"Ein Lied geht um die Welt"
Leserunde auf whatchaReadin
Im September 1942 befindet sich der berühmte jüdische Tenor Joseph Schmidt aus Bukowina, Czernowitz, auf der Flucht. Zu Beginn der Handlung versteckt er sich im Haus von Freunden, im Süden Frankreichs.
Während er am letzten Abend dort die Elegie von Massenet singt, denkt er über seine Situation nach.
"Geliebte hatte er, der Sänger, viele gehabt und sie immer wieder verlassen, wie er nun auch diesen Ort verlassen würde. Nicht um der Einen die Treue zu halten, der Mutter, die starrsinnig in Czernowitz bleiben wollte, sondern dieses Mal, um der Deportation zu entgehen und sein Leben zu retten. Die Deutschen warne unterwegs in Pétains Rumpf-Frankreich und durchsuchten es nach versteckten Juden, sie würden auch nach La Bourboule kommen." (7)
Er hadert damit, dass er, den "man als den deutschen Caruso bejubelt hatte, [...] aus den Blättern und Radiosendern verschwunden, aus Filmen herausgeschnitten [war], die Schallplatten gab es nicht mehr in den Läden. [...] Er wusste, worum es ging: um die Ausrottung des Judentums in Europa." (8-9)
Um den Nationalsozialisten zu entgehen, ist eine Fluchtroute bereits festgelegt, ein Passeur soll ihm gemeinsam mit seiner Geliebten Selma, deren Bruder in der Schweiz lebt, sowie weiteren Flüchtlingen helfen, über die Schweizer Grenze zu gelangen. Schmidts rumänischer Pass ist ungültig, als staatenloser Jude hat er kaum eine Chance legal über die Grenze zu kommen.
"Die Schweiz hatte in den letzten Monaten ihre Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtlinge rigoros verstärkt, Juden, erkennbar meist am J im Pass, wurden seit August konsequent zurückgewiesen." (12)
Trotzdem gelingt ihm die Einreise, wenn auch nicht ohne Hindernisse und Umwege. Sein Berühmtheit erleichtert ihm jedoch die Situation nicht - im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, dass an ihm eine Art Exempel statuiert werden soll.
"[E]s sei beschlossene Sache, den Deutschen zu zeigen, dass der berühmte Joseph Schmidt gleich behandelt werde wie ein x-beliebiger jüdischer Viehhändler." (231)
Neben der personalen Perspektive aus der Sicht des Sängers Joseph Schmidt sind in die Handlung Aussagen eines Schweizer Doktor der Jurisprudenz in der Eidgenössischen Polizeiabteilung eingefügt, in denen dieser den Versuch unternimmt, die strengen Gesetze des Bundesrates zur Begrenzung des Flüchtlingsstroms mit ökonomischen Argumenten sowie der Bemerkung, man dürfe der Bevölkerung keine Überfremdung zumuten, zu rechtfertigen.
"Die Stimmung gegen Juden hat sich auch bei uns verstärkt. Das war noch anders vor dem Krieg. Nun ducken sich ja alle vor einem möglichen Überraschungsangriff der Wehrmacht." (88)
So erhält der Einzelfall Joseph Schmidt eine politische, allgemeinere Dimension.
Einschübe gibt es auch von einem seiner weiblichen Fans aus der Schweiz. Eine alte Dame, die sich daran erinnert, wie Joseph Schmidt in ihrer Nähe in einem Internierungslager untergebracht wurde und wie sie sich bemüht hat, ihn zu treffen. Diese Schilderungen verleihen dem Roman Authentizität und stellen das, was dem Sänger widerfahren ist, aus einer weiteren Perspektive dar.
Immer wieder werden die Ereignisse der Gegenwart von Erinnerungen des Sängers durchzogen. Ein wiederkehrendes Motiv ist dabei seine große Liebe zur Musik.
"Töne hatten Jossele von klein auf magisch angezogen, auch die Stimmen von Tieren, die er bald nachzuahmen versuchte, so wie er im Bethaus schon mit drei, vier Jahren in die gesungenen Gebete einstimmte, oft zum Verdruss des Vorsängers. Vom Singen ließ er sich nicht abhalten (...) " (19)
Der Musik ordnet er alles unter, auch seine Rolle als Vater. Er hat einen 7-jährigen Sohn, Otto, Lotte, dessen Mutter reist ihm nach, bittet ihn um Geld und um eine legale Verbindung. Doch er weist sie zurück.
"Aber die Vaterrolle im Ernst übernehmen, das konnte er nicht, er reiste zu viel herum." (21)
Zudem liebt er sein unstetes Leben, hat Geliebte, gibt sein Geld freigiebig aus, er ist ein "Bonvivant" (15), dessen Konstante im Leben die Mutter zu sein scheint. An sie, die inzwischen im Ghetto in Czernowitz ist, denkt er besonders oft. Sie, die ihn - im Gegensatz zum Vater - in seiner Liebe zur Musik unterstützt und durchgesetzt hat, dass er Sänger werden konnte.
Der Roman bringt den Leser*innen die etwas eigensinnige Person Joseph Schmidt näher, der unter seiner Größe (1,54 m) gelitten hat und dessen schwieriges Verhältnis zum Vater eine Ursache dafür sein kann, dass er selbst seine Vaterrolle nicht ausfüllen konnte.
Gleichzeitig stellt er die in der Schweiz während des 2.Weltkrieges herrschende Flüchtlingspolitik gegenüber den Juden dar. Die Parallelen zur heutigen Zeit scheinen nicht zufällig zu sein, das ist auch der Tenor in der Leserunde.
Doch Hartmann klagt nicht nur an, sondern erzählt auch von Menschen, die Schmidt geholfen und sich der offiziellen Politik widersetzt haben, und somit als positives Beispiel gelten können.
Ein lesenswerter Roman gegen das Vergessen!
Ein Dankeschön an den Diogenes-Verlag für das Rezensionsexemplar.