Sonntag, 19. März 2023

Percival Everett: Die Bäume


Leserunde bei whatchaReadin


Der Roman basiert auf einem historischen Fall: Im Jahr 1955 wurde der 14-jährige Emmett Louis Till, ein US-Amerikaner afroamerikanischer Abstammung, in Money, Mississippi vom Lebensmittelhändler Roy Bryant und dessen Halbbrunder J.W.Milam grausam ermordert, weil er angeblich Bryants Frau Carolyn „Bye, Babe“ gesagt und sie um die Taille gefasst haben soll.
Der Tod des Jungen löste eine nationale Debatte über Rassismus in den USA aus, trotzdem wurden die beiden Mörder von einer aus weißen Männern bestehenden Jury freigesprochen. (Quelle Wikipedia).


Everett lässt seine Handlung ebenfalls in Money spielen, Anfang des 21.Jahrhunderts, die einer der Protagonisten folgendermaßen beschreibt:
"Wir sind hier nicht in der Großstadt. Wir sind hier noch nicht mal im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir sind ja kaum im zwanzigsten, wenn Sie verstehen, was ich meine."
Ein Stadt, in der Rassismus auf der Tagesordnung steht und die Rednecks (im Sinne von konservativen Reaktionären) fast uneingeschränkt das Sagen haben.

Carolyn Bryant, die Emmett Till beschuldigt hat, lebt tatsächlich noch als Granny C bei ihrem Sohn Wheat Bryant und seiner Frau Charlene.
"Wheat war zurzeit arbeitslos, war ständig und immer zurzeit arbeitslos. Charlene wie oft und gern darauf hin, dass das Wort zurzeit ein Davor und ein Danach voraussetzte". (S.11)
Gleich zu Beginn offenbart Carolyn, deren Identität im Verlauf des Romans offenbart wird, ihren Meineid: "Ich hab dem kleinen Kerl unrecht getan. Wie es geschrieben steht: Alles rächt sich früher oder später." (S.17) - und das wird es tatsächlich, darum geht es in diesem Roman, um Rache für die Opfer der Lynchjustiz.

Unter mysteriösen Umständen werden nacheinander sowohl Junior Junior Milam, der Sohn J.W.Milams, als auch Wheat Bryant getötet. Neben ihren verstümmelten Leichen, denen die Hoden abgeschnitten wurden, liegt jeweils eine schwarze Leiche, die eben jene Hoden in den Händen hält. In beiden Fällen ist es derselbe Tote, der nach dem ersten Mord an Milam auf ungeklärte Weise aus der Gerichtsmedizin verschwindet.
Der örtliche Sheriff Red Jetty ist nebst seinen wenig intelligenten Deputy Sheriffs Delroy Digby und Braden Brady mit den Morden überfordert, so dass sie Unterstützung vom MIB (=Mississippi Investigation Bureau) erhalten.
Red Jetty Kommentar:
"Großstadtbullen kommen hierher zum Arsch der Welt, um den Hinterwäldlern zu helfen. Keine Sorge. Ich bin nett zu den Scheißern." (S.37)

Ed Morgan und Jim Davis, beide afroamerikanischer Herkunft, nehmen sich des Falls an und freunden sich mit Kellnerin Gertrude an, die zu Mama Z. führt. Welche Rolle spielt diese über 100 Jahre alte Dame, ebenfalls afroamerikanischer Herkunft, die in einem Archiv die Namen aller Opfer von Lynchmorden in den USA gesammelt hat?
Das Morden oder besser gesagt, die Racheakte gehen weiter – und zwar nicht nur in Money, sondern in den gesamten Vereinigten Staaten, wobei die Opfer ausschließlich weiße Rassisten sind, denen allesamt die Hoden abgeschnitten werden und jeweils von einem Toten – afroamerikanischer, asiatischer oder indigener Herkunft in der Hand gehalten wird. Wer steckt hinter all diesen Rachemorden? Geht es nur noch um den Fall Emmett Till oder steht etwas größeres Ganzen dahinter? Woher kommen all die Toten?

Der Roman hat mich über viele Seiten begeistert, v.a. durch den Aufbau in kurze, actionreichen Kapitel, seine besondere Sprache, in der die tumben Weißen gnadenlos mit Witz durch den Kakao gezogen werden. Die Anhänger des ehemaligen Präsidenten Trumps, der ebenfalls einen satirisch überzeichneten Auftritt hat (der allerdings aus meiner Sicht weniger gelungen ist), werden in ihrer Dummheit, ihrem eingeschränkten Denken regelrecht vorgeführt, so dass man an vielen Stellen lachen muss. Das vergeht jedoch wieder schnell, wenn man sich die Lynchmorde und den alltäglichen Rassismus, unter dem Amerikaner:innen afroamerikanischer, aber auch asiatischer und indigenen Herkunft auch heute noch massiv leiden, vor Augen führt.

Der Roman ist eine „Rachefantasie“ (Klappentext), die gegen Ende hin ins Magisch-Realistische übergeht. Der Schluss lässt mich als Leserin etwas ratlos zurück, aber vielleicht ist gerade das die Absicht des Autors, der auf drastische Art und Weise auf den Völkermord an Schwarzen, Asiaten und Indigenen in den USA aufmerksam machen will.

Das ist ihm auf jeden Fall gelungen!







Sonntag, 5. März 2023

Janet Lewis: Draussen die Welt

 Leserunde auf whatchaReadin

Im Mittelpunkt des Romans, der 1943 zum ersten Mal in den USA erschienen ist und während der Weltwirtschaftskrise – ca.1929-1933 spielt, steht die etwa 50jährige Mary Perrault, die aus Schottland stammt, inzwischen jedoch in Kalifornien, in der Nähe von San Fransisco lebt. Sie ist glücklich verheiratet und hat vier Kinder – Jamie, Duncan, Andrew und die 15jährige Melanie. Ihr Mann ist gelernter Gärtner und arbeitet inzwischen bei den Wasserwerken, seine Leidenschaft ist jedoch seine Kaninchenzucht.


Zu Beginn lernen wir ihre ihre Freundin Agnes Hardy kennen.

„Sie waren zusammen aufgewachsen, diese beiden Frauen, in einer von Fischerei und Whiskyherstellung geprägten Stadt in Argyleshire. Und sie waren auch zusammen ausgewandert, doch ihre Wege hatten sich in New York getrennt, als Agnes Wilkie nach Kanada ging und Mary Knox nach Kalifornien.“ (S.14)

Während Agnes Besuch in Marys gepflegten Garten spürt man die tiefe Verbundenheit zwischen den Frauen und den Frieden, der über allem liegt.

„Es war ein Tag wie so viele in einer langen Reihe friedvoller Tage, und er enthielt keinerlei Warnung, dass er der letzte sein sollte. Und doch war Mary Perrault Jahre später in der Lage, auf diesen Nachmittag zurückzublicken wie auf eine in einem Rahmen gefasste Szene, die man im Gedächtnis an einem besonderen Ort bewahrte, und sich an die alltäglichen Worte und Gesten zu erinnern, an die Alltagsdinge, über die sie sprächen, die fortan für immer eine beständige Würde annahmen, die weit über die Worte und die Gesten aller anderen Nachmittage hinausreichte.“ (S.20)

 

Die Vorausdeutung verweist darauf, dass Agnes Hardy mit ihrem Auto verunglückt, weil sie die Eisenbahngleise überquert, ohne die herannahende Lokomotive zu bemerken. Bei dem Unglück kommen auch ihre beiden Enkelkinder um. Diese Tragödie führt dazu, dass Agnes Mann Lem in der Folge häufig in Marys Haus verkehrt und auch seine beiden Neffen, die zu ihm ziehen, Eustace und Walter, Bestandteil der Familie Perrault werden. 

Es geschieht im Folgenden recht wenig in diesem Roman – „Alltagsdinge“ werden geschildert, Anekdoten reihen sich aneinander, abwechselnd mit ausführlichen Landschaftsbeschreibungen, die in ihrer sprachlichen Ausgestaltung – viele Adjektive und Metaphern - teilweise ausufern, so dass ich mich beim Lesen ab und an gelangweilt habe.

 

Den Beginn des Romans erleben wir größtenteils aus der personalen Perspektive Mary Perraults und erfahren ihre Sicht der Dinge: Reflexionen über den Tod ihrer Freundin, Erinnerungen an ihre eigene Mutter und deren Erfahrungen mit dem Tod und auch die Frage, ob und wie sie ihre heranwachsende Tochter aufklären soll. Im Verlauf des Romans rückt dann Melanie in den Fokus: ihre Freundschaft und/oder Liebesbeziehung zu Eustace, ihre erste Arbeitsstelle, ihre Gedanken über das, was sie im Leben erreichen will. Im Mittelteil widmet sich der Roman vor allem den zwischenmenschlichen Beziehungen und den gesellschaftlichen Konventionen, mit denen die jungen Menschen konfrontiert werden.

 

„Sie verspürte leichte Erregung und Freude darüber, nunmehr verlobt zu sein, von der Freude abgesehen, dass soziale Normen erfüllt waren und man sich in der Situation so verhalten hatte, wie es sich gehörte.“ (158)

 

Es ist dieser Teil, den ich am stärksten finde und der auch – aus meiner Perspektive- unterhaltsam zu lesen ist, während der erste Teil zu wenig Dynamik entwickelt. 

Die Weltwirtschaftskrise wird zwar erwähnt:

„Im November dieses Jahres kam dann die Finanzkrise, die noch viele Jahre lang Folgen haben würde. Die Kinder der Perraults bemerkten kaum etwas davon, für sie war es lediglich eine weitere aufregende Nachricht n Zeitung und Radio“ (95),

spielt, entgegen der Ankündigung im Klappentext, eher eine untergeordnete Rolle. In der missglückten Beziehung zu den neuen Nachbarn tritt dieser Aspekt am Rande in Erscheinung.


Die Stärke des Romans bildet seine Hauptfigur. Marys Sicht auf die Dinge, „alles funktionierte besser, wenn man die Dinge so nahm, wie sie kamen, und nicht versuchte, sie zu sehr zu beeinflussen“ (255), bestimmen ihr Handeln, so dass sie für die anderen eine Art Bezugsperson wird, deren moralischem Urteil man vertrauen kann. 

Die Schwäche sehe ich in den ausufernden Beschreibungen und der fehlenden Handlung - sowohl innerer als auch äußerer – vieler Szenen.

 

Fazit: Man braucht Muße und Geduld, um diesen Roman zu lesen ;)