Sonntag, 30. September 2018

Tom Rachman: Die Gesichter

Wie wächst man auf unter einem narzisstischen Künstler?

Leserunde auf whatchaReadin

Pinch ist der Lieblingssohn des gefeierten Malers Bear Bavinsky, mit dessen Mutter Natalie er in den 50er Jahren in einem alten Atelier in Rom lebt.

"Pinch, sein fünfjähriger Sohn, stemmt ein dickes Badetuch in die Höhe, die Arme unter dem Gewicht. Bear streift sich mit den Fingern durchs rotblonde, schüttere Haar und setzt- eine Hand auf dem Kopf des Jungen, Gleichgewicht suchend - seine Füße auf Tageszeitungen, auf denen früher am Tag Pinsel ausgewischt wurden." (9)

Diese beiläufige Geste symbolisiert das Verhältnis von Vater und Sohn. Bear will seinen Sohn, der künstlerische Ambitionen hat, gleichzeitig dem Vater jedoch zutiefst ergeben ist, klein halten. Während er mit seiner Präsenz Räume füllt, bleiben die Menschen in seiner Umgebung unsichtbar - nur seine Kunst steht im Mittelpunkt.

Dass seine 2.Frau Natalie Keramikskulpturen herstellt, hat keine Bedeutung - niemand darf neben ihm stehen, dem "Archetyp des lasterhaften Greenwich-Village-Künstlers", der Aktbilder malt, auf denen jeweils nur ein Detail zu sehen ist - eine Schulter, eine Hand, ein Schenkel. Das, was vor seinen Augen nicht besteht, wird verbrannt.

"Bear eilt in den hintern Teil des Ateliers, sucht etwas, zerrt eine leere Leinwand mitsamt Gestell hervor. >So wie du jetzt bist, Natty. Ganz genau so.< >Ich bin mitten in meiner eigenen Arbeit<, fleht sie ihn an." (21)

Mehrere Stunden muss sie in ihrer Pose verharren. Nachdem das Gemälde fertiggestellt ist, verbrennt er es, weil es nicht gut genug ist.
Er lässt sich auch dann nicht vom Arbeiten abhalten, wenn seine Tochter aus erster Ehe, Birdie, ihn in Rom besucht.
"Heute ist der letzte Tag vor ihrem Heimflug, und Bear hat versprochen, dass sie ihn zusammen verbringen. Weil er ständig so beschäftigt, war, will es es heute ein bisschen wiedergutmachen. [...] Pinch versteht das." (50)
Dieses bedingungslose Verstehen wird ihn einerseits zum Lieblingssohn des Künstlers machen, andererseits wird er sich zunächst nicht aus dessen mächtigem Schatten befreien können.

Als Bear Natalie und Pinch für eine neue Frau verlässt, beginnt Pinch, dessen richtiger Name Charles lautet, zu malen - unter den wachsamen Augen seiner Mutter, deren psychische Verfassung immer labiler wird.

"Als er mit dem Malen anfing, haben Natalies Lob, ihre gefalteten Hände, ihre Begeisterung seine Hoffnung geschürt. Beifall aber verliert rasch an Wert." (71)

Beeindrucken will er seinen Vater, vor seinen Augen muss sein Werk Bestand haben, nur sein Urteil zählt. Wird Charles vor seinem Vaters bestehen können? Wird es ihm gelingen ein selbstbestimmtes Leben zu führen? Kann er sich von seinem übermächtigen Vater befreien?

Bewertung
Darf sich ein großartiger Künstler und Freigeist alles herausnehmen? Darf ein Genie gnadenlos egoistisch handeln, um sich ganz seiner Kunst widmen zu können? Menschen in seiner Familie und seiner Umgebung herabsetzen, um sich selbst zu erhöhen? Diese Fragen wurden in der Lese-Runde diskutiert und der Roman fordert dazu auf, sie zu stellen. Muss man einem Künstler alles durchgehen lassen, nur weil er geniale Bilder malt? Zumindest scheinen das die Galeristen und der "Kunst-Zirkus" zu denken, auf den Rachman einen kritischen Blick wirft.

Bear ist ein lausiger Vater, sieht seinen Sohn nicht, hält ihn klein und die anderen Bear-Kinder erhalten Zuwendung und Aufmerksamkeit, so lange sie jung sind und keine Anforderungen stellen. Ein Verhalten, von dem nur Pinch ausgenommen ist, den der Vater im Auge behält, was seine Situation nicht verbessert. Nur wenigen Menschen kann sich Charles wirklich nähern, der ein Außenseiter bleibt. Tragisch verläuft das Leben seiner Mutter, deren Leben Bear letztlich zerstört hat, während Pinch ihn verteidigt:

"Weil Dad es nicht böse meint. Er ist einfach so. Wie ein riesiges Schiff, das stetig vorwärtsdampft und das niemand aufhalten kann." (155)

Glücklicherweise steht ab dem 2.Teil das Leben Pinchs im Mittelpunkt und der narzisstische Maler taucht seltener auf. Überwiegend treffen sie in einem Ferienhaus in Frankreich aufeinander, das Bear einem Freund Natalies abgekauft hat - dort verändert sich ihre Beziehung und die Frage, die sich stellt, ist, ob sich Bears Aussage am Ende bewahrheiten wird:

"Ich gewinne. Klar? Ich werde verdammt nochmal immer gewinnen" (296)

Während man den narzisstischen Künstler nach den ersten 100 Seiten kaum noch erträgt, ist es diese Spannung, die bis zum Ende des Romans trägt, der mit ungewöhnlichen Wendungen aufwartet.

Klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank an den dtv-Verlag für das Lese-Exemplar!

Freitag, 21. September 2018

Monika Maron: Ach Glück


Lesen mit Mira

Der erste Roman, den ich auf meinem E-Book-Reader gelesen habe. Ungewohnt...und ein Roman, bei dem Mira und ich uns intensiv ausgetauscht haben.

Worum geht es?
Johanna und Achim sind seit fast dreißig Jahren verheiratet. Sie schreibt über Bücher, er ist Germanist, Kleist-Experte, beide haben sich in der ehemaligen DDR dem System innerlich verweigert und der Triumph über deren Untergang

"sei das letzte große Gefühl gewesen, das sie beide miteinander geteilt hätten, behauptete Johanna."

Die Geschichte spielt einige Jahre nach dem Mauerfall, als sich Johanna entschließt die fast 90-jährige Natalia Timofejewna in Mexico City zu besuchen.
Sie kennt diese nur aus Briefen, seit sie in der Galerie des Russen Igor aushilft. Er erwartet von Natalia, einer russische Adlige, die auf Spurensuche nach einer früheren Künstlerin und Freundin in Mexico weilt, einen Geldbetrag für eine Künstler-Stiftung. Als sich diese Hoffnung zerschlägt, bleibt Johanna mit ihr in Kontakt.

"Sie war eine ungeübte Alleinreisende. Sie war noch nie allein geflogen, immer hatte Achim neben ihr gesessen (...)"

"Ich muss einer alten Dame helfen, sagte sie, was gelogen war. Natalia hatte mit keinem Wort zu verstehen gegeben, dass sie ihre Hilfe brauchte."

Wie kommt es, dass Johanna zum ersten Mal allein fliegt, ihr Leben auf den Kopf stellt und vertraute Wege verlässt?

"(...)eigentlich hat alles mit dem Hund angefangen."

Johanna findet einen Riesenschnauzer-Mischling an der Autobahnausfahrt Bredow, so nennt sie den Hund, den sie gegen den Willen ihres Mannes aufnimmt und jetzt -

"Johanna saß im Flugzeug nach Mexiko und er in einem Café bei Mohnkuchen und Milchkaffee. Für einen Monat, hat sie gesagt, vielleicht auch ein oder zwei Wochen länger Bis gestern Abend hatte er sich nicht vorstellen können, dass sie wirklich abfliegen würde, verschwinden auf unbestimmte Zeit."

Im Roman wechselt die personale Perspektive kapitelweise zwischen
Johanna, die im Flugzeug rückblickend reflektiert, warum sie auf dem Weg nach Mexico ist und

Achim, der während sie fliegt, in Berlin herumstreift und ebenfalls darüber nachdenkt, wie es dazu kommen konnte, dass sie ihn tatsächlich verlässt,

und - integriert in die "Johanna-Kapiteln" - den Briefe und Mails von Natalia, die Johanna zeigen, "dass es zu jeder Zeit Anfänge gibt".

"Es geht um Liebe." Eine Liebe, die der Hund ihr bedingungslos gibt. Jede*r, der selbst einen Hund hat, kennt dieses Gefühl, das der treue Blick unserer Vierbeiner auslösen kann - ach, Glück!

Ein Glück, die ihr Achim, "ein moderner Kentaur, halb Schreibtisch, halb Mann" nicht mehr geben kann?

Bewertung
Monika Maron beschreibt sehr einfühlsam, was landläufig als "Midlife-Crisis" bezeichnet wird.
Johanna hat sich mit ihrem Leben zufrieden gegeben,
"wenn die anhaltende Freudlosigkeit, die sich über ihren ehelichen Alltag seit einigen Jahre wie Mehltau gelegt hatte, sie auch bedrückte".
Hat es als Begleiterscheinung des Alters gesehen, bis sie nicht mehr wegsehen kann, bis das Auftauchen Igors, der sie wieder als Frau ansieht, und das des Hundes, der ihr bedingungslose Liebe schenkt, ihr die Augen öffnen.

Im Flugzeug sitzend spürt Johanna diesen subtilen Veränderungen nach, sucht nach Erklärungen, ebenso wie Achim, der jedoch weniger zu verstehen scheint, worum es geht.
Er hat einen klassischen Ausweg aus seiner Midlife-Crisis gewählt - eine Affäre mit einer Jüngeren. Letztlich eine alltägliche Geschichte, Mann betrügt Frau nach vielen gemeinsamen Jahren, in denen sich die Leidenschaft abnutzt, mit einer Jüngeren.
Dadurch verliert Achim erheblich an Sympathie, auch deshalb, weil er sein Verhalten im Gegensatz zu Johanna weniger hinterfragt. Meines Erachtens wäre der Betrug Achims nicht notwendig gewesen, um aufzuzeigen, wie schwierig die Liebe und das sexuelle Begehren mit zunehmenden Ehejahren werden kann.

"Sie wisse nur nicht, wie sie, nachdem er sie den ganzen Tag behandelt hätte wie irgendein Möbelstück, sich in der Nacht aus einem Möbelstück wieder in eine Frau verwandeln sollte." 

Ein sprachlich ansprechender Roman, der die Leser*innen einlädt, ihren eigenen Lebensweg zu reflektieren - klare Lese-Empfehlung!

Hier geht es zu Miras Rezension.


Mittwoch, 19. September 2018

Frank P. Meyer: Club der Romantiker

- ein spannender und witziger Krimi.

Frank P. Meyer hat in der letzten Woche seinen neuen Roman in der Bücherhütte in Wadern vorgestellt. Druckfrisch durfte ich sein neues Werk mit nach Hause nehmen und habe es mit Begeisterung gelesen.

Während in seinen bisher veröffentlichten Erzählungen und Romanen der Handlungsschauplatz meistens das beschauliche Dorf Primstal ist, verlässt er in seinem neuen Werk die saarländische, ländliche Idylle und schickt seinen Protagonisten nach Oxford - zum Studium und 24 Jahre später zu einem Ehemaligen-Treffen.

Worum geht es?

"Natürlich wird er zur Beerdigung gehen, immerhin war er es gewesen, der sie erschossen hatte. Die Beerdigung ist der eigentliche Grund. Nur wegen des Ehemaligentreffens würde er nicht nach Oxford fahren. Seit 24 Jahren hat er es vermieden, dorthin zurückzukehren. Jetzt will er doch hin, um endlich mit dem Unglück abschließen zu können, das ihm damals widerfuhr." (9)

Gleich zu Beginn werden wir mit der Tatsache konfrontiert, dass die Hauptfigur, Peter Becker aus Primstal, während seines Studienjahres in Oxford Laureen Mills erschossen hat. Inzwischen ist er Dorfschullehrer in Wales, in 2.Ehe verheiratet und Vater zweier Kinder. Nach 24 Jahren taucht nun die Leiche von Laureen Mills auf, die als verschwunden galt.

Im Rückblick, der aus der Ich-Perspektive Peters erzählt wird, erfahren wir zunächst von dessen Ankunft in Oxford im Jesus-College. Das "Land-Ei" sieht sich plötzlich in eine andere Welt versetzt, in der es sich erst zurechtfinden muss.
Hilfe erhält er dabei vom Russen Sergej, der auch im Staircase XX wohnt, einem Genie in "Theorrrätische Physiieek (30)", mit dem er gemeinsam einmal wöchentlich unter Zufuhr von Wodka ein "Heilsaufen" veranstaltet, um das Heimweh zu ertränken.
Oder von Alex, dem exzentrischen homosexuellen Studenten mit einem Faible für die Kellner im Restaurant gegenüber, auf deren Ankleideraum man von Peters Zimmer einen hervorragenden Blick werfen kann.
Im Stockwerk über ihm wohnt Branwen, auch Brandy genannt, mit ihr verbindet ihn die Tatsache, dass sie
"genauso wenig englisch [ist wie er]. Kapiert? Ich bin Waliserin. Und Europäerin." (31)

Ed lernt er auf dem Freshers´ Flair kennen, das ist
"eine Art Messe der studentischen Clubs und Vereine, ein Markt der Möglichkeiten für die Frischlinge." (44)

Dort wird er auf den Club der Romantiker aufmerksam, in den er eintritt, weil er von der liebreizenden Louise Buckwood dazu aufgefordert wird und weil Rudern als Sportart nicht das ist, was er erwartet hat.

Umso mehr kann er den Stocherkähnen, den Punts etwas abgewinnen
- "eine wichtige Oxforder Schlüsselqualifikation [...] Louise zum Beispiel liebte es, auf dem Cherwell gepuntet zu werden." (42)

Beim ersten Clubtreffen fordert der Vorsitzende Gareth De´Ath, Gaz genannt, Peter auf, ein Originaldokument Percey Shelleys zu beschaffen, der in Oxford ebenfalls studiert hat. Das ist die Voraussetzung für die Aufnahme in den erlesenen Zirkel der Liebhaber romantischer Literatur.
Und da kommt die Bibliothekarin Laureen Mills ins Spiel...

Ein Vierteljahrhundert später ermittelt die Polizei im alten Fall Laureen Mills.

"Niemand erwartet von Detective Chief Inspector Osmer ernsthaft, dass er diesen Fall löst, und er selbst hat auch nicht vor, sich länger mit diesen alten Knochen zu befassen." (22)

Die Handlung wechselt kontinuierlich zwischen der personalen Perspektive des Detective Osmer, der die Ermittlungen leitet, der seiner ehemaligen Kommilitonen sowie den Rückblicken aus der Ich-Perspektive Peters, der offenkundig "zur falschen Zeit am falschen Ort" (25) (gewesen) ist.

Daher bemühen sich die ehemaligen Studienfreunde und Club-Mitglieder Peter in Oxford zu "kontrollieren", damit das Verbrechen unaufgeklärt bleibt.

Die spannende Frage, die sich beim Lesen stellt, ist, wie dieser unschuldige, sympathische junge Mann, der beim "Heilsaufen" witzige Geschichten aus Primstal zum Besten gibt, einen Mord begehen konnte. So viel sei verraten, die Handlung wartet mit einigen überraschenden Wendungen auf - die ein oder andere Figur erscheint plötzlich in einem anderen Licht.


Bewertung
Ein witziger Kriminalroman, in dem der Fokus darauf liegt, wie der Mord geschehen konnte und wie sich der Fall 24 Jahre später darstellt. Müssen die Erinnerungen umgeschrieben werden?
Die sympathischen, teilweise skurrilen Figuren, wie Detective Osmer, der "No Osmer" genannt wird, weil er - außer bei schönen Frauen - immer "Nein" sagt, wachsen einem ans Herz und viele Szenen laden zum Lachen ein - umso mehr, wenn Frank P. Meyer sie selbst vorliest.
Die unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen erfordern wie der letztlich doch recht komplizierte Tathergang Aufmerksamkeit beim Lesen, genau so sollte ein guter Krimi sein.
Und nebenbei werfen wir einen Blick hinter die Kulissen des studentischen Oxford, das arrogant auf Cambridge schaut und sich in seinem wissenschaftlichen Glanz sonnt. Ob alles Gold ist?

Eine klare Lese-Empfehlung!

Buchdaten
Conte-Verlag, 422 Seiten
September, 2018







Mittwoch, 12. September 2018

Paul Auster: Stadt aus Glas

- (k)eine Detektivgeschichte ?

Im Rahmen einer kleinen Leserunde auf whatchaReadin haben wir gemeinsam Paul Austers Erstling, "Stadt aus Glas", eine von drei Erzählungen der New-York-Trilogie, 1986 erschienen, gelesen. Die Geschichte ist sehr verwirrend und im Bemühen einen Sinn in die Handlung zu interpretieren, sind wir gescheitert. Trotzdem ist die Erzählung gut zu lesen. In ausdrucksstarker und präziser Sprache verfasst, wähnt man sich in einem realen Geschehen, doch am Ende bleiben viele Fragen offen.

Worum geht es?

"Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluß kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später." (9)

Bereits die ersten Sätze deuten darauf hin, dass der Erzähler die Geschichte rückblickend wiedergibt und das Geschehene reflektiert hat. Die Aussage, nicht sei "wirklich außer dem Zufall" spiegelt gleichzeitig das Motto dieser Erzählung wider. Wie uns der Erzähler gleich zu Beginn mit auf den Weg gibt:
"Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muß die Geschichte nicht sagen." (9)

Wir werden also gewarnt!

Der Protagonist der Erzählung ist Daniel Quinn, dessen Sohn und Frau gestorben sind, ein Trauma, dem er zu entfliehen sucht, in dem unter dem Pseudonym William Wilson Detektivromane verfasst und das Gehen im Labyrinth New Yorks liebt, wobei er das Gefühl hat, "in sich selbst verloren zu sein". (10)
Zudem sieht er sich gern Baseballspiele an, eine Sportart, die Auster zu mögen scheint, denn auch in seinem Roman 4321 nimmt sie großen Raum ein.
Der Held seiner Romane ist der Privatdetektiv Max Work, der für ihn greifbarer als sein abstraktes Pseudonym ist.

"In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh." (12)

Eine Aufspaltung der Identität, die noch weiter getrieben wird, da der nächtliche Anrufer den Privatdetektiv (!) "Paul Auster" verlangt. Zunächst wimmelt Quinn ihn ab, dann nimmt er die fremde Identität und den Auftrag an.
Er soll Peter Stillman vor dessen Vater beschützen, einem Harvard-Absolventen für Theologie und Philosophie und renommierten Professor, der seinen Sohn im Alter von zwei Jahren in einen dunklen Raum gesperrt hat, nachdem dessen Mutter gestorben ist. Neun Jahre hielt er ihn dort fest - ein Experiment, so dass aus Peter eine Art Kaspar Hauser geworden ist, der aber inzwischen verheiratet ist. Seine Frau Virginia ist auch diejenige, die Auster alias Quinn engagiert, denn Peters Vater soll nach langjähriger Haft entlassen werden und hegt angeblich Mordpläne gegenüber seinem Sohn. Quinn soll ihn daher beschatten. Die Möglichkeit Peter vor seinem Vater zu beschützen, sieht er als Möglichkeit, den Tod seines eigenen Sohnes zu "verarbeiten".

Als Vorbereitung kauft er sich ein rotes Notizbuch, in die er seine bisherigen Erkenntnisse niederschreibt und er liest Stillmans philosophische Schrift: "Der Garten und der Turm: Frühe Visionen der Neuen Welt" (54).
Stillman fasst darin die Thesen eines fiktiven Henry Dark zusammen, der die Geschichte von Babel als prophetisches Werk gelesen hat.

"War es, wenn der Fall des Menschen auch einen Fall der Sprache mit sich brachte, nicht logisch anzunehmen, daß es möglich wäre, den Fall ungeschehen zu machen und seine Wirkungen umzukehren, wenn man den Fall der Sprache rückgänging machte, indem man danach trachtete, die Sprache neu zu schaffen, die im Garten Eden gesprochen wurde?" (61)

Ist es das, was Stillman an seinem Sohn ausprobieren will? Eine neue, reine Sprache, die er in der Isolation zu sprechen lernen soll? So ließen sich die Schläge erklären, die er erhält, wenn er bereits gelernte Worte ausspricht.

Als Quinn am nächsten Morgen am Bahnhof steht, um Stillman zu beschatten, steht er vor dem Problem, dass er zwei identischen Stillmans sieht - die multiplen Identitäten setzen sich fort - er selbst geht völlig in der Rolle des Paul Austers auf. Er folgt jenem, der gescheitert aussieht, so wie jemand, der aus der Haft entlassen wird.

Nachdem er ihm mehrere Tage folgt, stellt er fest, dass auch Stillman ein rotes Notizbuch hat, in das er aufschreibt, was er auf seinem Weg findet. Das alles erscheint Auster alias Quinn sinnlos, daher kommt er auf die Idee sich Stillmans Weg durch New York aufzuzeichnen und glaubt zu erkennen, dass dieser einem Muster folgt:


Zusammen genommen ergeben sich die Worte: The Tower of Babel. Wie hängt das alles zusammen?

Quinn beschließt den alten Mann anzusprechen, indem er sich jeden Tag mit einer anderen Identität vorstellt. Sehr interessant ist das Gespräch über die Bezeichnung von Gegenständen.

"Die meisten Menschen achten auf so etwas nicht. Sie halten Wörter für Steine, große unbewegliche Gegenstände ohne Leben, Monaden, die sich nie verändern." (93)

Ist ein Schirm noch ein Schirm, wenn er seine Funktion eingebüßt hat? Stillman sucht nach einer neuen Sprache, nach Wörtern, die der Welt entsprechen. Dazu sammelt er Dinge und gibt ihnen Namen. Sein Ziel:

"Herren über die Wörter werden, die wir sprechen, die Sprache unseren Bedürfnissen anpassen." (101)

Gedanken, die Humpty Dumpty in "Alice hinter den Spiegeln" äußert - Sprachphilosophie.

Im letzten Gespräch gibt sich Quinn für Stillmans Sohn aus, der die Lektionen seines Vaters angeblich gelernt habe - danach verschwindet der alte Stillman.

Noch skurriler wird die Geschichte dadurch, dass Quinn den echten Paul Auster ausfindig macht und ihn besucht - der Autor tauchst selbst in seiner Erzählung auf - allerdings darf man Realität und Fiktion nicht verwechseln:

Auster selbst hat gemeinsam mit seiner 1.Frau einen Sohn namens Daniel, mit dem er lange Jahre wenig Kontakt hatte. Im Roman taucht jedoch seine 2.Frau Siri auf, mit der eine gemeinsame Tochter hat, und die ihm das Leben gerettet habe, wie er in einem Interview bekennt.

So lässt sich die Geschichte "Stadt aus Glas" auch autobiographisch deuten. Für Auster schienen seine Frau und sein Sohn "gestorben", die Trauer und Verzweiflung Quinns spiegeln seine eigene wider - ebenso wie die Suche nach einer neuen Identität und der Versuch einen Sinn im Lebens zu finden.

In der Erzählung scheitern die Leser*innen daran, einen Sinn hinter all dem zu erkennen. Am Ende ist Quinn verschwunden, wie uns der Erzähler, ein Freund Austers, mitteilt. Auster selbst hat Quinn gesucht, vergeblich. Nur das rote Notizbuch findet er gemeinsam mit seinem Freund, daraus entsteht die Erzählung...

Etwas ratlos bleibt man als Leser*in zurück, denn die Detektivgeschichte bleibt offen, es gibt keinen Fall mehr, die Protagonisten sind alle verschwunden. Was bleibt sind interessante Fragen zur Sprachphilosophie, das Spiel mit verschachtelten Identitäten und das Ausloten der Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Für mich ein literarisches Experiment, das sich trotz der "Sinnlosigkeit" gut lesen lässt.

Donnerstag, 6. September 2018

Mick Herron: Slow Horses

- spannender, britischer "Agenten"-Thriller.

Leserunde auf whatchaReadin

"Und so kam River Cartwright von der Überholspur ab und geriet zu den Slow Horses." (9)

Der erste Satz des Kriminalromans klingt zunächst wenig vielversprechend:  Ein Agent, der die Karriereleiter abwärts fällt und zu den langsamen Pferden kommt, nachdem er einen wichtigen Einsatz katastrophal vermasselt, weil er die falsche Zielperson verfolgt hat...

Im ersten Teil - Slough House - wird zunächst sehr ausführlich das Gebäude beschrieben, in dem River zukünftig arbeiten darf - ein

"Drecksloch, ein Ort von Gelb- und Grautönen, wo einst alles schwarz und weiß war." (31)

Nur die Tatsache, dass sein Großvater ein bedeutender Agent des Secret Service gewesen ist, rettet ihn vor dem endgültigen Rauswurf.

Sein neuer Chef ist Jackson Lamb - dessen Vergehen, also der Grund, warum er zu den Slow Horses verbannt wurde, erst am Ende offenbart wird - erinnert River an Peter Pettigrew -Wurmschwanz aus Harry Potter- nicht gerade ein Gewinner-Typ.

Wie Loser erscheint auch der Rest der jämmerlichen Truppe,

"niemand [kehrt] von ihnen zurück nach Regent´s Park, denn sie alle hatten dort Geschichte geschrieben, Schmutzflecken in den Annalen des Secret Service hinterlassen", wie

- Catherine Standish, die ehemalige "Moneypenny" des Secret Service Chefs, trockene Alkoholikerin,
- Min Harper, der einen wichtigen Datenträger in der U-Bahn hat liegen lassen,
- Louisa Guy, die eine Zielperson aus den Augen verloren hat,
- Roderick Ho, Computer-Genie, der nicht weiß, warum er abgeschoben wurde,
- Jed Moody, der unbedingt zurück will - zu den Dogs:

" Slough House bedeutet nicht, dass du drin bist, Jed. Regent´s Park ist der Nabel der Welt. Die Dogs  - na ja, du weißt schon. Wir patrouillieren durch die Korridore und schnüffeln, an wem wir wollen. Wir gehen sicher, dass alle das tun, was sie tun sollen, und niemand aus der Reihe tanzt. Falls doch beißen wir zu. Deswegen nennt man uns Dogs." (106)

Ausnahme ist Sidonie Baker, eine hübsche, sympathische junge Frau, von der niemand weiß, warum sie bei den Slow Horses ist.

Rivers erster Auftrag besteht darin, den Müll des Journalisten Robert Hobden zu durchforsten. Einst  war er ein Star, wegen rechtsradikaler Gesinnung ist er ebenfalls aufs Abstellgleis geraten.
Während sich River mit Abfällen zufrieden geben muss, darf seine hübsche Kollegen Hobden beschatten, entwendet ihm seinen USB-Stick, der zum Regent´s Park, also zum MI 5 gebracht werden soll.
Seit wann führen die Slow Horses, die statistische Daten auswerten und in langweiliger Ermittlungsarbeit gefangen sind, echte Einsätze durch? Und dann muss River ausgerechnet zu James Webb, Spider genannt, den er für seinen katastrophalen Einsatz verantwortlich macht, um ihm Hobdens Daten zu überbringen.
Am Ende des ersten Teils wird ein jungen Mann entführt, der gerade auf dem Nachhauseweg ist, und in ein Kellerloch gesperrt. Wie hängen die beiden Fälle zusammen? Und welche Rolle wird den Slow Horses dabei zuteil?

Bewertung
Direkt zu Beginn hat mich der Autor für sich eingenommen, als er den katastrophalen Einsatz von Cartwrights auf dem Bahnhof King´s Cross schildert und auf Bahnsteig 9 3/4 hinweist, an dem der Hogwarts Express abfährt. Harry Potter ist Allgemeingut geworden ;)

Der Roman startet furios mit dem verpatzten Einsatz Rivers, um dann ganz gemächlich den zukünftigen Arbeitsplatz des Gefallenen zu beschreiben. Nacheinander werden uns die einstigen Agenten und ihre Vergehen vorgestellt, so dass man zunächst die wichtigsten Figuren kennenlernt. Im Lauf der Handlung nimmt dieser äußerst spannende Agententhriller rasant an Fahrt auf. Nach der Entführung des jungen Mannes gilt es herauszufinden, wer dahinter steckt. Spekulationen über Täter und Anstifter führen dazu, dass ich ab dem 2.Teil den Krimi nicht mehr aus der Hand legen wollte. Aufgrund der Andeutungen und immer neuer Wendungen hat man kaum noch Zeit durchzuatmen - umso schöner, dass es ein ruhiges Ende gibt, das einen Bogen zum Anfang schlägt - eine Rahmenhandlung, in der deutlich wird, was sich in Slough House verändert hat.
Die politische Dimension des Thrillers und die Skrupellosigkeit der Handelnden wirken sehr authentisch - man hat das Gefühl, genauso läuft das. Was für den glaubwürdigen Erzähler spricht, der zudem mit ironischen Kommentaren und britischem Humor überzeugt.

Spannende Unterhaltung, klare Lese-Empfehlung!

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Leseexemplar.