Dienstag, 24. September 2019

Wilson Collison: Das Haus am Kongo

- eine Novelle.

Dies ist bereits der dritte Roman, nach "Tod in Connecticut" und "Die Nacht mit Nancy", den ich von Wilson Collison lese, einem Broadway-Autor, den der Louisoder-Verlag glücklicherweise wieder aufgelegt hat.

Im Mittelpunkt seiner Romane stehen unkonventionelle junge Frauen, die für die Zeit, in der die Geschichten spielen- Anfang der 30er Jahre - emanzipiert und selbstbewusst auftreten und die vermeintlich bessere Gesellschaft mit ihren erfrischenden Ansichten schockieren.

Dieses Mal ist es die bildhübsche Blondine Dolly Bretton, eine Wahrsagerin, die aus den USA stammt und ihren Lebensunterhalt u.a. in Nachtclubs, als Stripteasetänzerin und Kellnerin verdient hat. Über ihren Hintergrund erfährt man wenig, nur dass sie in London auf Bill Shane gestoßen ist, der in den USA wegen Mord aus Eifersucht gesucht wird. Dieser nimmt sie mit der Wahrsagernummer mit nach Afrika, wobei sie ihm klare Grenzen vorgibt.

"Ich brauche keinen Mann in meinem Leben. Geschäft ist Geschäft, und ich habe keine Lust, mich so weit weg von zu Hause von Typen wie dir mit der Schlafkrankheit anstecken zu lassen." (16)

Ihr Ziel ist es, so viel Geld zu verdienen, dass die wieder in die USA zurückkehren kann, um dort ein Häuschen zu kaufen und ihre Tage "als Mädchen mit rätselhafter Vergangenheit" (20) zu verbringen.

Die Handlung setzt auf dem trägen Fluss Kongo ein, neben Dolly und Bill befindet sich Lady Essex auf einem alten Dampfer, von der Dolly denkt,
"dass sich die Engländerin schlicht und ergreifend zu ernst nahm. Und solchen Menschen stand Dolly schon per se skeptisch gegenüber. In ihren Augen waren sie bloß Wichtigtuer. Irgendwann musste schließlich jeder sterben. Was hatte es also für einen Sinn, auf andere herabzuschauen?" (25)

- sowie der Captain Finch und der Maschinist Bixby. Aufgrund eines Schadens am Kessel stranden sie im Haus des jungen Arztes Warwick - mitten in der Einsamkeit, dessen schöne Frau sich in der Einsamkeit am Kongo langweilt und die Bills Interesse weckt.

"Da fiel ihr ein, dass sie Bill warnen musste, der die Angewohnheit hatte jede hübsche Frau zu vernaschen, die seinen Weg kreuzte. Er und die Doktorsgattin hatten während des Abendessens schon Blicke gewechselt, und sie wusste, dass Bill die erstbeste Gelegenheit ergreifen würde. Erst hypnotisierte er sein Beute und dann fiel er über sie her." (49)

Dolly hingegen findet Gefallen an Dr. Warwick, der sich zum Ziel gesetzt hat, etwas gegen die Schlafkrankheit zu finden.

Wie auch in "Die Nacht mit Nancy" sind Handlungsschauplatz und -zeit klar umgrenzt und sehr "dicht", so dass die Gefühle und Gedanken der einzelnen Figuren im Mittelpunkt stehen. Aus wechselnder personaler Perspektive erfahren wir vor allem, wie Dolly und der Arzt die Ausnahmesituation erleben. Welche Auswirkungen wird der Besuch für die einzelnen Personen und ihre Beziehungen zueinander haben?

Eine stringent erzählte Geschichte, die unaufhaltsam auf den Höhepunkt zusteuert - spannend zu lesen, was vor allem an der erfrischenden Protagonistin liegt und an dem lakonisch-ironischen Stil Collisons, der die Dekadenz und Langeweile der weißen Ladies und auch Bills unter die Lupe nimmt. Ein Lesegenuss!

Vielen Dank dem Louisoder-Verlag für das Lese-Exemplar!

Freitag, 13. September 2019

Simone Lappert: Der Sprung

...vom Dach.

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman "springt" in die Handlung, denn gleich zu Beginn wird im zeitdehnenden Erzählen der Sprung der Protagonistin Manu beschrieben. Dass Manu springt, wird bereits im Klappentext verraten. (Schade eigentlich)

Nach diesem furiosen Einstieg "springt" die Handlung auf den Tag davor zurück und wir erfahren, wie verschiedene Figuren diesen erlebt haben. Aus wessen personaler Perspektive erzählt wird, erfährt man jeweils anhand der Kapitelüberschrift.

Dreh- und Angelpunkt ist zunächst Roswithas Gastwirtschaft am Markt der kleinen süddeutschen Stadt Thalheim. Die Wirtschaft bietet mit der empathischen Wirtin eine Anlaufstelle für einsame, traurige, aber auch glückliche Menschen.
Da sitzt zunächst der Polizist Felix, der gerade eine Fortbildung absolviert hat, wie man mit suizidgefährdeten Personen umgeht und dessen Frau Monique schwanger ist. Irgendein Problem belastet ihn und trübt die Beziehung zu Monique. Er zieht sich zurück und ist nicht in der Lage mit ihr darüber zu reden.

Auch in Marens Ehe gibt es Probleme, seit ihr Mann Hannes zu einem Fitness- und Gesundheitsfanatiker mutiert ist und er sie nicht mehr „sein Pralinchen“ (26) nennt.

Egon ist wie Felix Stammgast in der Gastwirtschaft. Der gelernte Hutmacher musste seinen Laden schließen, in dem befindet sich jetzt eine Handyklinik. Als Vegetarier verabscheut er seine neue Arbeit in der Schlachterei. Immer dienstags ist Schweineaugentag, dann erscheint der Fahrradkurier Finn und die beiden rauchen zusammen eine Zigarre. Finn, der eigentlich mit seinem Fahrrad eine Weltreise machen will, aber wegen Manu zurzeit in Thalheim gestrandet ist.

Manu, die Biologie studiert hat, arbeitet als Gärtnerin und rettet eingetopfte Pflanzen, um sie in ihr „Topfpflanzenasyl“ im Wald zu setzen. Eine schräge Figur, über deren Vergangenheit Finn kaum etwas weiß, aber er weiß,
„(w)enn er mit ihr unterwegs war, kam es ihm vor, als hätte jede noch so banale Situation einen aufregenden Backstagebereich, zu dem nur sie ihm Zutritt verschaffen konnte. An ihrer Seite war er sich sicher, nichts zu verpassen. Er genoss das trügerische Gefühl, dass alles sich zum Guten veränderte, dass er selbst sich veränderte durch Manu, zu einem Menschen, mit dem er es besser aushielt allein, in eine bessere Version seiner selbst.“(35)

Warum ausgerechnet Manu auf dem Dach steht und springen will, kann man zu dem Zeitpunkt noch gar nicht verstehen.
Auch Henry hat einen besonderen Zugang zur Natur, allerdings liegt seine beste Zeit hinter ihm, denn im Moment lebt er als Obdachloser auf der Straße. Henry gehört zu den Figuren, über die ich gerne mehr erfahren hätte.

Der erste Tag
Auf dem Marktplatz in Thalheim befindet sich auch das Geschäft von Theres und Walter, mit dem es, seit sich außerhalb Discounter angesiedelt haben, bergab geht, was Walter in eine Depression stürzt. Theres lebt für ihre Überraschungseier-Sammlung, das tägliche Öffnen von sorgfältig ausgewählten Eiern scheint ihr Highlight zu sein.
Doch als Edna, eine ältere Dame, ehemals Lokführerin, Manu auf dem Dach des Hauses oberhalb von Marens Wohnung entdeckt und die Polizei informiert, ist auf dem Marktplatz – und plötzlich auch im Laden - die Hölle los. Felix wird zu dem Einsatz gerufen, er soll mit der jungen Frau verhandeln. Die Polizei reagiert über, anstatt den Platz zu räumen, taucht sogar das Fernsehen auf, Schaulustige versammeln sich, drehen Filme.
Unter ihnen die Jugendliche Winnie, die aufgrund der Tatsache, dass sie nicht dem gängigen Schlankheitsideal entspricht, in ihrer Klasse ausgegrenzt wird. Der Handlungsfaden um Winnie und ihrer Widersacherin Salome gehört zu den wenigen, die ich nicht so überzeugend fand. Auch das Verhalten von Manus Schwester Astrid, die gerade als Bürgermeisterin von Freiburg kandidiert, ist wenig glaubwürdig. Da bedient sich die Autorin einiger Klischees, ebenso bei der Darstellung des italienischen Designers, ein Handlungsstrang, auf den ich hätte verzichten können.
Allerdings haben diese Szenen auch komische, fast schon satirische Elemente, die jedoch in meinen Augen nicht ganz stimmig zu den sehr ernsten sind.
Doch auf den „schwächeren“ Mittelteil des Romans folgt der „zweite Tag“ und es kommt zu einigen überraschenden Wendungen sowie Einblicken in die Vergangenheit der Figuren, die erklären, warum sie in dieser Situation so reagiert haben.
Die Ausnahmesituation um Manu zeigt, wie ein einzelnes Ereignis, viele Personen beeinflusst, manche sogar so sehr, dass ihr Leben eine neue Wendung erfährt. Wie ein Stein, der ins Wasser fällt und seine Kreise zieht.
Beeindruckt hat mich auch die Sprache des Romans, so dass ich ihn trotz einiger Szenen, die mir weniger gut gefallen haben, gerne weiter empfehlen werde.

Samstag, 7. September 2019

Mick Herron: Dead Lions

- der 2.Fall für Jackson Lamb und seine Slow Horses.

Leserunde auf whatchaReadin

Der vorliegende Agententhriller ist die Fortsetzung von "Slow Horses", das sind ausgemusterte Agent*innen des MI5, die aufgrund eines kapitalen Fehlers oder Fehlverhaltens ihre Tage in Slough House, einem heruntergekommen Bürogebäude fristen. Da sie nicht gekündigt werden können, sollen sie vor Langeweile "umkommen", so dass sie von selbst den Dienst quittieren. Sie erstellen Statistiken, werten Fotos aus, kurz: es sind Arbeiten, vor denen man weglaufen möchte.

An der Spitze steht der unsympathisch wirkende Jackson Lamb, der seine Mitarbeiter*innen wie Fußabtreter behandelt, ungehemmt furzt, wenn sie in seinem Büro sind, doch wenn es hart auf hart kommt, setzt er sich für sie ein - so ist es zumindest im ersten Teil. Ist er immer noch loyal?

Zu den altbekannten Gesichtern, die im ersten Kapitel erzähltechnisch clever von einer fiktiven Katze vorgestellt werden, die durch die Räume des Slough House streift, gehören:

- Catherine Standish, die ehemalige "Moneypenny" des Secret Service Chefs, trockene Alkoholikerin,
- Min Harper, der einen wichtigen Datenträger in der U-Bahn hat liegen lassen,
- Louisa Guy, die eine Zielperson aus den Augen verloren hat,
- Roderick Ho, Computer-Genie, der nicht weiß, warum er abgeschoben wurde,
- River Cartwright, der aufgrund einer Intrige dorthin geraten ist - dank James Webb, der Spinne - und  dessen Großvater einst eine wichtige Rolle beim MI5 gespielt hat - auch in diesem Fall versorgt er ihn mit relevanten Informationen.

Die Neuen sind Shirly Dander und Marcus Longridge, die sich ein Büro teilen und einander argwöhnisch betrachten, da es heißt, Diana Taverner, die Vizechefin des MI5, habe einen Maulwurf bei den Slow Horses untergebracht.

Der Fall
Der einstige Agent Dickie Bow stößt zufällig in London auf einen ehemaligen russischen Agenten, der ihn während des Kalten Krieges in Berlin entführt hat. Während der Verfolgung wird er getötet, hinterlässt jedoch im Sitz eines Busses ein Handy, dessen Botschaft "Cicadas" (66) lautet. Jene Nachricht findet Jackson Lamb, der mit Bow gemeinsam in Berlin gewesen ist und nicht daran glaubt, dass er an einem Herzanfall bzw. an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben ist.
Zikaden können sehr lange unter der Erde bleiben, bis sie plötzlich erwachen und dann zu singen beginnen. Ist der Code eine Hinweis auf sogenannten Schläfer - auf Agenten, die immer noch im Dienst des russischen Geheimdienstes stehen und auf ihr Aufwachen warten? Zumindest gab es eine Legende, die genau das besagt, allerdings ging man beim MI5 davon aus, dass es genau das ist - eine Legende, dass dieses Netzwerk aus Zikaden nicht existiert und deren Kopf ebenso wenig.

Zeitgleich werden Louisa und Min, die inzwischen ein Liebespaar sind, von James Webb aquiriert - sie sollen Babysitter für einen russischen Oligarchen spielen, der nach London kommt und mit dem wichtige Geschäfte anstehen. Oder verfolgt Webb andere Ziele und die Slow Horses sind sein Notnagel, falls es schief geht?

Wie hängen die beiden Handlungsstränge miteinander zusammen? Und welche Rolle spielt das kleine englische Dorf Upshott, in das Jackson Lamb River Cartwright schickt, da dort der russische Agent zuletzt gesehen wurde?

Ein spannender Fall mit außergewöhnlichen Anti-Helden, die - sieht man von Lamb ab - durchaus sympathisch sind! Permanent muss man beim Lesen die eigenen Vermutungen revidieren, Erwartungen werden nicht erfüllt, unerwartete Wendungen überraschen. Das Ende ist furios und ich konnte den Roman nicht mehr aus der Hand legen, bis alle Puzzleteile an ihren Platz gefallen sind. Beste Unterhaltung, ich freue mich schon auf die Fortsetzung.

Vielen Dank dem Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.