Mittwoch, 12. September 2018

Paul Auster: Stadt aus Glas

- (k)eine Detektivgeschichte ?

Im Rahmen einer kleinen Leserunde auf whatchaReadin haben wir gemeinsam Paul Austers Erstling, "Stadt aus Glas", eine von drei Erzählungen der New-York-Trilogie, 1986 erschienen, gelesen. Die Geschichte ist sehr verwirrend und im Bemühen einen Sinn in die Handlung zu interpretieren, sind wir gescheitert. Trotzdem ist die Erzählung gut zu lesen. In ausdrucksstarker und präziser Sprache verfasst, wähnt man sich in einem realen Geschehen, doch am Ende bleiben viele Fragen offen.

Worum geht es?

"Mit einer falschen Nummer fing es an, mitten in der Nacht läutete das Telefon dreimal, und die Stimme am anderen Ende fragte nach jemandem, der er nicht war. Viel später, als er in der Lage war, darüber nachzudenken, was mit ihm geschah, sollte er zu dem Schluß kommen, nichts ist wirklich außer dem Zufall. Aber das war viel später." (9)

Bereits die ersten Sätze deuten darauf hin, dass der Erzähler die Geschichte rückblickend wiedergibt und das Geschehene reflektiert hat. Die Aussage, nicht sei "wirklich außer dem Zufall" spiegelt gleichzeitig das Motto dieser Erzählung wider. Wie uns der Erzähler gleich zu Beginn mit auf den Weg gibt:
"Das Problem ist die Geschichte selbst, und ob sie etwas bedeutet oder nicht, muß die Geschichte nicht sagen." (9)

Wir werden also gewarnt!

Der Protagonist der Erzählung ist Daniel Quinn, dessen Sohn und Frau gestorben sind, ein Trauma, dem er zu entfliehen sucht, in dem unter dem Pseudonym William Wilson Detektivromane verfasst und das Gehen im Labyrinth New Yorks liebt, wobei er das Gefühl hat, "in sich selbst verloren zu sein". (10)
Zudem sieht er sich gern Baseballspiele an, eine Sportart, die Auster zu mögen scheint, denn auch in seinem Roman 4321 nimmt sie großen Raum ein.
Der Held seiner Romane ist der Privatdetektiv Max Work, der für ihn greifbarer als sein abstraktes Pseudonym ist.

"In der Dreiheit von Personen, die Quinn geworden war, diente Wilson als eine Art Bauchredner, Quinn selbst war die Puppe, und Work war die belebte Stimme, die dem Unternehmen Sinn und Zweck verlieh." (12)

Eine Aufspaltung der Identität, die noch weiter getrieben wird, da der nächtliche Anrufer den Privatdetektiv (!) "Paul Auster" verlangt. Zunächst wimmelt Quinn ihn ab, dann nimmt er die fremde Identität und den Auftrag an.
Er soll Peter Stillman vor dessen Vater beschützen, einem Harvard-Absolventen für Theologie und Philosophie und renommierten Professor, der seinen Sohn im Alter von zwei Jahren in einen dunklen Raum gesperrt hat, nachdem dessen Mutter gestorben ist. Neun Jahre hielt er ihn dort fest - ein Experiment, so dass aus Peter eine Art Kaspar Hauser geworden ist, der aber inzwischen verheiratet ist. Seine Frau Virginia ist auch diejenige, die Auster alias Quinn engagiert, denn Peters Vater soll nach langjähriger Haft entlassen werden und hegt angeblich Mordpläne gegenüber seinem Sohn. Quinn soll ihn daher beschatten. Die Möglichkeit Peter vor seinem Vater zu beschützen, sieht er als Möglichkeit, den Tod seines eigenen Sohnes zu "verarbeiten".

Als Vorbereitung kauft er sich ein rotes Notizbuch, in die er seine bisherigen Erkenntnisse niederschreibt und er liest Stillmans philosophische Schrift: "Der Garten und der Turm: Frühe Visionen der Neuen Welt" (54).
Stillman fasst darin die Thesen eines fiktiven Henry Dark zusammen, der die Geschichte von Babel als prophetisches Werk gelesen hat.

"War es, wenn der Fall des Menschen auch einen Fall der Sprache mit sich brachte, nicht logisch anzunehmen, daß es möglich wäre, den Fall ungeschehen zu machen und seine Wirkungen umzukehren, wenn man den Fall der Sprache rückgänging machte, indem man danach trachtete, die Sprache neu zu schaffen, die im Garten Eden gesprochen wurde?" (61)

Ist es das, was Stillman an seinem Sohn ausprobieren will? Eine neue, reine Sprache, die er in der Isolation zu sprechen lernen soll? So ließen sich die Schläge erklären, die er erhält, wenn er bereits gelernte Worte ausspricht.

Als Quinn am nächsten Morgen am Bahnhof steht, um Stillman zu beschatten, steht er vor dem Problem, dass er zwei identischen Stillmans sieht - die multiplen Identitäten setzen sich fort - er selbst geht völlig in der Rolle des Paul Austers auf. Er folgt jenem, der gescheitert aussieht, so wie jemand, der aus der Haft entlassen wird.

Nachdem er ihm mehrere Tage folgt, stellt er fest, dass auch Stillman ein rotes Notizbuch hat, in das er aufschreibt, was er auf seinem Weg findet. Das alles erscheint Auster alias Quinn sinnlos, daher kommt er auf die Idee sich Stillmans Weg durch New York aufzuzeichnen und glaubt zu erkennen, dass dieser einem Muster folgt:


Zusammen genommen ergeben sich die Worte: The Tower of Babel. Wie hängt das alles zusammen?

Quinn beschließt den alten Mann anzusprechen, indem er sich jeden Tag mit einer anderen Identität vorstellt. Sehr interessant ist das Gespräch über die Bezeichnung von Gegenständen.

"Die meisten Menschen achten auf so etwas nicht. Sie halten Wörter für Steine, große unbewegliche Gegenstände ohne Leben, Monaden, die sich nie verändern." (93)

Ist ein Schirm noch ein Schirm, wenn er seine Funktion eingebüßt hat? Stillman sucht nach einer neuen Sprache, nach Wörtern, die der Welt entsprechen. Dazu sammelt er Dinge und gibt ihnen Namen. Sein Ziel:

"Herren über die Wörter werden, die wir sprechen, die Sprache unseren Bedürfnissen anpassen." (101)

Gedanken, die Humpty Dumpty in "Alice hinter den Spiegeln" äußert - Sprachphilosophie.

Im letzten Gespräch gibt sich Quinn für Stillmans Sohn aus, der die Lektionen seines Vaters angeblich gelernt habe - danach verschwindet der alte Stillman.

Noch skurriler wird die Geschichte dadurch, dass Quinn den echten Paul Auster ausfindig macht und ihn besucht - der Autor tauchst selbst in seiner Erzählung auf - allerdings darf man Realität und Fiktion nicht verwechseln:

Auster selbst hat gemeinsam mit seiner 1.Frau einen Sohn namens Daniel, mit dem er lange Jahre wenig Kontakt hatte. Im Roman taucht jedoch seine 2.Frau Siri auf, mit der eine gemeinsame Tochter hat, und die ihm das Leben gerettet habe, wie er in einem Interview bekennt.

So lässt sich die Geschichte "Stadt aus Glas" auch autobiographisch deuten. Für Auster schienen seine Frau und sein Sohn "gestorben", die Trauer und Verzweiflung Quinns spiegeln seine eigene wider - ebenso wie die Suche nach einer neuen Identität und der Versuch einen Sinn im Lebens zu finden.

In der Erzählung scheitern die Leser*innen daran, einen Sinn hinter all dem zu erkennen. Am Ende ist Quinn verschwunden, wie uns der Erzähler, ein Freund Austers, mitteilt. Auster selbst hat Quinn gesucht, vergeblich. Nur das rote Notizbuch findet er gemeinsam mit seinem Freund, daraus entsteht die Erzählung...

Etwas ratlos bleibt man als Leser*in zurück, denn die Detektivgeschichte bleibt offen, es gibt keinen Fall mehr, die Protagonisten sind alle verschwunden. Was bleibt sind interessante Fragen zur Sprachphilosophie, das Spiel mit verschachtelten Identitäten und das Ausloten der Grenze zwischen Fiktion und Realität.

Für mich ein literarisches Experiment, das sich trotz der "Sinnlosigkeit" gut lesen lässt.