Dienstag, 18. August 2020

Sandra Brökel: Das hungrige Krokodil

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Geschichte des tschechischen Kinder- und Jugendpsychiaters Pavel Vodák, der im Jahr 1970 aus der dem sozialistischen Staat fliehen will, nachdem der Prager Frühling im Jahr 1968 - und auch seine Hoffnungen - gewaltsam niedergeschlagen wurden.

Die Geschichte beginnt am 25.6.1970, am Vorabend seiner Flucht, an dem Pavel, aus dessen personaler Perspektive die Handlung erzählt wird, über sein Leben reflektiert und in Endlosschleifen darüber nachdenkt, ob er die Gefahr einer Flucht wirklich auf sich nehmen will. 
Aber es bleibt ihm keine Wahl aus seiner geliebten Heimatstadt Prag zu fliehen:
"Er steht unter Beobachtung, darf nicht mehr ins westliche Ausland reisen. Keine Dozententätigkeit mehr, kein fachlicher Austausch auf Kongressen, keine Begegnungen mit frei denkenden Menschen. Pavel hat aufgehört, die Warnschüsse zu zählen. Äußerlich ließ er sie abprallen, innerlich reiht sich Wunde an Wunde. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur Stunden, bis er endgültig getroffen und niedergestreckt wird." (10)

Er will vor allem für seine 12jährige Tochter Pavlina fliehen, dass "ein politisches System die Potenziale einer nächsten Generation einschränkt, ist ihm unerträglich. Der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, für den er einst kämpfte und alles riskierte, wurde am 21.August 1968 unter Panzerketten begraben." (15)

Am Vorabend der Flucht erhält er deutsche Pässe für seine Frau, seine Tochter, seine Schwiegermutter und sich selbst. "Ausgerechnet deutsche Pässe. Deutsche! Jene Menschen, die einst tiefste traumatische Erlebnisse in Pavels Seele säten, wandeln sich heute zu Verbündeten." (17)

Als er im Bett liegt und auf den als Urlaubsreise getarnten Beginn der Flucht wartet, denkt Pavel an sein Leben zurück. Die Handlung springt zurück zum 15.März 1939, als die Nationalsozialisten widerrechtlich das verbliebene Staatsgebiet der Tschechoslowakei besetzt haben. Da ist Pavel 18 Jahre alt. Seine Mutter ist eine Deutsche, "weniger die Kategorie böhmische Hausfrau, eher die Dame von Welt" (32), sein Vater ein tschechischer Offizier.
Die Wehrmachtssoldaten nimmt er als "Krokodil" wahr, eine Metapher, die im Verlauf des Romans für "Vernichtungskraft" (55) steht, die überall lauert.

Während des Krieges wird ihm  das Medizinstudium verwehrt, hilflos erlebt er die Demütigung jüdischer Freunde und wie so viele andere, will er die Gräueltaten aus den Konzentrationslagern, von denen erzählt wird, nicht glauben. Bis er selbst unmittelbar nach Kriegsende als Medizinstudent nach Theresienstadt kommt.

"Ursprünglich wollte er Arzt werden, um Menschen zu heilen. Jetzt lernt er, wie sie sterben. Erwachsene bäumen sich auf und klammern sich fest. Kinder verabschieden sich still wie das Licht einer dünnen Kerze im Wind. Das ist, obwohl so leise und beiläufig, schwerer auszuhalten." (83)

Ein Bild, das wirklich zu Herzen geht. Pavel muss gleichzeitig erkennen, dass das Krokodil überall lauert: „Wer oder was ist das Krokodil?“ (85)

Die verschiedenen Ausschnitte aus Pavels Leben geben jeweils einen intensiven Einblick in die Zeitgeschichte und seine persönliche Entwicklung, die damit einhergeht. Der Schrecken der Nazidiktatur, die Erlebnisse in Theresienstadt, der Sozialismus, die neue Diktatur - wieder ein hungriges Krokodil - und die Hoffnung auf eine Öffnung, die gnadenlos zerschlagen wird. Die beiden Tage im August 1968 erhalten dadurch, dass zwei aufeinanderfolgende Kapitel zwei Tage hintereinander schildern, besonderes Gewicht. Das Präsens sorgt dafür, dass das Lesetempo hoch gehalten wird, man ist mittendrin.

Nach dem Rückblick auf Pavels Leben wird seine Flucht und seine Ankunft im vermeintlichen goldenen Westen geschildert. Es spricht für die Autorin, dass sie dies realistisch erzählt, mit all den Zweifeln, die Pavel überkommen. Wie schwierig es ist, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, wird eindrücklich aufgezeigt, aber auch dass es Jüngeren gelingen kann, wie das Beispiel seiner Tochter zeigt.
Insgesamt ein empathischer Roman, der historisch sehr interessant ist und auch für Jugendliche eine spannende - und lehrreiche - Lektüre bietet, ohne dass der viel zitierte pädagogische Zeigefinger erhoben wird.

Noch interessanter wird es, wenn man die Entstehungsgeschichte des Romans "Pavel und ich" liest. Darin erzählt Sandra Brökel amüsant und auch spannend, wie sie auf die Notizen des tschechischen Arztes gestoßen ist und warum gerade sie dessen Lebensgeschichte aufschreiben musste.

Vielen Dank dem Pendragon-Verlag für die Leseexemplare.

Donnerstag, 6. August 2020

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben

- ein Erzählband.


In den Geschichten thematisiert Schlink das Abschiednehmen, wie der Titel bereits vermuten lässt, allerdings geht es nicht nur um den Abschied von einer geliebten Person, sondern die Plots der Erzählungen und die Art und Weise, wie sie erzählt werden, sind vielfältig und sehr unterschiedlich.

"Abschied muss sein; das Wissen, dass einer gestorben ist, bleibt beunruhigend, bis der Abschied ihn seine Ruhe finden lässt - und einen selbst." (7)

"Es hilft, beim Sterben dabei zu sein." (7)

Der Ich-Erzähler, Informatiker, der ein staatliches Institut in der ehemaligen DDR geleitet hat, führt in der ersten Geschichte "Künstliche Intelligenz" zunächst seine Gedanken zum Thema Abschied nehmen von Verstorbenen aus - die allgemeinen Gedanken bieten insofern einen perfekten Einstieg in den Erzählband. Von Menschen, die man nicht so oft treffe und mit denen man nicht mehr so oft zu tun habe, falle der Abschied schwerer, dazu zählt auch sein Freund Andreas, der ebenso wie er selbst als Informatiker am gleichen Institut gearbeitet hat. Stutzig gemacht haben mich die Gedanken zu Andreas Tod -

"(...) auch mit ihm blieb ich im Zwiegespräch, als gelte es, nur eine Weile zu überbrücken, bis wir uns wiedersähen. Und während ich, als Andreas lebte, Angst hatte, unsere Freundschaft könnte plötzlich einer Belastung ausgesetzt werden, war das Zwiegespräch mit dem toten Andreas angstfrei." (10)

Welches Geheimnis birgt der Ich-Erzähler? Schlink deckt ganz geschickt Schritt für Schritt das Ausmaß eines Verrats auf, für den sich Andreas Freund rechtfertigt, indem er jegliche Schuld von sich weist und keine Reue zeigt.
Der Ich-Erzähler ist bis zum Schluss überzeugt das Richtige getan zu haben - die Leser*innen werden das anders wahrnehmen.

Auch in der zweiten Geschichte "Picknick mit Anna" steht ein männlicher Ich-Erzähler im Vordergrund, und wie in der ersten thematisiert sie nicht nur den Abschied von einem Menschen, sondern auch die Schuld, die damit einhergeht. Ein ältere Herr hat nachts von seinem Fenster aus beobachtet hat, wie Anna zusammengeschlagen wurde und an den Folgen verstorben ist. Warum hat er die Polizei oder den Notarztwagen nicht informiert, obwohl er Anna gut gekannt hat. Langsam entwirrt sich das komplizierte Beziehungsgeflecht, das ihn mit der jungen Frau verbunden hat.

"Geschwistermusik" gehört neben "Der Sommer auf der Insel" und "Daniel, my Brother" zu den Geschichten, die mir am besten gefallen haben.

Sie offenbart ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen einem Jungen, Philip, der sich in seine Klassenkameradin verliebt, die - so seine Interpretation - ihn benutzt, damit ihr behinderter Bruder einen Freund hat. Jahre später trifft er sie wieder und muss erkennen, dass er sich von seiner Sicht der Geschichte verabschieden muss.

Im Sommer auf der Insel verabschiedet sich ein 11-jähriger Junge, der allein mit seiner Mutter im Jahr 1957 Urlaub macht, von seiner Kindheit und entdeckt die weibliche Sexualität. Aber auch die Mutter muss Abschied nehmen von einem alternativen Leben, einer Liebe, die nicht gelebt werden kann, ebenso wie in der Geschichte "Altersflecken" ein 70-Jähriger über die verpassten Gelegenheiten seines Lebens sinniert, während in "Jahrestag" eine Beziehung zwischen einem älteren Mann und einer jungen Frau im Mittelpunkt steht. Er nimmt Abschied von dem Gedanken, ihr alles geben zu können.

Die Geschichte "Das Amulett" zeigt, wie eine von ihrem Mann verlassene Frau, loslassen muss, wie es ihr gelingt ihre Wut, aber auch ihre Trauer hinter sich zu lassen - eine sehr beeindruckende psychologische Studie.

Die persönlichste Geschichte ist "Daniel, my Brother", die autobiografischen Bezüge drängen sich auf, da der Ich-Erzähler Schriftsteller ist und Jura studiert hat. Der Ich-Erzähler verabschiedet sich von seinem Bruder, der gemeinsam mit seiner Frau Selbstmord begangen hat, da sie schwer krank ist und er offenbar am Ende seiner Kräfte. Allmählich kommen die Erinnerungen.
"Sie stahlen sich schon in die Nacht, nicht als Bilder und Geschichten aus der Vergangenheit, aber als Erschrecken, verloren zu sein." (178)
Der Ich-Erzähler rekapituliert das Verhältnis zu seinem Bruder, stellt die positiven, aber auch negativen Seiten heraus, stolpert über einige Erinnerungen, hadert.
Der Trauerprozess ist sensibel und empathisch nachvollziehbar geschildert, ein Stück Prosa, das man immer wieder zur Hand nehmen möchte.

Nur eine Geschichte hat mich enttäuscht, und wie mir ging es einigen aus der Leserunde ebenso damit:
"Geliebte Tochter" fängt gut an, doch die Wende wirkt konstruiert, zudem hat sich uns nicht erschlossen, welche "Botschaft" Schlink mit dieser Geschichte vermitteln will. Allerdings stellt sich die Frage, ob immer eine Botschaft nötig ist ;) Auf jeden Fall laden die Erzählungen zum Diskutieren ein!

Insgesamt wunderbare Prosa, die nachhallt und die immer wieder gelesen werden kann, da sie sich durch authentische Figuren, eine plausible Handlung mit unerwarteten Wendungen und nicht zuletzt durch eine unprätentiöse Sprache auszeichnet. 

Vielen Dank dem Diogenes Verlag für das Leseexemplar.