Sonntag, 11. Dezember 2016

Philipp Winkler: Hool

- eine aufschlussreiche Milieustudie und ein beeindruckender Debütroman.

Buchdaten
Gebundene Ausgabe: 310 Seiten
Verlag: Aufbau Verlag
Erschienen am: 19.September 2016
ISBN-13: 978-3351036454

Vielen Dank an den Aufbau Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar im Rahmen der Leserunde auf Whatchareadin zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Heiko ist ein Hooligan, der unter der Führung seines Onkels Axel und gemeinsam mit seinen Jugendfreunden zu Matches fährt, um sich mit anderen Gruppen zu schlagen. Ziel ist es, dass möglichst viele der eigenen "Mannschaft" oben bleiben, wer am Boden liegt, hat verloren. Nachgetreten wird nicht, selbst unter den Hooligans scheint es so etwas wie einen Ehrenkodex zu geben. Verbindendes Element zwischen den Hooligans ist die Zugehörigkeit zu einem Fußballclub - Heiko gehört zu Hannover 96. Zuerst Stadion, wo jeder nach einer hierarchischen Ordnung einen Platz hat, dann Kämpfe, obwohl diese auch ohne entsprechende Fußballspiele abgemacht werden.

Wie gerät man in dieses Milieu? Heikos Mutter hat die Familie verlassen und seine ältere Schwester Manuela, ihn und ihren arbeitsunfähigen Mann Hans zurückgelassen, um eine neues Leben zu beginnen. Ein Verlust, der tief sitzt, über den Heiko aber nicht sprechen will.
In den regelmäßigen Rückblenden fächert sich allmählich Heikos Vergangenheit auf. Ist man zu Beginn noch angewidert von seiner Lust an der Gewalt und seiner derben Sprache, so empfindet man allmählich Verständnis für den Ich-Erzähler.
Heiko hat es wirklich nicht leicht gehabt: Der Verlust der Mutter, die Alkoholsucht seines Vaters, der ihn wohl auch geschlagen hat, die neue "Mutter" Mie, die Hans von einer Urlaubsreise aus Thailand "mitgebracht" hat und die ein Schattendasein im Haus fristet. Seine Freundin Yvonne, die er sehr mag, hat ihn wegen ihrer Drogenprobleme verlassen. Nur seine Schwester hat scheinbar den Absprung geschafft und versucht sich als Lehrerin mit Mann und Kind eine bürgerliche Existenz aufzubauen, auch wenn ihre Vergangenheit sie sehr belastet:

">Heiko. Ich hasse Mama dafür. Ich hasse sie dafür, dass sie einfach abgehauen ist. Ich hasse sie dafür, dass wir ihr so egal sind.< Ich wollte ihr sagen, dass es mir ähnlich geht. Dass das keine Familie ist. Und auch nie eine war. Jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte, war sie das nicht. Ich wollte Manuela sagen, dass sie meine Schwester ist. Ich meine; natürlich ist sie das. Aber eigentlich wollte ich damit noch etwas anderes sagen. Statt all dem und noch mehr, was ich vielleicht hätte sagen können, sagte ich aber gar nichts. Denn ich bekam die Schnauze mal wieder nicht auf." (S.54)

So muss sich Heiko eine Ersatzfamilie suchen. Er lebt bei Arnim, der wegen Mord im Gefängnis war und Kampfhunde sowie einen Geier hält und in einem heruntergekommenen Haus im Außenbereich der Stadt lebt. Mit den Tierkämpfen verdient er sein Geld, was Heiko anwidert. Gegenüber Tieren erlaubt er sich Fürsorglichkeit, auch wenn er die Tauben füttert, während sein Vater in der Reha-Klinik ist.
Sein Geld verdient Heiko im Wotan Boxing Gym, der seinem Onkel Axel gehört.

"Die Klientel besteht hauptsächlich aus mindererfolgreichen Kampfsportlern, Atzen aus dem Security-Bereich und Bikern. Und leider auch so einigem an rechtem Gesuchs. Muss man sich natürlich auch nicht wundern, wenn man sein Gym nach einem germanischen Gott benennt. Wenn ich das Sagen hätte, dann würde hier keiner von den Glatzen reinkommen. Nur hab ich hier so gut wie gar nichts zu melden, so als Mädchen für alles." (S.35)

Neben seinem Onkel bilden vor allem seine Freunde Kai, Ulf und Jojo seinen Rückhalt. Kai scheint aus gut situiertem Haus zu stammen und studiert, was ihn nicht davon abhält, zu trinken und koksen und sich zu schlagen. Ulf ist ein Bär von einem Mann, verheiratet und hat einen Sohn, während Jojo einen Job als Fußballtrainer hat.
Ursprünglich gehörte auch Jojos Bruder Joel zum Freundeskreis hinzu, doch ein tragisches Ereignis hat dem Fußballtalent ein Ende gesetzt, wie aus einem Rückblick ersichtlich wird.
Die Szene, als alle zum Todestag Joels Grab besuchen, zeigt, dass sie hinter der harten Fassade ihre Gefühle verbergen und Heiko durchaus sensibel ist.

"Ich wage den Blick zu Jojo neben mir. Er ist vollkommen still. Macht keinen Mucks. Aber sein Oberkörper ruckelt in zarten Stößen. Als hätte er Schluckauf. Ich sehe in sein Gesicht. Er hat die Augen zugekniffen. Seine Lippen sind in den Mund gerollt. Ich ertrag das nicht, also lasse ich ihm den Moment mit seinem kleinen Bruder." (S.61)

Im weiteren Verlauf der Handlung wird die Freundschaft der Kumpels auf die Probe gestellt, so ist Ulf der Erste, der die "Firma" wegen seiner Familie verlassen will. Dafür hat Heiko überhaupt kein Verständnis. Jojo hat seinen Trainerjob, den er sehr ernst nimmt, und Kai gerät in einen Hinterhalt, dessen Folgen ihn dazu veranlassen, neue Wege zu gehen. Heiko fühlt sich im Stich gelassen und seine Einsamkeit münzt er in Rache um - Rache für Kai, damit will er alles wieder gut machen...

Bewertung 
Der Roman bietet einen Einblick in eine - für mich - völlig fremde Welt der Hooligans, der fanatischen Fußballfans und damit verbunden in die Freude am Zuschlagen.
Heiko sucht bei Axel, nachdem seine Familie ihm keinen Halt geben kann, Selbstbestätigung. In den Kämpfen kann er seinen Aggressionen freien Lauf lassen, sie geben seinem Leben einen Sinn und strukturieren es gewissermaßen. Der Lebensbereich bleibt begrenzt und überschaubar - die Arbeit im Gym, die Fußballspiele, das Abhängen mit den Freunden, die Kämpfe.
Als sein Vater in die Reha muss und er sich um die Tauben kümmert, gerät sein Leben allmählich aus den Fugen. Erinnerungen werden wachgerufen und die Vergangenheit holt ihn ein. Als dann ein Freund nach dem anderen die "Firma" verlässt, verliert Heiko gewissermaßen seine Familie - sogar sein Onkel verrät ihn und nutzt ihn offenkundig nur aus.

Ohne diese Leserunde hätte ich sicherlich nicht nach dem Roman gegriffen, kühles Cover und eine Thematik, die mich eigentlich nicht interessiert - dachte ich, auch noch als er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises auftauchte.
Ich habe mich geirrt - trotz der abschreckenden Ausdrucksweise des Ich-Erzähler, die von Fäkalausdrücken durchzogen ist, gibt es ganz ungewöhnliche Bilder, die überraschen:

"Und ihre kleinen Glubscher, diese blaue Augen. Sehen aus wie Eiswürfel, in denen eine Fliege eingefroren wurde. (...) Ihr Lachen klang wie so ein Windspiel, oder wie die Dinger heißen. Wie ein Sommerregen, der auf mein entblößtes Hirn rieselt, mich beruhigt und mir das Gefühl gibt, das ganze Drecksleben wär doch irgendwie erträglich. Solange ich diesem Lachen zuhören könnte." (S.119)

Trotz der verherrlichten Gewalt und der abstoßenden Lebensweise Heikos gelingt es dem Autor tatsächlich, dass man für den Protagonisten immer mehr Sympathie empfindet. Dazu tragen die Rückblenden maßgeblich bei, die einen immer tieferen Blick in Heikos Vergangenheit werfen, bis hin zu seiner Zeit als Junge, als er das erste Fußballspiel gemeinsam mit seinem Vater und Onkel Axel besucht hat - quasi die Keimzelle seiner zukünftigen Existenz.
Obwohl diese Rückblenden Ereignisse und Handlungen erklären, bleiben auch Fragen offen.
Warum hat die Mutter die Familie verlassen? Warum hat sich Heiko so an seinen Onkel gehängt? Wie ist Kai in dieses Milieu hineingeraten - Zeitvertreib? Was ist aus Arnim geworden - Tigerfraß?
Auch das Ende (das mir sehr gut gefallen hat) lässt Raum für  Spekulationen, nur soviel - jetzt hat Heiko einen Gefährten, um den er sich kümmern muss, der ihn gewählt hat. Ein guter Anfang.

Ein beeindruckender Roman, der neugierig auf diesen jungen Autor und seine weiteren Werke macht.