Dienstag, 30. April 2019

Lukas Hartmann: Der Sänger

"Ein Lied geht um die Welt"

Leserunde auf whatchaReadin

Im September 1942 befindet sich der berühmte jüdische Tenor Joseph Schmidt aus Bukowina, Czernowitz, auf der Flucht. Zu Beginn der Handlung versteckt er sich im Haus von Freunden, im Süden Frankreichs.
Während er am letzten Abend dort die Elegie von Massenet singt, denkt er über seine Situation nach.

"Geliebte hatte er, der Sänger, viele gehabt und sie immer wieder verlassen, wie er nun auch diesen Ort verlassen würde. Nicht um der Einen die Treue zu halten, der Mutter, die starrsinnig in Czernowitz bleiben wollte, sondern dieses Mal, um der Deportation zu entgehen und sein Leben zu retten. Die Deutschen warne unterwegs in Pétains Rumpf-Frankreich und durchsuchten es nach versteckten Juden, sie würden auch nach La Bourboule kommen." (7)

Er hadert damit, dass er, den "man als den deutschen Caruso bejubelt hatte, [...] aus den Blättern und Radiosendern verschwunden, aus Filmen herausgeschnitten [war], die Schallplatten gab es nicht mehr in den Läden. [...] Er wusste, worum es ging: um die Ausrottung des Judentums in Europa." (8-9)

Um den Nationalsozialisten zu entgehen, ist eine Fluchtroute bereits festgelegt, ein Passeur soll ihm gemeinsam mit seiner Geliebten Selma, deren Bruder in der Schweiz lebt, sowie weiteren Flüchtlingen helfen, über die Schweizer Grenze zu gelangen. Schmidts rumänischer Pass ist ungültig, als staatenloser Jude hat er kaum eine Chance legal über die Grenze zu kommen.

"Die Schweiz hatte in den letzten Monaten ihre Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge rigoros verstärkt, Juden, erkennbar meist am J im Pass, wurden seit August konsequent zurückgewiesen." (12)

Trotzdem gelingt ihm die Einreise, wenn auch nicht ohne Hindernisse und Umwege. Sein Berühmtheit erleichtert ihm jedoch die Situation nicht - im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, dass an ihm eine Art Exempel statuiert werden soll.

"[E]s sei beschlossene Sache, den Deutschen zu zeigen, dass der berühmte Joseph Schmidt gleich behandelt werde wie ein x-beliebiger jüdischer Viehhändler." (231)

Neben der personalen Perspektive aus der Sicht des Sängers Joseph Schmidt sind in die Handlung Aussagen eines Schweizer Doktor der Jurisprudenz in der Eidgenössischen Polizeiabteilung eingefügt, in denen dieser den Versuch unternimmt, die strengen Gesetze des Bundesrates zur Begrenzung des Flüchtlingsstroms mit ökonomischen Argumenten sowie der Bemerkung, man dürfe der Bevölkerung keine Überfremdung zumuten, zu rechtfertigen.

"Die Stimmung gegen Juden hat sich auch bei uns verstärkt. Das war noch anders vor dem Krieg. Nun ducken sich ja alle vor einem möglichen Überraschungsangriff der Wehrmacht." (88)

So erhält der Einzelfall Joseph Schmidt eine politische, allgemeinere Dimension.
Einschübe gibt es auch von einem seiner weiblichen Fans aus der Schweiz. Eine alte Dame, die sich daran erinnert, wie Joseph Schmidt in ihrer Nähe in einem Internierungslager untergebracht wurde und wie sie sich bemüht hat, ihn zu treffen. Diese Schilderungen verleihen dem Roman Authentizität und stellen das, was dem Sänger widerfahren ist, aus einer weiteren Perspektive dar.

Immer wieder werden die Ereignisse der Gegenwart von Erinnerungen des Sängers durchzogen. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei seine große Liebe zur Musik.

"Töne hatten Jossele von klein auf magisch angezogen, auch die Stimmen von Tieren, die er bald nachzuahmen versuchte, so wie er im Bethaus schon mit drei, vier Jahren in die gesungenen Gebete einstimmte, oft zum Verdruss des Vorsängers. Vom Singen ließ er sich nicht abhalten (...) " (19)

Der Musik ordnet er alles unter, auch seine Rolle als Vater. Er hat einen 7-jährigen Sohn, Otto, Lotte, dessen Mutter reist ihm nach, bittet ihn um Geld und um eine legale Verbindung. Doch er weist sie zurück.

"Aber die Vaterrolle im Ernst übernehmen, das konnte er nicht, er reiste zu viel herum." (21)

Zudem liebt er sein unstetes Leben, hat Geliebte, gibt sein Geld freigiebig aus, er ist ein "Bonvivant" (15), dessen Konstante im Leben die Mutter zu sein scheint. An sie, die inzwischen im Ghetto in Czernowitz ist, denkt er besonders oft. Sie, die ihn - im Gegensatz zum Vater - in seiner Liebe zur Musik unterstützt und durchgesetzt hat, dass er Sänger werden konnte.

Der Roman bringt den Leser*innen die etwas eigensinnige Person Joseph Schmidt näher, der unter seiner Größe (1,54 m) gelitten hat und dessen schwieriges Verhältnis zum Vater eine Ursache dafür sein kann, dass er selbst seine Vaterrolle nicht ausfüllen konnte.

Gleichzeitig stellt er die in der Schweiz während des 2.Weltkrieges herrschende Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden dar. Die Parallelen zur heutigen Zeit scheinen nicht zufällig zu sein, das ist auch der Tenor in der Leserunde.

Doch Hartmann klagt nicht nur an, sondern erzählt auch von Menschen, die Schmidt geholfen und sich der offiziellen Politik widersetzt haben, und somit als positives Beispiel gelten können.
Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!

Ein Dankeschön an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.

Donnerstag, 11. April 2019

Joel Dicker: Das Verschwinden der Stephanie Mailer

- eine große Enttäuschung.

Leserunde auf whatchaReadin

Dickers Romane "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" und "Die Geschichte der Baltimores" habe ich jeweils als Hörbuch genossen: Geschichte, Schreibstil und Figuren haben mich gleichermaßen begeistert - Spannung auf hohem Niveau.
Umso enttäuschter bin ich, dass der neue Roman diese Erwartungen in keinster Weise erfüllen kann - und das sehen viele aus der Leserunde ebenso.
Der Geschichte ist viel zu konstruiert - es gibt zahlreiche Nebenhandlungen, die sich erst allmählich mit der Haupthandlung verknüpfen, aber nicht nahtlos einfügen. Während in den anderen Romanen die Nebenfiguren jeweils glaubwürdig und authentisch gezeichnet sind, wartet "Das Verschwinden der Stephanie Mailer" mit stereotyp überzeichneten Personen auf, die so unglaubwürdig wirken, dass es beim Lesen "weh" tut. Klischees werden bedient, wenn die Geliebte eines verheirateten Mannes diesen nur ausnutzt, sich teure Geschenke machen lässt und droht, seiner Frau alles zu erzählen.
Die Hauptfiguren, die drei Ermittler Jesse Rosenberg, Derek Scott und Anna Kanner wirken realitätsnaher, aber auch sie weisen in ihrem Verhalten Brüche auf, die man als Leser*in nicht immer nachvollziehen kann. Obwohl ich mich bei der Lektüre über Schreibstil - zu berichtend, teilweise gruselige Dialoge - und Figurenkonzeption geärgert habe, habe ich den Roman doch zu Ende gelesen, weil ich wissen wollte, wer denn jetzt den Vierfach-Mord im Jahr 1994 begangen hat - der im Mittelpunkt des Geschehens steht.

Handlung
Am 30.Juli 1994 wird das beschauliche Orphea in den Hamptons zum Schauplatz eines schrecklichen Mordes und das just am Abend des ersten Theaterfestivals. Der Bürgermeister wird samt Frau und Sohn erschossen, genau wie eine Joggerin, die sich vor dem Haus befunden hat. Da sich fast die gesamte Bevölkerung währenddessen im Theater befindet, wird es für die beiden jungen Ermittler Jesse Rosenberg und Derek Scott schwierig, Zeugen ausfindig zu machen. Dennoch gelingt es ihnen den Fall zu lösen.
Doch 20 Jahre später taucht die Journalistin Stephanie Mailer bei Rosenberg auf, der mit Mitte 40 den Dienst quittieren will, um etwas Neues zu beginnen, und erklärt ihm, sie hätten damals den Falschen überführt und sie habe neue Informationen zu dem Vierfach-Mord. Kurz darauf verschwindet sie.

Obwohl Rosenberg eigentlich verabschiedet werden soll, lässt ihm das Gespräch mit Mailer keine Ruhe, so dass er gemeinsam mit seinem alten Freund Derek, der inzwischen nur noch Innendienst verrichtet, und der jungen Polizistin Anna Kanner, die in Orphea einen Neuanfang starten will, den alten Fall wieder aufrollt. Was befindet sich direkt vor ihrer Nase, dass sie nicht gesehen haben? Genau das hat Stephanie vor ihrem Verschwinden Jesse "vorgehalten".
Die Handlung springt zwischen den Ereignissen im Jahr 1994 und der Gegenwart, die vorwiegend aus der Sicht Jesses erzählt wird, wobei es einen Countdown zum 20.Theaterfestival gibt:

"Jesse Rosenberg
Mittwoch, 9. Juli 2014, Los Angeles
17 Tage vor der Premiere",

so dass diesem Datum eine besondere Relevanz zuzukommen scheint.

Mehrere Figuren erzählen aus ihrer Sicht, während Jesse die Ereignisse der Gegenwart "berichtet", erfahren wir von Derek etwas über die Ermittlungen im Jahre 1994. Auch Anna Kanner kommt zu Wort sowie eine Fülle weitere Figuren, die alle irgendetwas mit dem Mord vor 20 Jahren zu tun haben oder in der Gegenwart eine Verbindung zu Stephanie Mailer aufweisen.

Eine besondere Rolle scheint der derzeitige Bürgermeister Alan Brown zu spielen, der damalige Vize-Bürgermeister, der Orphea in den letzten Jahren wirtschaftlich vorangebracht hat. Die Überschriften und Zeitangaben sorgen dafür, dass man nicht den Überblick verliert, allerdings die Lust am Lesen angesichts der überzeichneten, stereotypen, klischeehaften Figuren, ihrer furchtbaren Dialoge und ihrer willkürlichen Verhaltensweisen. Am Ende gibt es tatsächlich eine Lösung, die diesen Roman aber auch nicht mehr retten kann.

Wer die beiden ersten Roman von Dicker gern gelesen hat, sollte diesen erst gar nicht in die Hand nehmen - schade um die Lesezeit.

Trotzdem ein Dankeschön an den Piper-Verlag für das Leseexemplar.