha-Klinik ist.
Sein Geld verdient Heiko im Wotan Boxing Gym, der seinem Onkel Axel gehört.

"Die Klientel besteht hauptsächlich aus mindererfolgreichen Kampfsportlern, Atzen aus dem Security-Bereich und Bikern. Und leider auch so einigem an rechtem Gesuchs. Muss man sich natürlich auch nicht wundern, wenn man sein Gym nach einem germanischen Gott benennt. Wenn ich das Sagen hätte, dann würde hier keiner von den Glatzen reinkommen. Nur hab ich hier so gut wie gar nichts zu melden, so als Mädchen für alles." (S.35)

Neben seinem Onkel bilden vor allem seine Freunde Kai, Ulf und Jojo seinen Rückhalt. Kai scheint aus gut situiertem Haus zu stammen und studiert, was ihn nicht davon abhält, zu trinken und koksen und sich zu schlagen. Ulf ist ein Bär von einem Mann, verheiratet und hat einen Sohn, während Jojo einen Job als Fußballtrainer hat.
Ursprünglich gehörte auch Jojos Bruder Joel zum Freundeskreis hinzu, doch ein tragisches Ereignis hat dem Fußballtalent ein Ende gesetzt, wie aus einem Rückblick ersichtlich wird.
Die Szene, als alle zum Todestag Joels Grab besuchen, zeigt, dass sie hinter der harten Fassade ihre Gefühle verbergen und Heiko durchaus sensibel ist.

"Ich wage den Blick zu Jojo neben mir. Er ist vollkommen still. Macht keinen Mucks. Aber sein Oberkörper ruckelt in zarten Stößen. Als hätte er Schluckauf. Ich sehe in sein Gesicht. Er hat die Augen zugekniffen. Seine Lippen sind in den Mund gerollt. Ich ertrag das nicht, also lasse ich ihm den Moment mit seinem kleinen Bruder." (S.61)

Im weiteren Verlauf der Handlung wird die Freundschaft der Kumpels auf die Probe gestellt, so ist Ulf der Erste, der die "Firma" wegen seiner Familie verlassen will. Dafür hat Heiko überhaupt kein Verständnis. Jojo hat seinen Trainerjob, den er sehr ernst nimmt, und Kai gerät in einen Hinterhalt, dessen Folgen ihn dazu veranlassen, neue Wege zu gehen. Heiko fühlt sich im Stich gelassen und seine Einsamkeit münzt er in Rache um - Rache für Kai, damit will er alles wieder gut machen...

Bewertung 
Der Roman bietet einen Einblick in eine - für mich - völlig fremde Welt der Hooligans, der fanatischen Fußballfans und damit verbunden in die Freude am Zuschlagen.
Heiko sucht bei Axel, nachdem seine Familie ihm keinen Halt geben kann, Selbstbestätigung. In den Kämpfen kann er seinen Aggressionen freien Lauf lassen, sie geben seinem Leben einen Sinn und strukturieren es gewissermaßen. Der Lebensbereich bleibt begrenzt und überschaubar - die Arbeit im Gym, die Fußballspiele, das Abhängen mit den Freunden, die Kämpfe.
Als sein Vater in die Reha muss und er sich um die Tauben kümmert, gerät sein Leben allmählich aus den Fugen. Erinnerungen werden wachgerufen und die Vergangenheit holt ihn ein. Als dann ein Freund nach dem anderen die "Firma" verlässt, verliert Heiko gewissermaßen seine Familie - sogar sein Onkel verrät ihn und nutzt ihn offenkundig nur aus.

Ohne diese Leserunde hätte ich sicherlich nicht nach dem Roman gegriffen, kühles Cover und eine Thematik, die mich eigentlich nicht interessiert - dachte ich, auch noch als er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises auftauchte.
Ich habe mich geirrt - trotz der abschreckenden Ausdrucksweise des Ich-Erzähler, die von Fäkalausdrücken durchzogen ist, gibt es ganz ungewöhnliche Bilder, die überraschen:

"Und ihre kleinen Glubscher, diese blaue Augen. Sehen aus wie Eiswürfel, in denen eine Fliege eingefroren wurde. (...) Ihr Lachen klang wie so ein Windspiel, oder wie die Dinger heißen. Wie ein Sommerregen, der auf mein entblößtes Hirn rieselt, mich beruhigt und mir das Gefühl gibt, das ganze Drecksleben wär doch irgendwie erträglich. Solange ich diesem Lachen zuhören könnte." (S.119)

Trotz der verherrlichten Gewalt und der abstoßenden Lebensweise Heikos gelingt es dem Autor tatsächlich, dass man für den Protagonisten immer mehr Sympathie empfindet. Dazu tragen die Rückblenden maßgeblich bei, die einen immer tieferen Blick in Heikos Vergangenheit werfen, bis hin zu seiner Zeit als Junge, als er das erste Fußballspiel gemeinsam mit seinem Vater und Onkel Axel besucht hat - quasi die Keimzelle seiner zukünftigen Existenz.
Obwohl diese Rückblenden Ereignisse und Handlungen erklären, bleiben auch Fragen offen.
Warum hat die Mutter die Familie verlassen? Warum hat sich Heiko so an seinen Onkel gehängt? Wie ist Kai in dieses Milieu hineingeraten - Zeitvertreib? Was ist aus Arnim geworden - Tigerfraß?
Auch das Ende (das mir sehr gut gefallen hat) lässt Raum für  Spekulationen, nur soviel - jetzt hat Heiko einen Gefährten, um den er sich kümmern muss, der ihn gewählt hat. Ein guter Anfang.

Ein beeindruckender Roman, der neugierig auf diesen jungen Autor und seine weiteren Werke macht.

Sonntag, 4. Dezember 2016

Anne Freytag: Mein bester letzter Sommer

- ein Hommage an das Leben und die Liebe.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 368 Seiten
Verlag: Heyne Verlag
Erschienen am: 8.März 2018
ISBN-13: 978-3453270121



Inhalt
Die 17jährige Tessa aus München führt scheinbar ein perfektes Leben: Sie ist wunderschön, eine sehr gute Schülerin, spielt Geige und Klavier, hat ein Stipendium für Oxford und beste Freundinnen.
Doch all das war einmal, denn sie wird sterben, Seit ihrer Geburt hat sie einen inoperablen Herzfehler und ihr fehlt die Lungenschlagader - von zahlreichen Operationen hat sie eine große Narbe behalten, aber eine Heilung oder eine Lebensverlängerung ist nicht mehr möglich. Die Ärzte geben ihr wenige Wochen, vielleicht ein paar Monate.
Und dabei hat Tessa immer von einem perfekten Leben geträumt, auf den perfekten ersten Kuss gewartet, den richtigen Jungen, die erste große Liebe - und jetzt ist es zu spät.
Deprimiert schließt sie sich in ihrem Zimmer ein und wartet auf den Tod. Sie ist wütend auf ihre Mutter, die die Wahrheit schon lange kennt und ihr nichts davon gesagt hat - wie kann eine Mutter ihrer Tochter auch sagen, dass sie sterben muss - eine sehr emotionale Szene, der Streit zwischen Tessa und ihrer Mutter. Auch von ihrer Schwester Larissa, mit der sie einst ein Herz und eine Seele gewesen ist, hat sie sich entfremdet. Larissa, die stets in ihrem Schatten gestanden hat, geht inzwischen ihren eigenen Weg und bemüht sich das Gegenteil einer perfekten Tochter zu leben.

Doch dann lernt Tessa Oskar kennen. Einen gut aussehenden Jungen, zu dem sie sich sofort hingezogen fühlt - und dass nicht nur wegen seiner Erscheinung. Er vermag sie zu verstehen, in ihren Kopf zu schauen und ihrem Denken zuzuhören.
Mit ihm möchte sie ihre letzte Zeit verbringen, er wird ihr Freund zum Sterben. Spontan beschließen die beiden eine Reise durch Italien anzutreten und es wird Tessas bester letzter Sommer mit wunderschönen Momenten und sehr emotionalen Szenen, die jedoch nie kitschig sind.
Der größte Teil des Romans wird aus der Ich-Perspektive Tessas erzählt, wir hören ihr beim Denken zu und erleben gemeinsam mit ihr die erste große Liebe mit all ihren überwältigenden Gefühlen.
Gegen Ende kommt auch Oskar zu Wort und er schildert aus seiner Sicht, wie es sich anfühlt, eine große Liebe gefunden zu haben, um sie sogleich wieder zu verlieren.


Bewertung
Vom Thema her eigentlich ein Roman, der sehr belastend ist. Ein junges Mädchen, das weiß, dass es sterben muss und dass seiner Meinung nach noch nicht wirklich gelebt und geliebt hat.
Dann trifft sie diesen Jungen, verliebt sich und sie weiß, es wird nur für kurze Zeit sein.
Trotzdem ist es kein Roman, der nur traurig stimmt, sondern auch zum Lachen einlädt und uns bewusst macht, wie kostbar unser Leben ist. Er erinnert an die unvergleichlichen Momente, die so oft vorüber ziehen, weil wir sie nicht bewusst wahrnehmen. Tessa genießt jeden Augenblick, weil sie weiß, dass es ihr letzter sein könnte. Das klingt jetzt ziemlich abgedroschen, aber der Autorin gelingt es, die Leser/innen auf Tessas Reise und in ihre Gedanken mitzunehmen. Man glaubt ihr diese großen Gefühle, über die wir, wenn wir ehrlich sind, als Erwachsene lächeln und sie nicht immer ernst nehmen. In diesem Roman jedoch ist diese Intensität stimmig, nichts wirkt kitschig oder sentimental.
Im Gegenteil, der Roman hat mich persönlich sehr berührt und ich muss zugeben, dass ich an der ein oder anderen Stelle weinen musste. Wenn Tessa den Aufsatz ihrer Schwester liest, oder sie sich von ihren Eltern verabschiedet....
Auch die Liebesszenen sind sehr einfühlsam erzählt, weder peinlich noch voyeuristisch.

Ein Roman, der mich an "Die Unwahrscheinlichkeit von Liebe" erinnert und den ich Jugendlichen und auch Erwachsenen empfehlen möchte, auch wenn er - wie der Titel es andeutet - nicht mit einem glücklichen Ende aufwarten kann, der aber trotz allem eine Hommage an das Leben ist.


Montag, 28. November 2016

James Matthew Barrie: Peter Pan

- ein klassisches Märchen, gelesen mit Mirella.

Buchdaten
Bibliophile ungekürzte Ausgabe mit Illustrationen von Robert Ingpen, 216 Seiten
Verlag: Knesebeck Verlag
Erschienen am: 30.September 2010
Uraufführung des Theaterstücks: 1904
Erstveröffentlichung des Romans: 1911
ISBN-13: 978-3868732733

"Nur die Heiteren und Unschuldigen und Herzlosen können fliegen." (S.209)

Das Lesen dieses Kinderbuch-Klassikers bedeutet für mich Vergleiche mit der Disney-Verfilmung zu ziehen, die ich als Kind gemeinsam mit meiner Familie gesehen habe und schließlich als Mutter zweier Kinder erneut genießen durfte.

Gleich vorne weg- ich mag die Disney-Verfilmung. Sie ist witzig, phantasievoll, zwar mit Klischees besetzt, aber immer liebevoll. Die Figuren sind herrlich überzeichnet und selbst dem Bösewicht Hook möchte man in der ein oder anderen Szene Mitleid entgegenbringen. Peter ist arrogant und eingebildet, gedankenlos und lebt für den Moment. Was er nicht haben kann, nimmt er sich - er ist wie ein verzogenes Kind und trotzdem liebenswert.
Mit diesen Vorstellungen habe ich zu lesen begonnen und - leider kann ich es nicht anders sagen - bin enttäuscht. Natürlich hat es das geschriebene Wort schwer, die Bilder zu verdrängen. Aber ich bin einfach nicht in die Geschichte hineingekommen.
Herr Darling als Pfennigfuchser, Frau Darling unnahbar - zumindest Nana, das Hundekindermädchen hat mich versöhnt.
Die Geschichte selbst ist bekannt - die Kinder Wendy, John und Michael fliegen gemeinsam mit dem ewigen Kind Peter Pan ins Nimmerland - dem Fantasiereich der Kinder und erleben dort viele Abenteuer.

Doch das Nimmerland des Romans ist ein ernstes Land mit echten Gefahren. Lösen sich im Film die Gefahren in lustige Szenen auf, sterben im Nimmerland in der alles entscheidenden Nacht der Nächte die Rothäute und auch die Piraten: "Diesmal gilt es: Hook oder ich" (S.179)

Dieser tödliche Ernst aus dem Mund eines gedankenlosen Kindes?
Natürlich kann man einwerfen, Märchen seien grausam, wenn man nur an die Strafen in den Grimmschen Märchen denkt. Es ist die Kaltblütigkeit der vermeintlich Guten, die erschreckt - wie die Kinder die Piraten töten und selbst der kleine Michael sich rühmt, einen getötet zu haben.
Vielleicht sind es die Filmbilder, die in meinem Kopf spuken, aber diese Grausamkeit hat mich abgeschreckt.
Auch die einseitige Darstellung der Aufgaben einer Mutter und Frau haben mich gestört - auch wenn das natürlich der Epoche der Jahrhundertwende und dem vorherrschenden Frauenbild dieser Zeit geschuldet ist.

All die genannten Punkte hat auch Mira angesprochen, obwohl sie den Film nicht kennt - auch sie hat sich schwer getan in die Geschichte zu finden und es ist ihr wie mir gegangen - wir waren nicht mit dem Herzen dabei! Keine der Figuren berührt beim Lesen so, dass man mit ihr fiebern möchte.

Vielleicht liegt das auch am allwissenden Erzähler, der mit seinen Kommentaren vorausschaut:

"Eines aber würde ich liebend gerne tun: Ich würde ihr gerne In der Art eines Schriftstellers erzählen, dass die Kinder am Donnerstag in einer Woche zurück sein werden." (S.193)

Und der die Figuren bewertet. So sagt er über Frau Darling:
"Ach, dieser Frau fehlt einfach der Kampfgeist. Ich wollte ungewöhnlich nett über sie schreiben, aber ich mag sie nicht, und darum schreibe ich nichts dergleichen." (S-193)

"Manche mögen Peter am liebsten, und manche mögen Wendy am liebsten. Aber ich mag diese Frau am liebsten." (S.195)

Das Wechselhafte, fast Schelmenhafte des Erzählers spiegelt ironisch Peters Verhalten wider, aber es distanziert vom Geschehen.

Ein wenig entschädigt haben mich die schönen Illustrationen, es ist wirklich eine wunderbare bibliophile Ausgabe.
So haben wenigstens die Bilder überzeugt, wenn es die Geschichte auch nicht vermochte.

Und hier geht es zu Mirellas Besprechung, die neben ihrer Wertung auch den Inhalt der Geschichte sehr ausführlich wiedergegeben hat.






Samstag, 26. November 2016

Jane Gardam: Ein untadeliger Mann

- und zweifelsohne ein untadeliger Roman.

Hörbuch
Gesprochen von Ulrich Noethen
Dauer: 9 Stunden 51 Minuten

Inhalt

Edward Feathers scheint tatsächlich ein untadeliger Mann zu sein. Er ist immer akkurat gekleidet - Krawatte, Anzug, Hemd- und genießt als Anwalt und Richter einen legendären Ruf, den er sich während seiner Tätigkeit in Fernost - Hong Kong- erarbeitet hat.
Old Filth, wir er genannt wird, ist inzwischen über 80 Jahre alt und lebt alleine auf dem Land in England (Dorset), wo er sich nach seiner Tätigkeit gemeinsam mit seiner Frau Betty zurückgezogen hat, die jedoch inzwischen verstorben ist.
Die beiden waren allein - ohne Kinder und hatten nur wenige Freunde. Nach Bettys Tod bleiben das Hausmädchen und der Gärtner die Gesprächspartner des alten Feathers. Bis sich in unmittelbarer Nähe seines Hauses sein ehemaliger Rivale Terry Veneering niederlässt. Die Szene, in der sich Eddie aussperrt und vor dessen Haustür mit Pantoffeln im Schnee steht - herrlich! Es ist der Beginn einer Freundschaft, der noch einige Zeit vergönnt ist - eine Freundschaft zwischen zwei einsamen alten Herren.
Doch ist dies nicht der Mittelpunkt des Romans, es ist die Vergangenheit Feathers, die nach dem Tod Bettys, an die Oberfläche drängt. So wagt er sich daran, sich seinen Erinnerungen zu stellen, indem er sich in sein Auto setzt und seine Cousinen besucht.

So erfahren die Zuhörenden Schritt von Schritt von Edwards Geburt Anfang der 20er Jahre in Malaysia, bei der seine Mutter gestorben ist, über die mangelnde Liebe und Beachtung seines Vaters bis zu seiner Reise nach England, wo fast alle Raj-Waisen des Empire zwischen den beiden Kriegen hingeschickt wurden, um in Pflegefamilien zu wohnen. Dabei hat sich Eddie in Malaysia wohl gefühlt, für ihn ist es eine traumatischer Lebenseinschnitt, vor allem weil er gemeinsam mit seinen Cousinen Claire und Babara von einer hartherzigen Frau in Wales aufgenommen wird - eine Zeit, die sein ganzes Leben prägt. Was dort geschieht, wird erst am Ende offenbart und so erschließt sich im Rückblick das scheinbar perfekte Verhalten Eddies - bedacht darauf, keine Fehler zuzulassen, aber auch niemanden an sich heranzulassen.
Von Wales aus verbringt er Zeit in einer Primary School, in der ihn der Leiter "Sir" maßgeblich beeinflusst und sein Stottern heilt. Dort lernt er seinen Freund Pat Ingoldby kennen, bei dem er fortan seine Ferien verbringt, da seine Tanten kaum Interesse an ihm zeigen. Er ist ohne familiären Halt, auch seine Ersatzfamilie kann ihm den nötigen Halt nicht geben. Bis nach Dorset ist es noch ein weiter Weg, den ich hier aber nicht nacherzählen will, denn das Vergnügen Edward Feathers zu begleiten, will ich nicht vorwegnehmen.

Bewertung
Dadurch, dass zu Beginn zwischen den Zeitebenen hin- und hergesprungen wird und jedem Teil eine Szene vorangestellt ist, in der über Old Filth gesprochen wird, braucht es beim Hörbuch etwas Zeit, in die Geschichte hineingezogen zu werden. Doch der Erzähler, der mit zarter Ironie und tadelloser, klarer Sprache, Edward Feathers Leben unter die Lupe nimmt, hat mich bereits nach kurzer Zeit in seinen Bann gezogen. Dazu trägt maßgeblich der Sprecher Ulrich Noethen bei, der den einzelnen Figuren unverwechselbare Stimmen schenkt, und die zunehmend spannende Geschichte.

Fasziniert hat mich der Charakter Edward Feathers - der hinter seiner tadellosen Fassade eine tiefe Einsamkeit verbirgt. Ein Mensch, der in der sensiblen Phase seiner Kindheit Zurückweisung, Missachtung, Häme erlebt hat und ein Geheimnis mit sich trägt, das ihn lebenslang belastet. Der selbst kaum Zuneigung schenken kann und dem es schwer fällt, Freunde zu gewinnen. Eigentlich ein bedauernswerter Mensch, der Opfer eines Systems wurde, das Kinder, deren Eltern in Fernost dem Empire dienten, entwurzelte.
Der Roman ist Teil einer Trilogie, wobei die Protagonisten eben jene Raj-Waisen sind, die vom Trauma der Trennung gezeichnet sind.

Insgesamt ein sehr interessanter und spannender Roman, der das Leben eines nur scheinbar untadeligen Mannes Schicht für Schicht freilegt und seine Schattenseiten aufdeckt, in der am Ende seines Lebens Licht bringen kann.

Eine klare Leseempfehlung und sicherlich werde ich auch noch die weiteren Teile der Trilogie, Eine treue Frau (handelt von Betty) und Letzte Freunde (handelt von der Freundschaft zwischen Eddy und Terry), hören oder lesen.

Montag, 21. November 2016

Jean-Paul Didierlaurent: Die Sehnsucht des Vorlesers

- ein Hommage an das geschriebene Wort.

Buchdaten
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Erschienen am: 22. September 2015
ISBN-13: 978-3423260787
Originaltitel: Le Liseur du 6 h 27

Inhalt
Guylain Vignolles arbeitet in einer Fabrik, in der Bücher geschreddert und recycelt werden. Seine Aufgabe ist es, die Maschine, von ihm nur als Bestie bezeichnet, jeden Morgen in Gang zu setzen, zu überwachen und am Abend vom Papierbrei zu säubern. Er hasst seine Arbeit und sie bereitet ihm Qualen, da er Bücher liebt. So zählt er jeden Morgen auf dem Weg zur Metro in Paris die Straßenlampen und andere Dinge, um Ruhe in sein Leben zu bringen.

"Von montags bis freitags wartete er hier auf den 6.27-Uhr-Zug, die Füße genau auf der weißen Linie, die den Sicherheitsabstand zum Gleis markiert. Kurioserweise besaß diese schon etwas verblasste Linie die Fähigkeit, ihn zu beruhigen und den Geruch des Gemetzels zu vertreiben, den er sonst ständig in der Nase hatte." (S.9)

In der Métro jedoch geschieht jeden Morgen etwas Außergewöhnliches. Abends beim Säubern der Maschine stiehlt Guylain heimlich unversehrte Buchseiten aus dem Bauch der Bestie. Über Nacht trocknet er sie und liest seine Findelkinder morgens in der Métro vor und alle hören ihm zu.

Auch diese Findelkinder sind im Roman enthalten und spiegeln die Emotionen des Protagonisten wider.

Besonders verbunden fühlt er sich mit dem Portier der Firma, Yvon Grimbert, der aus Protest darüber, dass Bücher zerstört werden, eine besondere Vorliebe für die französischen klassischen Dramatiker entwickelt hat und fast ausschließlich in Versen spricht - wunderbar.

Die Bestie, so wie sie Guylain beschreibt, scheint fast zu leben und hat seinen besten Freund verstümmelt, der auch an der Maschine gearbeitet hat. Beide Beine hat er auf diese Art und Weise verloren und die Geschichte, wie er sie "zurückerhält" könnte für sich allein stehen.
Daneben pflegt Guylain kaum soziale Kontakte, wenn man von den Telefongesprächen mit seiner Mutter absieht.

Doch dann fragen ihn zwei ältere Damen, ob er in ihrer Altersresidenz vorlesen möchte. Die alten Herrschaften sind ganz begeistert von seinen Findelkindern. Und er entdeckt zufällig einen USB-Stick in der Métro, auf dem sich 72 Dokumente verbergen, die Geschichte einer jungen Frau, deren Leben dem von Guylains ähnlich zu sein scheint. Wird er sie finden?

Bewertung
Der Roman zeigt zu Beginn die Einsamkeit eines Mannes, der in seinem Beruf völlig unglücklich ist, da er sein Tun hasst. Sicherlich eine Situation, mit der sich viele identifizieren können. Und die Tatsache, dass er kostbare Bücher zerstören muss, ist für Bibliophile ein echtes Verbrechen!
So flüchtet er sich ins Vorlesen in dem Versuch, diesem Gemetzel etwas entgegenzusetzen. Es ist ein
stiller, fast tragischer Held, der uns in diesem wunderschönen Roman begegnet.
Er wird jedoch durch unerwartete Ereignisse aus seinem Leben gerissen wird, als er in durch eine Geschichte vom Leben einer Frau erfährt, das seinem eigenen gleicht. Während er vorliest, schreibt sie gegen ihre Arbeit und ihre negativen Emotionen an.
Ein Roman, der uns die Kraft der geschriebenen Worte vor Augen führt, der berührt, ohne kitschig zu wirken. Der unterhält, ohne belanglos zu sein - lesenswert.

Freitag, 18. November 2016

Ian McEwan: Nussschale

- ein ungeborenes Kind erzählt...

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 277 Seiten
Verlag: Diogenes
Erschienen am: 26. Oktober 2016
ISBN-13: 978-3257069822

Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der die Leseexemplare zur Verfügung gestellt hat.

Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde auf Whatchareadin gelesen, auf der wie immer diskutiert wurde - dieses Mal vor allem über die ungewöhnliche Erzählperspektive.




Die Erzählperspektive
Da ich im Vorfeld überhaupt nichts über den Roman gelesen habe, hat mich der erste Satz sehr überrascht:

"So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." (S.9)

Es hat dann noch ein paar weitere Zeilen gebraucht, bis ich mir sicher war, dass in diesem Roman der Erzähler ein ungeborenes Baby im neunten Monat der Schwangerschaft ist. Es macht sich Sorgen,

"denn ich höre Bettgeflüster, das von einer tödlichen Intrige kündet, und zittere bei dem Gedanken an das, was mich erwartet." (S.10)

Bevor diese Intrige näher erläutert wird, legt uns der Erzähler dar, dass er glücklich ist, in der zivilisierten Welt mit ihren Vorzügen wie "Hygiene, Ferien, Narkosemittel, Leselampen, Apfelsinen im Winter" (S.12) aufzuwachsen. Gleichzeitig sieht es Europa als "verkalkt und überwiegend altersmilde, von den eigenen Geistern heimgesucht, wehrlos gegen Brutalität und Tyrannei, seiner selbst unsicher und zugleich ersehntes Ziel Millionen Leidender." (S.12)

Woher diese Weit- und Weltsicht? McEwan hat eine clevere Antwort darauf gefunden, die er größtenteils bis zum Ende beibehält. Das Baby bezieht sein Wissen aus dem Radio und aus Podcasts, vorwiegend Ratgeber, die seine Mutter hört. Und natürlich nimmt es das Gesagte um sich herum wahr - die differenzierte Weltsicht und die philosophischen Gedanken muten nur zu Beginn seltsam an, dann hat man sich als Leser/in daran gewöhnt, dass hier eine besondere Form des allwissenden Erzählers vorliegt, der trotzdem nicht über seine "Grenzen" hinaussehen kann. So bleibt er in einigen Situationen auf Spekulationen angewiesen, was erheblich zur Spannungssteigerung beiträgt.

Inhalt
Trudy, die Mutter des Ich-Erzählers, hat ihren Ehemann, den Dichter John Cairncross,verlassen, um mit seinem Bruder, einem windigen Bauunternehmer zusammenzuleben - und zwar in Johns Haus.
Die beiden wollen John loswerden und das Haus verkaufen - so viel zur tödlichen Intrige.
Der Zustand des Hauses ist desolat - es müsste dringend renoviert werden und überall liegt Müll, was das Chaos der Umstände verdeutlicht.
Claude, der intellektuell eher minderbemittelt scheint, "dieser schwachköpfige Tölpel" (S.35), ist keiner Situation wirklich gewachsen.
Trudy hat den Wunsch den zukünftigen Vater ihres ungeborenen Kindes zu beseitigen, damit sie ein neues Leben anfangen kann. Ihre Beziehung scheint auf sexueller Begierde und dem Wunsch nach Reichtum zu gründen. Trotzdem ist das Baby in einer Art Hassliebe mit seiner Mutter verbunden, nährt sie es doch - auch mit Alkohol. Das sind die verstörendsten Szenen im Roman. Trudy trinkt einfach zu viel und macht aus ihrem Ungeborenen einen Weinexperten - kann man durch die Nabelschnur diese Nuancen wirklich schmecken?
Großartig sind die Schilderungen der sexuellen Aktivität des Paares aus der Sicht des ungeborenen Kindes - das ist wirklich komisch, denn Claude drängt sich dem Ungeborenen wortwörtlich auf.

John taucht zunächst gar nicht auf, so dass man geneigt ist, ihn als Opfer zu sehen, da das Ungeborene Folgendes annimmt,

"dass er nichts von Claude weiß, dass er nach wie vor bis über beide Ohren in meine Mutter verliebt ist und hofft, eines Tages wieder mit ihr zusammenzuleben (...). Dass er ein erfolgloser Dichter ist, aber dennoch weitermacht. Dass er einen bettelarmen Verlag besitzt und leitet (...). (S.23)

Da es sich um einen Kriminalroman handelt, wird von der weiteren Handlung nicht mehr verraten, um die Spannung, die sich im Laufe des Romans steigert, nicht vorwegzunehmen.

Bewertung
Ich muss zugeben, dass mich diese ungewöhnliche Erzählperspektive von Anfang an fasziniert hat. Natürlich weiß der Säugling mehr, als er wissen kann und verlässt trotz allem nie ganz die Grenzen seiner Erkenntnis. Seine Ansichten über die Welt und seine philosophischen Gedanken heben den Roman über einen Krimi hinaus und machen ihn zu einem klugen, satirischen und außergewöhnlichen literarischen Werk.

"Keine Wahrheit schränkt das Leben so sehr ein wie die folgende: Es ist immer jetzt, immer hier, nie dann und da." (S.56)

Dass McEwan ein besonderer Erzähler mit guter Beobachtungsgabe ist, ist mir auch beim Roman Honig bewusst geworden. Er vermag die Leser/innen gekonnt zu täuschen, auch wenn bei "Nussschale" das Ende nicht ganz so überraschend, aber durchaus schlüssig und natürlich ist.

Faszinierend ist neben der unbedingten Liebe des Säuglings auch sein übermächtiger Wunsch zu leben, er will unbedingt werden, diese Welt da draußen kennen lernen.

Ein Hommage an das Leben, ein satirischer Kriminalroman über Liebe, Verrat und Leidenschaft, kluge Ansichten über die Welt, philosophische Exkurse - was will man mehr?



Sonntag, 13. November 2016

Anthony Doerr: Memory Wall

- eine interessante Novelle über das, was uns ausmacht - unsere Erinnerungen.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 135 Seiten
Verlag: C.H.Beck
Erschienen am: 10.Februar 2016
ISBN13: 978-3406689611

Zwei Gründe haben mich bewogen diese Novelle zu lesen: Erstens habe ich "Alles Licht, das wir nicht sehen" als Hörbuch gehört und war begeistert.
Zweitens hat Anne Parden auf ihrem Blog eine so schöne Rezension geschrieben, dass ich diese Novelle unbedingt lesen wollte - und es hat sich gelohnt.

Inhalt
Der eigentlichen Novelle vorgeschaltet ist ein Zitat, das die Bedeutung unserer Erinnerung so prägnant zusammenfasst, dass ich es hier einfach wiedergebe:

"Man muss erst beginnen, sein Gedächtnis zu verlieren, und sei´s nur stückweise, um sich darüber klar zu werden, dass das Gedächtnis unser ganzes Leben ist. Ein Leben ohne Gedächtnis wäre kein Leben, wie eine Intelligenz ohne Ausdrucksmöglichkeit keine Intelligenz wäre. Unser Gedächtnis ist unser Zusammenhalt, unser Grund, unser Handeln, unser Gefühl. Ohne Gedächtnis sind wir nicht."
Luis Bunuel, Mein letzter Seufzer

Alma Konachek, die in Vredehoek, einem Vorort von Kapstadt, lebt, ist 74 Jahre alt und verliert ihre Gedächtnis. Sie ist dement und in einem verzweifelten Versuch, sich zu erinnern, hat sie sich eine Memory Wall erschaffen.

"Die Wand vor Alma hängt voller Zettel, Diagramme, Karten, abgerissener, vollgekritzelter Blätter. Und zwischen all dem Papier glänzen Hunderte Plastikkassetten, jede etwas groß wie ein Streichholzbriefchen (...)" (S.13)

Auf diesen Kassetten sind ihre Erinnerungen gespeichert - das ist inzwischen möglich dank Dr. Amnesty (!) in der Gedächtnisklinik.

"Die Wahrheit ist, dass sich die Basis alter Erinnerungen im extrazellulären Raum befindet. Hier in der Klinik zielen wir auf diese Räume, färben sie ein und schreiben sie in elektronische Modelle ein. In der Hoffnung, beschädigte Neuronen zu lehren, tauglichen Ersatz zu schaffen. Neue Wege zu bahnen. Sich an das Erinnern zu erinnern." (S.18f.)

Dazu hat Alma vier Ports in ihrem kahl rasierten Kopf, mit denen sich sich an einen Stimulator anschließen kann. Dieser wiederum spielt ihre Erinnerungskassetten ab, so kann sie diese immer wieder ansehen und erleben, wie die erste Liebesnacht mit ihrem Mann Harold, einem Fossilienforscher.
In dieser Novelle taucht neben Alma noch ein großer Mann, namens Roger, auf, der sich für Almas Erinnerungen interessiert. Dazu hat er den Waisen Luvo operieren und mit Ports ausstatten lassen, so dass dieser auch in der Lage ist, sich die Erinnerungskassetten Almas anzusehen. Roger ist auf der Suche nach einem bedeutenden Fossilienfund, den Harold kurz vor seinem Tod gemacht hat. Denn Roger hat Schulden und braucht dringend Geld.

Neben diesem Kriminellen und dem Jungen Luvo ist die Geschichte Phekos mit der Almas verwoben. Pheko ist schwarz und lebt als Witwer alleine mit seinem Sohn in einem "Ghetto" in sehr ärmlichen Verhältnisse. Trotz dem Ende der Apartheid hat sich an der Situation für die schwarze Bevölkerung anscheinend nichts geändert. Da Almas Gedächtnisverlust nicht mehr aufzuhalten scheint, beschließt ihr Vermögensverwalter das Haus zu verkaufen und sie in ein Pflegeheim zu geben - eigene Kinder hat sie nicht.
Für Pheko bedeutet das den Verlust seines Arbeitsplatzes, denn er ist Almas Hausdiener und das schon seit langer Zeit. Er versorgt sie und kümmert sich um sie. Ohne Arbeit kann er sich und seinen kleinen Jungen nicht über die Runden bringen - doch vielleicht kann Luvo die verloren gegangene Erinnerung über das bedeutsame Fossil finden und allen helfen.

Bewertung
Eine interessante Geschichte, in denen die Bedeutung unserer Erinnerungen wunderschön erzählt wird. Alma, die in ihren Erinnerungen als unsympathische Frau erscheint, wird in ihrer Vergesslichkeit zunehmend menschlicher, so dass man am Ende Mitleid mit ihr empfindet. Das, was wirklich berührt, ist Phekos verzweifelter Kampf um das "Leben" und das Bemühen, seinem Sohn eine bessere Zukunft zu eröffnen.
Die Ungerechtigkeit und der Rassismus dagegen machen wütend - in dieser nahen Zukunftsvision hat sich die Situation der Schwarzen eher verschlechtert - keinesfalls gebessert.
Lehrreich sind die Beschreibungen der Fossilien, für die Anthony Doerr wirklich eine ansteckende Begeisterung an den Tag legt - wie auch schon in seinem Roman, in dem die blinde Marie Laure diese ertastet und für die Lesenden erfahrbar gemacht hat.
Unklar ist für mich geblieben, woher Roger von dem Fund des Fossils weiß, vielleicht habe ich das aber auch überlesen.

Insgesamt ist die Novelle überzeugend und in der besonderen Sprache verfasst, die mich schon beim Hören des Romans so in den Bann gezogen hat.



Donnerstag, 10. November 2016

Banana Yoshimoto: Lebensgeister

- traumhaft, melancholisch, leicht.

Buchdaten
Taschenbuchausgabe, 160 Seiten
Verlag: Diogenes
Erschienen am: 28.9.2016
ISBN-13: 978-3257300420

Herzlichen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Am Beginn des Romans - ein Autounfall:

"Als ich die Eisenstange bemerkte, wie sie da in meinem Bauch steckte, dachte ich; Verdammt, das sieht nicht gut aus...Ich werde sterben." (S.9)

Doch während die junge Japanerin Sayoko überlebt, stirbt ihr Freund Yoichi. Ein Schlag, den sie nur sehr schwer verkraftet. Im Todeskampfes wünscht sie sich, er möge überleben. Doch sie ist es, die am Leben bleibt, nachdem sie eine intensive Erfahrung an der Schwelle des Todes erlebt. Ihr verstorbener Hund wartet an einer Art Regenbogen auf sie, um sie auf die andere Seite zu geleiten. Doch ihr "Hippi-Opa", ebenfalls gestorben, holt sie auf seiner Harley ins Leben zurückgeholt:

"Dass Leben und Tod im selben Raum beieinander wohnen, dass nur ein Haar sie voneinander trennt - daran hatte ich nie gedacht, damals. An Opas Rücken geschmiegt, gingen mir all diese Gedanken durch den Kopf, und irgendwann verlor ich das Bewusstsein." (S.18)

Ein fantastisch anmutende Nahtoderfahrung, die Sayoko prägt und an die so oftmals zurückdenkt.
Nachdem ihre Wunden verheilt sind, kümmert sie sich um den Nachlass ihres Freundes, der ein bekannter Künstler gewesen ist und hält den Kontakt zu seinen Eltern. Da sie selbst dem Tod so nahe gewesen ist, kann sie Geister sehen, Verstorbene, deren "Hüllen" noch auf der Erde verweilen. Etwas, was niemanden in diesem traumhaften Roman verwundert. So lernt sie einen jungen Mann in Tokio kennen, der das Haus seiner verstorbenen Mutter besucht und dort einzieht. Sayoko ist in der Lage, die früh verstorbene Frau zu sehen und freundet sich mit Ataro an.
Gemeinsam mit ihm besucht die verwunschenen Plätze Kyotos, dort, wo sie gemeinsam mit Yoichi gewesen ist und findet ganz allmählich ins Leben zurück.

Bewertung
Ein sehr leiser und stiller Roman, der die Erfahrungen des Todes und die Trauer um einen geliebten Menschen auf sehr melancholische Art und Weise schildert und zugleich ein Liebeserklärung an Kyoto ist, das sehr liebevoll beschrieben wird. Der Tod ist allgegenwärtig und ein Teil des Lebens.

Trotzdem bin ich mit diesem Roman nicht warm geworden, und das lag nicht an der seltsamen Fähigkeit der Protagonistin die Geister der Verstorbenen wahrzunehmen oder an der geschilderten Nahtoderfahrung. Der Roman, aus der Ich-Perspektive Sayokos" erzählt, ist sehr assoziativ. Es wird zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin- und hergesprungen - zwischen Träumen, der Todeserfahrung und der Realität. Alles wird ständig von der Ich-Erzählerin reflektiert - kaum eine Szene wirklich im Detail erzählt, so dass ich als Leserin nicht in die Geschichte hinein gekommen bin, die Situationen nicht erlebbar werden. Erst ganz am Ende, beim Spaziergang durch Kyoto.
Es mag auch an der für mich unbekannten Kultur Japans liegen, mit der ich mich bis jetzt kaum beschäftigt habe. Vielleicht liegt es auch daran, dass mir die Orte fremd sind und sich beim Lesen keine Bilder in meinem Kopf eingestellt haben.
Ich bin etwas ratlos, denn am Thema liegt es sicherlich nicht, vielleicht an der Sprache. Ich hatte das Gefühl, dass sie nicht zu dieser jungen Frau passt, die ihre "Lebensweisheiten" transportieren will.

"Jeder trägt im Leben seine kleine oder größere Bürde. Menschen, die ein dickes Fell haben und alles auf die leichte Schulter nehmen, erkennt man auf den ersten Blick, sie erinnert mich ein wenig an Roboter. Menschen dagegen, die ihre Bürde angenommen haben, strahlen Schönheit aus, sie sind feinfühlig und gewissenhaft." (S.45)

Vielleicht sind es auch die Worte wie Seele, Herz, Gefühle, die inflationär gebraucht werden und die scheinbar gewichtigen Aussagen, die mich nicht berührt haben:

"Aus meinem Innersten sprudelten Gefühle klar und rein wie Kohlensäurebläschen, und mir war, als verginge die ganze Traurigkeit, die Herz, Blick und Verstand getrübt hatte." (S.98)

"Der angebrochene Traum schwebte noch immer im Raum, er glänzte und glitzerte wie ein Glassplitter. Es fühlte sich an, als würde meine Seele daraus Kraft schöpfen." (S.99)

Und die kurzen Sätze, die zwar zu dem Assoziativen passen, aber den Lesefluss hemmen.

Letztlich wird vieles zusammengekommen sein, warum mich der Roman nicht angesprochen hat.

Samstag, 5. November 2016

Bode Kirchhoff: Widerfahrnis


- Gewinner des Deutschen Buchpreises 2016.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Frankfurter Verlagsanstalt
Erschienen: 1.September 2016
ISBN-13:978-3-627-00228-2

...keine übliche Rezension - Lese-Eindrücke

Es erscheint anmaßend als Buch-Bloggerin festzustellen, dass der Deutsche Buchpreis für diese Novelle gerechtfertigt ist, ich wage es trotzdem, denn dieses Buch hat mich wirklich begeistert. Dazu hat maßgeblich die Leserunde im Forum whatchareadin - das uns den Roman freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat - beigetragen, in der wir uns sehr intensiv über die Novelle ausgetauscht haben.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Der ehemalige Verleger und Buchhändler Reither, der im südlichen Bayern in einer Wohnanlage lebt, macht sich mit Leonie Palm, der ehemaligen Besitzerin eines Hutladens, gemeinsam auf den Weg nach Süden - bis nach Sizilien. Es ist eine scheinbar spontane Reise, die sie mitten in der Nacht in einem 3er BMW Cabrio starten, nach einem kurzen Gespräch in Reithers Wohnung über einen Roman, nach dem dieser in der Leihbibliothek gegriffen hat.
Doch Leonie Palm trägt Ende April Sommerkleidung und Sandalen, als sie an seiner Wohnungstür klingelt und Julius Reither ist schnell bereit, mit ihr des Nachts zum Achensee zu fahren.

Es wird viel geraucht in dieser Novelle - das gemeinsame Ziehen an der Zigarette einerseits als verbindendes Element, andererseits um nicht reden zu müssen - die Stille zu überbrücken.
Für beide ist dieser Weg nach Süden eine Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit.
Reithers wichtigste Beziehung ist während eines Italien-Urlaubs zerbrochen, weil sie beide entschieden haben, einem zukünftigen gemeinsamen Kind kein Leben zu schenken.
Leonie Palms Ehe ist ebenfalls zerbrochen, ihre Tochter am Leben gescheitert. Darüber hat sie geschrieben, eben jenen Roman ohne Titel, den Reither genommen hat.
Und nie war sie in Italien und will es unbedingt sehen.

Zwei einsame Menschen, die kaum reden und von denen wir nicht viel mehr erfahren. Die Novelle ist ausschließlich aus der personalen Perspektive Reithers verfasst, nur an seinen Gedanken, Reflexionen und Erinnerungen haben wir als Leser/innen Anteil.

(...) Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunkeln tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist, sich an den Wein erinnert, nicht an das Glas, das zu Boden fiel." (S.84)

Auf ihrem Weg in den Süden werden sie mit diesen Splittern konfrontiert und nähern sich einander an. Dann tritt die Flüchtlingskrise in den Vordergrund. Erst sind es einzelne Anzeichen, dann ein kleines Mädchen, das in ihre Zweisamkeit tritt - und diese auflöst.

Kirchhoff hat in einem Gespräch auf der Frankfurter Buchmesse darüber Folgendes erzählt:

Er selbst sei in Sizilien von einem Mädchen angesprochen worden und habe ihr Geld gegeben, sich dabei aber sehr unwohl gefühlt. Um die Situation zu verarbeiten, habe er beschlossen, darüber zu schreiben - das Privileg eines Schriftstellers - sich auf diesem Wege zu äußern.

Dem Protagonisten erlebt im wahrsten Sinne des Wortes ein Widerfahrnis - ein Ereignis, dem ein Mensch ausgesetzt ist, das ihn unvorbereitet trifft, ohne dass er etwas dafür kann und das ihn im Falle Reithers auch maßgeblich verändert.
Der Titel selbst wird in der Novelle "erklärt", als Reither Leonie fragt, wie sie ihren Roman nennen würde.

"Aber Widerfahrnis, das war mehr als die vergessene Heimsuchung - da muss man nur hinhören, muss nur hinsehen, dann ist es die Faust, die einen unvorbereitet trifft, mitten ins Herz, aber auch die Hand, die einen einfach an die Hand nimmt - ein Titel, den er wohl hätte gelten lassen." (S.159)

Im Forum ist sehr intensiv über die Figur Reithers diskutiert worden, er wirkt mit seiner alten Lederjacke und dem permanenten Rauchen wie ein Typ aus einem alten Agentenfilm - etwas anachronistisch. Spröde, unzugänglich, jemand, der seine Gefühle nicht zeigen will und kann, der sich über die Jahre eingeigelt hat - und der inzwischen Lebensentscheidungen bereut - wie die Abtreibung. Er bleibt unzugänglich, in einer Szene befremdet sein Verhalten regelrecht und man fragt sich, ob er wirklich so wenig sensibel ist. Aber im Nachklang dazu, öffnet er sich den Lesenden...
Leonie Palms Verhalten bleibt lange im Dunkeln, warum verreist sie mit diesem Typ. Vergangenheitsbewältigung, die Chance Italien zu sehen, eine neue Liebe?
Das Ende löst einen Teil dieser Fragen sehr überraschend und gelungen auf.

Die Begeisterung löst neben der Geschichte, die erzählt wird, die Sprache Kirchhoffs aus. Jedes Wort ist wohl überlegt, Sätze wie geschliffene Diamanten - diese Aussage hätte Reither als Verleger sicher gestrichen, denn mehrmals sinniert er darüber, ob er bestimmte Wendung hätte gelten lassen.

Reflexionen über die Sprache tauchen häufig auf:

"Mensch, Reither, die steht dir! Worte waren das wie herausgestemmt aus einem ganzen Packen ähnlicher Worte, einem Packen, der verklumpt, wenn man nicht auf ihn zurückgreift, wie unbenutzte Gelenke, und auch die paar Worte waren schon Arbeit, (...) " (S.76f.)

Das verleiht der Novelle eine Meta-Ebene, die sich auch auf das Erzählen selbst bezieht:

"Und mit der Zigarette im Mund holte Reither - genau an der Stelle hätte er den Namen eingeführt - eine Flasche von dem apulischen Roten (...)" (S.5)

"eben den Schlaf - die Stunden, die er überspringen müsste, wäre er der Erzähler seiner Geschichte." (S.73)

"Was hätte er von der folgenden Stunde, oder wie lange so eine Kassette läuft, erzählt?" (S.103)

Kirchhoffs Sprache ist etwas Besonderes, jedes Wort wirkt wohl gesetzt, überlegt und kein anderes hätte dort stehen dürfen. Mira hat es wunderbar ausgedrückt, seine Sprache sättigt - bei mir hat die Lektüre dazu geführt, dass ich einen Tag Pause machen musste, bevor ich mit dem nächsten Buch beginnen konnte.

Eine Novelle, die nachhallt und die ich allen Leser/innen der Gegenwartsliteratur ans Herz legen möchte.