Sonntag, 10. Februar 2019

Robert Seethaler: Das Feld

- ein Kaleidoskop aus Geschichten.

Jüdischer Friedhof in Laufersweiler
In Seethalers Roman "geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz." (Über das Buch)

Die Frage, die sich mir beim Lesen gestellt hat, ist, ob die einzelnen Geschichten sich tatsächlich wie ein Puzzle zusammensetzen, so dass am Ende ein großes Ganzes entsteht.

Im ersten Kapitel schildert ein alter Mann, wie er jeden Tag den Friedhof besucht.

"Es war der älteste Teil des Paulstädter Friedhofes, der von vielen nur das Feld genannt wurde. (...) Kaum jemand kam noch hierher."

Der Mann denkt über die Toten nach, die meisten hat er persönlich gekannt, viele zumindest vom Sehen. Einfache Paulstädter Bürger.

"Er versuchte, sich ihre Gesichter zu vergegenwärtigen, und setzte seine Erinnerungen zu Bildern zusammen. Er wusste, dass diese Bilder nicht der Wirklichkeit entsprachen, dass sie vielleicht gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen hatten, die sie zu Lebzeiten gewesen waren."

Während er auf seiner alten Bank sitzt, glaubt er die Stimmen der Toten zu hören, einzelne Sätze, Fragmente eines Lebens und "er malte sich aus, wie es wäre, wenn jede der Stimmen noch einmal Gelegenheit bekäme, gehört zu werden. Natürlich würden sie vom Leben sprechen. Er dachte, dass der Mensch vielleicht erst dann endgültig über sein Leben urteilen konnte, wenn er sein Sterben hinter sich gebracht hatte."

Andererseits glaubt er, sie würden ihre Erinnerungen verklären, von Belanglosigkeiten erzählen, so wie sie es auch zu Lebzeiten getan haben.

Und genau das tun die Toten auf dem Feld in den folgenden Geschichten: von ihrem Leben erzählen. Einige fassen ihre Lebensgeschichte zusammen, andere nur Ausschnitte oder die kurze Zeit unmittelbar vor ihrem Tod. Erinnerungen, Fragmente eines Lebens, Rechtfertigungen, Wahrheiten, die man im Leben nicht äußern wollte.

Manche Geschichten hängen unmittelbar zusammen, wenn zum Beispiel Paare direkt hintereinander zu Wort kommen, und wir als Leser*innen können die Wahrheit in den konträren Erzählungen suchen.
Manche sind nur lose verknüpft, immer wieder tauchen bestimmte Figuren auf, wie der Pfarrer oder der Bürgermeister und der Stadtgärtner. Man müsste im Prinzip alle Namen notieren, um ein vollständiges Beziehungsgeflecht herstellen zu können.

Am Ende hören wir die Stimme des alten Mannes, der nun selbst einer der Toten ist - eine Rahmenhandlung. Ich habe nach dem letzten Kapitel, dann wieder das erste gelesen und so hat sich für mich zumindest die Idee des Romans, dass jeder noch einmal eine Stimme erhält und erzählen darf und sich dadurch die Vielfalt des Paulstädter Lebens - exemplarisch für eine Kleinstadt - ergibt.

Wer jedoch das große Ganze sucht, der wird enttäuscht. Die Geschichten bieten ein Kaleidoskop der Paulstädter Bürger*innen, Ausschnitte aus verschiedenen Lebensläufen, die sich berührt oder verknüpft haben oder auch auseinander gerissen sind.

Überzeugt hat mich - wie in "Der Trafikant" oder "Ein ganzes Leben" - die Sprache Seethalers, die sich den jeweiligen Figuren anpasst und die den Roman zusammenhält ;)

Lesenswert!

Dienstag, 5. Februar 2019

Robert Seethaler: Der Trafikant

- politische Bildung und sexuelle Erlösung

Lesekreis

"An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte." (7)

Mit dieser  Feststellung beginnt "Der Trafikant": Der 17-jährige Franz muss aus finanziellen Gründen vom beschaulichen Attersee im Salzkammergut in die Hauptstadt Wien ziehen. Ein Freund der alleinerziehenden Mutter Franz - Otto Trsnjek - ist ihr noch einen Gefallen schuldig, so dass Franz in seiner Trafik, ein Geschäft, in dem Zeitungen, Zeitschriften und Zigaretten verkauft werden, als Lehrling anfangen kann.


Die Ankunft in der Großstadt ist überwältigend für den Bub vom Land:
"Die Stadt brodelte wie der Gemüsetopf auf Mutters Herd. Alles war in ununterbrochener Bewegung, selbst die Mauern und die Straßen schienen zu leben, atmeten, wölbten sich. Es war, als könnte man das Ächzen der Pflastersteine und das Knirschen der Ziegel hören. (...) Dazu das Licht. Überall ein Flimmern, Glänzen, Blitzen und Leuchten..." (20)

Seethaler beschreibt das Gewimmel auf den Straßen sprachlich so detailliert, dass man glaubt, den Lärm und die Stimmen zu hören, das Licht und die vielen Menschen zu sehen.

Als Trafikant, so lernt Franz, kommt es nur auf eines an:

"Die Zeitungslektüre nämlich sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitung zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein." (25)

Otto Trsnjek sorgt für Franz politische Bildung, wobei er dem erstarkenden Nationalsozialismus deutlich entgegentritt. Als Kriegsinvalide hat er diese Trafik zugesprochen bekommen und sich in seinem Wiener Bezirk etabliert. Bei ihm kaufen alle ein, Kommerzialräte, Doktorenwitwen, Rentner, Hausfrauen, Arbeiter und Professor Sigmund Freud, dessen Ruf

"mittlerweile nicht nur an die entlegensten Flecken der Erde, sondern sogar bis ins Salzkammergut gelangt [war] und dort die meist eher dumpfen Fantasien der Einheimischen angeregt [hatte]" (38).

Als dieser seinen Hut in der Trafik vergisst, sprintet Franz ihm hinterher und fragt ihn unbekümmert  aus. Freud rät ihm, seine Zeit nicht mit dem Lesen seiner Bücher zu verbringen, sondern sich ein Mädchen zu suchen und fordert ihn auf, das zu tun, was Franz schon lange will: seine sexuellen Triebe auszuleben.

Politische Entwicklung durch den Mentor Trsnjek und das Entdecken der Sexualität verändern Franz. Er wird erwachsen in einer Zeit, in der in Österreich ein politischer Umbruch stattfindet.

"Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass es diesen Buben nicht mehr gab. Weg war der. Abgetrudelt und untergegangen, irgendwo im Strom der Zeit. Wobei das alles ja schon recht schnell gegangen war, dachte er, vielleicht sogar insgesamt ein bisschen zu schnell." (236)

Die schnelle Entwicklung Franz - die erzählte Zeit umfasst knapp ein Jahr (Spätsommer 1937- Sommer 1938), mit einem Zeitsprung ins Jahr 1945 - war einer der Diskussionspunkte im Lesekreis. Kann man so schnell erwachsen werden? Die Diskrepanz zwischen der Äußerung von Lebensweisheiten, wenn er beispielsweise Freuds Couchmethode "analysiert" und den naiven Betrachtungen des 17-Jährigen lassen vermuten, dass Seethaler das ein oder andere Mal durch seinen Protagonisten spricht. Auf der anderen Seite muss Franz sich weiterentwickeln, denn die bevorstehende Annexion an Hitler-Deutschland betrifft auch sein Leben: Trsnjek verkauft seine Zeitungen und Zigarren an Juden und wird Opfer antisemitischer Anfeindungen, genau wie Freud, der seine Ausreise bisher hinausgeschoben hat.

"Freud zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste er es. Er war alt. Er war krank. Er war Jude. Und in den Straßen trieb sich viel zu viel Gesindel herum. Doch vor Geschehnissen zu kapitulieren, die noch nicht einmal begonnen hatten, kam nicht in Frage." (124)

Franz sieht sich mit der Gestapo konfrontiert und beweist einen Mut, den man dem unbedarften Bub aus dem beschaulichen Nußdorf nicht zugetraut hätte. Ist diese Entwicklung stimmig?

Seine sexuelle Erweckung wirkt glaubwürdiger: Er verliebt sich in eine junge böhmischen Frau, die ihn jedoch mehrmals verlässt. Rat sucht er beim Professor, so entsteht eine kurze, ungewöhnliche Freundschaft zwischen den beiden, die sein Handeln maßgeblich beeinflusst, wie das Aufschreiben seiner Träume, die seine sexuellen Wünsche, aber auch die Zeitgeschichte widerspiegeln und in ihrer Doppeldeutigkeit wie Vorausdeutungen erscheinen:

Im Prater geht ein Mädchen, es steigt ins Riesenrad,
überall blitzen Hakenkreuze, das Mädchen steigt immer
höher, plötzlich brechen die Wurzeln, und das Riesenrad
rollt über die Stadt und walzt alles nieder, das Mädchen
juchzt, und sein Kleid ist leicht und weiß wie ein
Wolkenfetzen. (180)

Mag man Franz "Tat" am Ende auch für unglaubwürdig halten, Seethaler stellt sich mit seinem Protagonisten gegen eine Haltung, die mehrfach im Roman thematisiert wird.

"Denn abwarten war ja bekanntlich sowieso immer die beste und vielleicht sogar die einzige Möglichkeit, die verschiedenen Schwierigkeiten der Zeit unbeschadet an sich vorbeiströmen zu lassen." (165)

Abwarten, nicht hinsehen, verdrängen - in vielen Textpassagen erscheinen die Verbrechen gegen die Menschlichkeit schon alltäglich, das Zerstören jüdischer Geschäfte, die Deportationen oder die Folterung im Keller der Gestapo. Franz setzt dagegen ein Zeichen, das zugegebenermaßen etwas zu plakativ wirkt, aber deutlich ist.

Wir waren uns alle einig, dass "Der Trafikant" (erstens) ein toller Roman ist und (zweitens) eine hervorragende Schullektüre abgeben würde, wegen der jungen Identifikationsfigur Franz, seiner Entwicklung, der klaren Botschaft des Romans und seiner Sprache und Metaphorik, der unterschiedlichen Erzählperspektiven sowie dem Humor Seethalers, der in dieser Rezension etwas zu kurz gekommen ist ;)

"Jetzt verschreib ich dir ein Rezept", antwortete Freud, "respektive sogar drei Rezepte. (...)
Erstes Rezept (gegen dein Kopfweh): Hör auf, über die Liebe nachzudenken. Zweites Rezept (gegen dein Bauchweh und die wirren Träume): Leg dir Papier und Feder neben das Bett und schreib sofort nach dem Aufwachen alle Träume auf. Drittes Rezept (gegen dein Herzweh): Hol dir das Mädchen wieder - oder vergiss sie!" (78)

Mein Rezept: Den Roman lesen ;)