Donnerstag, 26. Januar 2017

Ray Bradbury: Fahrenheit 451

- eine Dystopie, in der es (fast) keine Bücher mehr gibt.

Ich habe zwar irgendwann einmal von diesem Roman gehört, aber auf den Autor Ray Bradbury aufmerksam geworden bin ich in einer Leserunde auf whatchareadin, in der wir einen seiner ersten Romane gelesen haben: "Das Böse kommt auf leisen Sohlen". Diese recht fantasievolle Gruselgeschichte hat mich neugierig auf "Fahrenheit 451" gemacht. Vielen Dank an den Diogenes-Verlag, der mir freundlicherweise dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Dem Roman vorangestellt ist eine Einleitung Ray Bradburys aus dem Jahr 2003 anlässlich des 50-jährigen Jubiläums - 1953 ist der Roman erstmals erschienen. Bradbury erzählt darin, dass "Fahrenheit 451" aus "Der Feuerwehrmann" entstanden ist und das er dieser 25000 Wörter langen Erzählung die gleiche Anzahl an Worten hinzugefügt hat - und das in nur neun Tagen. Seitdem wurde der Roman mehrfach für Theater, Film und sogar für eine Oper umgeschrieben, aber die Buchfassung hat Bradbury bewusst nie überarbeitet und widerstand der Versuchung die Geschichte abzuändern, obwohl er zahlreiche Leserbriefe erhalten hat, die nach dem Schicksal von Clarisse McClellan gefragt haben (vgl. S.13).

Fahrenheit 451 ist genau die Temperatur, bei der Bücherpapier zu brennen beginnt.

Inhalt
"Es war eine Lust, Feuer zu legen." (S.17)

So sieht es der Feuerwehrmann Montag, der Teil einer Mannschaft ist, dazu bestimmt die wenig versteckten und übrig gebliebenen Bücher dem Feuer zum Fraß vorzuwerfen.
Doch dann begegnet er dem unkonventionellen Mädchen Clarisse McClellan, das ihn ansieht, ihm zuhört und ihm die Frage stellt:

"Ist es wahr, dass die Feuerwehr einst Brände bekämpfte, statt sie zu entfachen?" (S.22)

Eine Frage, die er verneint, die aber Spuren hinterlässt.

"Was für eine seltsame Begegnung in der Nacht. Dergleichen war ihm noch nie vorgekommen, außer damals vor einem Jahr, als er nachmittags im Park einen alten Mann getroffen und sich mit ihm unterhalten hatte..." (S.25)

Am gleichen Abend unternimmt seine Frau, deren Leben ganz von den Fernsehwänden und deren Programm in ihrem Appartement bestimmt ist, einen Selbstmordversuch, an den sie sich am nächsten Morgen nicht erinnern will oder kann.

Amerika hat sich zu einer Diktatur gewandelt, in der das Denken ausgeschaltet werden soll und größtenteils ist. In eine Welt, in der die Menschen rund um die Uhr berieselt werden, in der Fernsehwirklichkeit mit der "Familie" leben, keine Muße und echte Freunde mehr haben, mit Autos rasen, um sich abzulenken, um nicht miteinander reden zu müssen.

"Die Leute reden über gar nichts. (...) Sie zählen meist nur Automarken oder Kleider oder Schwimmbäder auf und sagen >einfach toll!< Aber alle sagen dasselbe, niemandem fällt je etwas anderes ein." (S.50)

Beim nächsten Feuerwehreinsatz weigert sich eine alte Frau ihre Wohnung zu verlassen und verbrennt mit ihren Büchern, eines davon lässt Montag mitgehen. Dieser Einsatz verändert ihn - die Mitnahme des Buches, obwohl es nicht das erste ist, die Frau, die für ihre Bücher stirbt, die Grausamkeit der Feuerwehrleute. Und Clarisse ist verschwunden - wahrscheinlich überfahren von einem rasenden Auto. Am nächsten Morgen weigert er sich zur Arbeit zu gehen, so dass ihn der Feuerwehrhauptmann Beatty zuhause besucht - im Phönixwagen der Feuerwehr, um ihn davon zu überzeugen, dass Bücher Unheil bringen:

"Einst hatten die Bücher nur zu wenigen gesprochen, die da und dort und überall verstreut waren. Sie konnten es sich leisten, voneinander abzuweichen. Die Welt war geräumig. Aber dann begann es in der Welt von Augen und Ellbogen und Mäulern zu wimmeln." (S.78)

- denn in einer Diktatur sind voneinander abweichende Meinungen unerwünscht.

Beatty erläutert Montag auch, dass die Welt immer schneller wird, die Informationen immer oberflächlicher, kurzlebiger, Leben im Zeitraffer.

"Nimm, lies, schau! Jetzt, weiter, hier, dort, Tempo, auf, ab, rein, raus, warum, wie, wer, was, wo, eh? Uh? Ruck, zuck, Bim, Bam, Bumm? Zusammenfassungen von Zusammenfassungen, Zusammenfassungen der Zusammenfassungen von Zusammenfassungen. Poliitk? Eine Spalte, zwei Sätze, ein Schlagzeile! Und dann, mittendrin, ist plötzlich nicht mehr da. Wirbel den Geist des Menschen herum im Betrieb der Verlegen, Zwischenhändler, Ansager, dass das Teufelsrad alles überflüssige, zeitvergeudende Denken wegschleudert!" (S.80)

"Es kam nicht von oben, von der Regierung. Es fing nicht mit Verordnungen und Zensur an, nein! Technik, Massenkultur und Minderheitendruck brachten es gottlob ganz von allein fertig. Dem verdanken wir es, wenn unser Dauerglück heute ungetrübt bleibt (...)" (S.83)

Bücher verursachen Diskussionen, provozieren, stellen unterschiedliche Meinungen dar, vertreten Minderheiten, regen zum Denken an - also weg da mit, ist der Tenor von Beattys Rede, aber die Menschen selbst haben es soweit kommen lassen.

Montag ist jedoch nicht mehr bereit zurückzugehen, er möchte die Bücher retten, erkennt jedoch mithilfe eines Intellektuellen:

"Was Sie brauchen, sind nicht Bücher, sondern einiges von dem, was einst in Büchern stand." (S.113)

Während er nach einer spektakulären Flucht Verbündete findet, Menschen, die Bücher in ihrem Geist tragen, bricht der Krieg aus und die Chance auf eine neue Welt erstrahlt am Horizont.

"Sie waren durchaus nicht sicher, dass das, was sie im Kopf mit sich führten, jede künftige Morgenröte in reinerem Licht erstrahlen lassen würde; nichts war sicher, nur dass die Bücher hinter ihrer Stirn aufgehoben waren, dass die Bücher dort warteten, eingeschweißt, auf Käufer, die später einmal vorbeikommen mochten, manche mit sauberen, andere mit schmutzigen Fingern." (S.202)

Die Büchermenschen vergleichen die Menschen mit dem Vogel Phönix, allerdings wissen wir Menschen

"Was wir seit tausend Jahren an Wahnsinn angestellt habe, und solange wir das wissen und es uns immer wieder zu Gemüte führen, besteht Hoffnung, dass wir eines Tages doch einmal aufhören, diese verdammten Scheiterhaufen zu errichten und mitten hinein zu springen." (S.212)

Ein etwas pathetischer, aber doch hoffnungsvolles Ende.

Bewertung
Ein starker Roman, die eine Zukunft malt, wie wir sie hoffentlich nicht erleben müssen - eine Welt ohne Bücher und schlimmer (fast) ohne das Wissen darum, was in ihnen geschrieben steht.

Beeindruckt hat mich die Weitsicht Bradburys im Jahre 1953, er selbst spricht im Nachwort von der Prophezeiung des Hauptmanns Beatty:

"Denn wenn sich die Welt mit Nichtlesern, Nichtlernern, Nichtwissern füllt, braucht man Bücher nicht mehr zu verbrennen, oder? Wenn sich die Welt mit Breitband-Basketball und Football in MTV ertränkt, braucht es keinen Beattys mehr, die Kerosin anzünden oder Leser jagen." (S.227)

Eine sehr eindringliche Warnung und Bradbury nimmt interessanterweise die Eltern, Lehrer und Schüler in die Pflicht, "setzen Sie sich sich zu Ihrem Kind, schlagen Sie ein Buch auf, und beginnen Sie zu lesen." (S.227)

Er selbst ist ein Liebhaber von Bibliotheksregalen, was auch in seiner Erzählung "Das Böse kommt auf leisen Sohlen" durchscheint, der entscheidende Kampf zwischen Gut und Böse spielt sich dort in einer Bibliothek ab. Und wie jene lange Erzählung ist auch dieser Roman sprachlich außergewöhnlich, wenn auch nicht so metaphernreich.

Ein Roman, der zu Recht in Schulen gelesen wird - ein Plädoyer für das Lesen und immer noch brandaktuell ;)


Dienstag, 24. Januar 2017

John Fante: 1933 war ein schlimmes Jahr

Ich habe einen Traum...


Gebundene Ausgabe, 142 Seiten
mit einem Nachwort von Alex Capus
Aufbau Verlag, 14.November 2016

Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde auf Whatchareadin gelesen und bedanke mich beim Aufbau Verlag für das Rezensionsexemplar.



Inhalt
Dominic Molise ist 17 Jahre alt, wohnt in Roper in Colorado, am Fuß der Rocky Mountains und ist der Sohn eines im Winter arbeitslosen Maurers, dessen Eltern aus Italien nach Amerika ausgewandert sind, weil sie sich dort ein besseres Leben erhofft haben. Sein Vater spielt Billard, um die 6-köpfige Familie über Wasser zu halten, seine Mutter betet Tag und Nacht und seine Großmutter weigert sich, die englische Sprache zu lernen und bedauert Italien verlassen zu haben.
Doch Dominic hat einen Traum: Er möchte Baseballstar werden, da sein "Arm, mein gesegneter, heiliger, mir von Gott gegebener Arm" (S.7) verdammt gut werfen kann.

Der Roman beginnt mit einer kritischen Selbstreflexion Dominics, einem inneren Monolog:

"Ich hatte Säbelbeine und drehte die Füße beim Gehen nach innen. Meine Ohren standen ab wie die von Pinocchio, meine Zähne waren schif, und mein Gesicht gesprenkelt wie ein Vogelei." (S.5)

Er stellt Fragen an Gott, warum er geboren sei? Was das alles soll? Er beginnt zu zweifeln, um dann festzustellen, dass er geboren sei, um ein linkshändiger Pitcher zu sein und Glaubensfragen auf später verschoben werden müssten.

"Ich beschleunigte meine Schritte, um vor meinen Gedanken zu fliehen, aber sie blieben mir auf den Fersen. Ich fing an zu rennen, so dass meine gefrorenen Schuhe quiekten wie Mäuse. Es halft nichts, die Gedanken verfolgten mich weiter. Aber dann übernahm, während ich so dahinlief, mein Arm, mein wunderbarer Arm die Kontrolle über die Situation..." (S.11).

Trotzdem denkt er an seinen möglichen Tod und voller Selbstzweifel bleibt sein einziger Wunsch, Zeit genug zu haben, ein Baseballstar zu sein.
Allerdings ist es ein weiter Weg dorthin. Er lebt in ärmlichen Verhältnissen, seine Grandma stellt ihm nachts, während er seine Hausaufgaben für seine katholische Highschool macht, kurzerhand das Licht aus. Sie ist eine unzufriedene Frau, die keinen Frieden in diesem für sie fremden Land findet.

"Grandma feuerte ihre Verwünschungen wie Schrot ab. Ich war ein Schakal, eine Ratte,  eine Schlange, ein Monster, das aus dem Bauch meiner Mutter gekrochen war. (...) Ich kannte ihre Qualen, und sie tat mir leid. Sie war allein, entwurzelt in einem fremden Land. Sie hatte nicht nach Amerkika kommen wollen, mein Großvater hatte sie gezwungen. Auch in den Abbruzzen waren sie arm gewesen, aber es war eine süßerer Armut gewesen;" (S.17)

Seine Mutter - vor der Zeit gealtert - grämt sich, dass sein Vater sich in einer zwielichtigen Bar herumtreibt und mit Lippenstift im Gesicht nach Hause kommt, trotzdem nimmt sie ihr Schicksal an:

"Ich mache deinem Vater längst keine Vorwürfe mehr, ich bin selbst an allem schuld. Wenn du die Lügen eines Mannes hinnimmst, machst du dich mitschuldig. Dann bist du ein Lügner wie er." (S.73)

Für Dominic hat der Vater bereits eigenen Pläne:

"Er versuchte seit Jahren, mich fürs Maurerhandwerk zu gewinnen." (S.28)

Außerdem hat die Familie überall Schulden, der Vater setzt auf Dominics Arbeitskraft, so dass dieser vor einem Dilemma steht, da sein Herz für den Baseball schlägt.

"Wir waren alle Träumer, ein Haus voller Träumer. Grandma träumte von ihrer Heimat in den fernen Abruzzen. Mein Vater träumte davon, schuldenfrei mit seinem Sohn ein Maurergeschäft zu betreiben. Meine Mutter träumte von ihrer himmlischen Belohnung in Gestalt eines frohgemuten Ehemanns, der nicht davonlief.(...) Ich schloss meine Augen und lauschte den Traumen, die durchs Haus summten." (S.37)

Fante weiß, wie es im Nachwort von Alex Capus heißt, wovon er schreibt. Er selbst ist ähnlichen Verhältnissen wie sein Held aufgewachsen.

"Der Kosmos, in dem sie (seine Romane) sich bewegen, bleibt immer scharf umrissen und eng begrenzt. Im Zentrum stehen stets ein dominanter Vater, der freiheitsdurstige Sohn und der Heilige Geist in Gestalt der römisch-katholischen Kirche. Es geht um das Unterlegenheitsgefühl des italienischen Einwanderers..." (S.137)

Auch Dominic muss schmerzhaft erfahren, dass er von der betuchten Gesellschaft ausgeschlossen wird. Sein bester Freund Ken kommt aus einer reichen Familie, sein Vater ist Inhaber einer Eisenwarenhandlung , lehnt wie seine Frau jedoch den Freund seines Sohnes ab. Auch Kens blonde, schöne Schwester Dorothy bleibt ein unerreichbarer Traum - ein Annäherungsversuch scheitert kläglich.
Selbst Ken nennt ihn manchmal "Spaghetti", wogegen sich Dominic vehement wehrt und dieser sich entschuldigt. Nichtsdestotrotz bleibt eben jenes Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem gesellschaftlich und finanziell besser gestelltem Freund zurück.

"Wie ein Geist schlich ich im Schneegestöber nach Hause, den Kopf gesenkt und den Blick niedergeschlagen, meine Schuld und Wertlosigkeit tief in mir verschlossen." (S.67)

Dominic will diesem Gefühl entfliehen, will nach Californien zu den Chicago Cubs, um dort "vorzuspielen". Er bemüht sich seinen Vater davon zu überzeugen, ihm das nötige Geld und die Erlaubnis zu geben und lässt er sich fast zu einer Verzweiflungstat hinreißen...

Bewertung
John Fante gelingt es die Selbstzweifel, Gedankenspiele und Träume des pubertierenden Heranwachsenden greifbar zu machen - auch wenn man selbst mit Baseball und den vielen Namen der Spieler nichts anfangen kann. Der Wunsch aus dem finanziellen Elend, der familiären Enge zu entkommen und gleichzeitig das Bedürfnis, die Familie nicht zu enttäuschen, ihnen etwas zurückgeben zu wollen glaubt man diesem Jungen, der so viel Freiheitsdrang in sich spürt, so viel Leidenschaft hat, aber auch Zweifel, ob er seinen Traum wird leben können. Die Frage muss man sich selbst beantworten, denn das Ende bleibt offen...
Der Roman zeigt aber auch das Dilemma der italienischen Einwanderer Fremde im Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bleiben, wie Dominics Mutter:

"Sie war in Chicago geboren, aber italienischer Herkunft und eigentlich eine Bäuerin wie Grandma Bettina. Auch sie trug das Mal von Einsamkeit und und unaussprechlicher Fremdheit auf der Stirn. Sie war keine echte Italienerin, aber noch viel weniger Amerikanerin, zutiefst verunsichert und überall fehl am Platz." (S.18)

Selbst Dominic, der in Amerika geboren ist, haftet das Klischee des "Spaghetti" an. Auch die Italiener untereinander sind von ihren gegenseitigen Vorurteilen geprägt.

"Nach Grandma Bettinas Ansicht waren die Leute aus Potenza gleich nach den Amerikanern die lächerlichsten Leute der Welt. Nicht, dass Grandma jemals selber in Potenza gewesen wäre und den Ort mit eigenen Augen gesehen hätte, aber sie hatte ihr ganzes Leben wilde Geschichte über die Potenzesi gehört." (S.18)

Neben den Einblicken in die Gedanken des jungen Dominic mit seinen Träumen überzeugt der Roman durch seine sensible, aber auch kraftvolle Sprache mit teilweise sehr ungewöhnlichen Vergleichen.
So bemerkt Dominic, als Dorothy auf einer Leiter über ihm steht, um ihm etwas vom Regal des Eisenwarenladens ihres Vaters zu holen, dass sie keine Unterwäsche trägt.

"Ihr Hintern glich zwei runden, goldenen Brotlaiben, dazwischen befand sich eine atemberaubende Spalte mit einem Haarbüschel wie Messingspäne. Mein ganzes Leben lang hatte ich über die deprimierende Reizlosigkeit dieses Ortes nachgedacht. Ich hatte ihn unter den Röcken meiner Mutter und meiner Tanten gesehen, bestürzend unschön wie ein Mäusenest, trostlos graubraun wie der Inhalt eines Staubsaugerbeutels, ebenso unanständig wie unumgänglich, eine herbe Herausforderung, der sich jeder Mann früher oder später stellen musste." (S.50)

Das sind wirklich seltsame Vergleiche ;)

Ein aufrichtiger, leidenschaftlicher Roman -wie Alex Capus im Nachwort feststellt - mit einem großspurigen, aber herzlichen und verständnisvollen Helden, der fest in seinem Kosmos verankert ist und dem man wünscht, dass seine Träume in Erfüllung gehen.


Montag, 23. Januar 2017

Lewis Carroll: Alice im Wunderland

- der englische Kinderbuchklassiker.

Gebundene Ausgabe, 150 Seiten
mit Illustrationen von John Tenniel
Büchergilde
englischer Originaltitel: Alice´s Adventures in Wonderland
1865 erstmals erschienen

Das Kinderbuch gehört inzwischen zu den Klassikern der Weltliteratur und ist in Büchern, Filmen, Theaterstücken und sogar Opern adaptiert worden. Die Figuren und einige Situationen haben sozusagen Kultstatus, nicht zuletzt auch durch die Verfilmung Tim Burtons mit Johnny Depp als verrücktem Hutmacher.
Ich habe den Roman gemeinsam mit meiner 10-jährigen Tochter gelesen und wir hatten viel Spaß an den skurrilen Situationen, in die Alice gerät.

Inhalt
Alice ist gemeinsam mit ihrer Schwester am Bachufer und schläft ein, als ein weißes Kaninchen vorbeihuscht, dass bekleidet ist und vor sich hin redet,

"als daraufhin das Kaninchen aber wahrhaftig eine Uhr aus der Westentasche zog, nach der Zeit sah und dann weiterlief, da war Alice mit einem Satz auf den Beinen, denn mit einemmal war ihr klargeworden, daß sie noch nie zuvor ein Kaninchen mit einer Westentasche gesehen hatte, am allerwenigsten eines mit einer Uhr darin" (S.10)

Alice folgt dem Kaninchen und fällt in ein tiefes Loch, das sie unversehrt ins fantastische Wunderland entführt, in dem sie zunächst in einem Raum festsitzt, da sie zu groß ist, um durch die einzige Tür ins Freie zu gelangen. Mit Hilfe verschiedener Speisen und Getränke schrumpft bzw. wächst sie, schrumpft wieder und ertrinkt fast in ihrem salzigen See aus Tränen.

">Wenn ich doch nicht soviel geweint hätte!<, sagte Alice, während sie hin und her ruderte, um aus dem Wasser herauszukommen.> Zur Strafe dafür soll ich jetzt anscheinend in meinen eigenen Tränen ertrinken! Wenn das nicht sonderbar ist! Nun, heute ist ja alles sonderbar.<" (S.27)

Nach der Bekanntschaft mit einigen gesprächigen Tieren und einer Maus, der Alice etwas unsensibel begegnet, da sie ihr immerzu von ihrer Katze Suse erzählt, gelingt es ihr schließlich, durch die geheimnisvolle Tür zu gelangen.

Auf ihrer Reise durchs Wunderland gelangt sie zunächst ins Haus des weißen Kaninchens, aus dem sie fast nicht mehr herauskommt.
Ihr begegnen seltsame, fantasievolle Figuren, wie
eine Raupe, die ihr Pilzstücke zum Wachsen und Schrumpfen schenkt,
die Herzogin und das Baby, das sich in ein Schwein verwandelt,
die Edamer Katze (Grinsekatze), die auftaucht und verschwindet,
der verrückter Hutmacher, der Schnapphase und die Haselmaus, die immer beim Fünf-Uhr-Tee sitzen, da die Zeit für die drei still steht,
und der Herzkönig und die Herzkönigin, deren Lieblingssatz lautet: "Kopf ab mit ihr!" (S.100)

Sie nimmt an einer königlichen Croquetpartie teil, hört die Geschichte der traurigen Falschen Suppenschildkröte, erfährt, was eine Hummer-Quadrille ist, bis sie schließlich einen Prozess gegen den Herzbuben gerät und am Ende den Kampf gegen die Spielkarten aufnimmt.

Bewertung
Das Werk zählt zum Genre des literarischen Nonsens (wikipedia) und enthält satirische Anspielungen auf die Schullektüre der Zeit Carrolls. So sagt Alice im Wunderland alle Gedichte falsch auf und vieles scheint völliger Unsinn zu sein. Nichtsdestotrotz wohnt diesem "Nonsens" ein Zauber inne, der einen beim Lesen gefangen nimmt.
Sowohl meine Tochter als auch ich haben mehrmals gelacht und uns köstlich über die köpfende Königin amüsiert, da ihr Gatte hinter ihrem Rücken alle wieder begnadigt - sonst wäre ja keiner mehr übrig, der mit ihr Croquet spielt.
Warum die Falsche Suppenschildkröte so traurig ist, haben wir allerdings noch nicht herausgefunden. Wir haben uns jedenfalls vorgenommen auch die Fortsetzung  - Alice hinter den Spiegeln - zu lesen.

Am Ende stellt sich heraus, dass alles nur ein Traum gewesen ist, eine wunderbare, wenn auch skurrile Fantasie, aber wie Dumbledore Harry in "Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" antwortet, als dieser wissen will, ob sich alles nur in seinem Kopf abspiele:

"Natürlich passiert es in deinem Kopf, Harry, aber warum in alles in der Welt sollte das bedeuten, dass es nicht wirklich ist." (S.731)

Alice im Wunderland ist ein Plädoyer für grenzenlose Fantasie, für die kindliche Lust am Fabulieren und gehört für mich auf jeden Fall zu den Romanen, die man im Leben gelesen haben sollte!

Freitag, 20. Januar 2017

Isabel Bogdan: Der Pfau

- eine herrlich britische Satire.


Gebundene Ausgabe, 248 Seiten
Kiepenheuer & Witsch, 18. Februar 2016



Isabel Bogdan arbeitet als Übersetzerin u.a. von Jane Gardam und Jonathan Safran Foer. Umso neugieriger war ich auf "Der Pfau" und muss sagen, dass meine Erwartungen in keinster Weise enttäuscht wurden.
Ich musste so oft beim Lesen herzhaft lachen - ein herrlich komischer Roman, skurril und mit einem Paukenschlag am Ende.


Inhalt

"Einer der Pfauen war verrückt geworden. Vielleicht sah er auch nur schlecht, jedenfalls hielt er mit einem Mal alles, was blau war und glänzte, für Konkurrenz auf dem Heiratsmarkt." (S.7)

Schon der erste Satz lässt vermuten, dass in diesem Roman einige ungewöhnliche Ereignisse stattfinden - auf dem sehr abgelegenen Anwesen der McIntoshs am Fuße der schottischen Highlands, auf dem sich Pfauen, eine Gans und der Hund Albert tummeln. Der Altphilologe Hamish und die Ingenieurin Fiona haben schon vor längerer Zeit beschlossen die Cottages ihres Anwesens, wie das Waschhaus oder das Gärtnerhäuschen an zahlende Gäste zu vermieten, um einen Teil der horrenden Kosten zu decken. In dem einst luxuriösen Haus ist es im Winter eisig kalt ist, Heizung und Elektrik sind veraltet und auch der Wasserdruck in den sanitären Einrichtungen lässt zu wünschen übrig. Unterstützt werden sie von Aileen, der Putzfrau, sowie Ryszard, dem Mann für alles, der auch noch einen Gemüseladen betreibt.
Im September sind die Bakshis zu Gast, ein charmantes älteres Ehepaar, das die Ruhe genießt, aber einen blau glänzenden Wagen fährt, auf den sich eben jener verrückte Pfau stürzt und erheblichen Schaden anrichtet. Die beiden Ehepaare nehmen die Angelegenheit mit Humor, die Versicherung wird für den Schaden aufkommen und zur Entschädigung seien sie im nächsten Jahr eingeladen.
Im November reist das Management der Investmentabteilung einer Londoner Privatbank an, samt Chefin, Köchin und einer Psychologin. Arbeitsprozesse sollen verbessert, ein Team geschaffen werden. Der Westflügel wird auf Hochglanz gebracht, dabei bricht sich jedoch unglücklicherweise Aileen den Arm, so dass die kostbare Hilfe ausfällt.
Während Köchin Helen und die Motivationspsychologin Rachel alles zauberhaft finden, ist Liz, die Chefin, von der einfachen Ausstattung und dem mangelnden Luxus schockiert - ohne es sich anmerken zu lassen.
Der seiner Chefin gegenüber devote Bernanrd kommt ebenso wenig mit der Situation zurecht und David ist zu schüchtern, um etwas zu sagen.

"Bernard nörgelte weiter, es habe ihm niemand gesagt, dass sie sich die Zimmer teilen müssten, und dann auch noch so was, also wirklich, Etagenbetten, aus dem Alter seien sie ja nun wahrhaftig raus, und im Übrigen sei es lausig kalt. David sagte nicht viel, wie meistens." (S.43)

Andrew vermisst seine Frau und hat keine Lust auf die "Spiele" der Psychologin, nur der 60 -jährige Jim behält kontinuierlich seine gute Laune, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, macht aber sein Ding.

So verläuft die erste Arbeitssitzung mit der Psychologin eher holprig, doch zumindest gehen die Banker höflich miteinander um.
Am nächsten Morgen entdeckt der Lord, dass der Pfau den blau glänzenden Wagen der Chefin beschädigt hat und beschließt kurzerhand ihn zu erschießen. Um die Gäste nicht zu beunruhigen, tut er dies im Wald, versteckt das Gewehr und lässt den Pfauen schweren Herzens zurück.
Nach dem Aufstehen beschließen die Banker gemeinsam mit ihrer Chefin und deren Hund Mervyn in eben jenem Wald spazieren zu gehen.

"Mervyn streifte, wie Hunde es eben tun, durchs Unterholz, entfernte sich ein wenig von den Menschen, folgte seine Nase und fand den toten Pfau. Kurz war er verwirrt, denn er hatte nicht gemerkt, dass dies ein Jagdausflug war, er hatte keinen Schuss gehört, aber er roch ihn ja eindeutig, und ein noch warmer, erschossener großer Vogel musste selbstverständlich apportiert werden, der Setter kannte seine Pflichten." (S.75)

Doch leider ist sein Frauchen alles andere als begeistert, die Investmentbanker glauben, der Hund habe den Pfauen gerissen, wie sollten sie das dem Lord erklären? Kurzerhand delegiert Liz an David die Aufgabe, den Pfauen verschwinden zu lassen. Der fühlt sich der Aufgaben nicht gewachsen und vertraut sich Helen an, die eine pragmatischeren Vorschlag hat, als den Pfauen zu vergraben...und die beiden teilen ihr Geheimnis, ohne es den anderen zu verraten. Es wird nicht das einzige bleiben, das unter Verschluss gehalten wird.

Im Verlauf der Handlung stellt sich heraus, dass keiner dem anderen gegenüber seine Beobachtungen mitteilt und keiner die Wahrheit sagt. Aber "alle freuten sich, dass sie mit dem Teambuilding so gut vorangekommen waren." (S.232)

Bewertung
Auf der Rückseite ist zu lesen: "Eine subtile Komödie in bester britischer Manier". Dem ist nichts hinzuzufügen. Der Roman ist witzig, amüsant, aber auch spannend, da man wissen will, ob all die Heimlichkeiten auffliegen, so dass ich fast nicht mehr aufgehört habe, zu lesen.
Interessant ist, dass die Autorin statt wörtlicher Rede nur die indirekte verwendet, was zur ironischen Distanz beiträgt und die Figuren dadurch noch lächerlicher erscheinen lässt.
Als Hundebesitzerin haben mir besonders gut die Passagen gefallen, die aus der Sicht Mervyns geschildert werden - das ist sehr nah am Hund ;)

Isabel Bogdan selbst fährt seit 20 Jahren regelmäßig auf ein einsames Anwesen in Schottland (Klappentext), das merkt man ihren Schilderungen der Landschaft und des Hauses deutlich an, die sehr authentisch wirken.
Ich freue mich darauf, weitere Romane der Autorin zu lesen, die gut daran getan hat, neben dem Übersetzen eigene Bücher zu verfassen.

Mittwoch, 18. Januar 2017

Sophie McKenzie: Weil du lügst

- ein Thriller ?

Taschenbuchausgabe, 464 Seiten
Heyne Verlag, 11. April 2016

Vielen Dank an das Bloggerportal, das mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Inhalt
Der Roman besteht aus drei ineinander verwobenen Handlungssträngen. Im ersten, der im Jahr 1992 startet, wird erzählt, wie die 18-jährige Rose ihren Vater während eines Seitensprungs im Schlafzimmer ihrer Eltern beobachtet. Ihre Mutter erfährt von dem wiederholten Fehltritt ihres Vaters und es kommt zu einem Streit, ohne dass Rose ihrer Mutter die Wahrheit beichtet. Statt dessen schützt sie ihre jüngeren Geschwister Martin und die 11-jährige Emily. Nach dem heftigen Streit kommen die Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben und Rose übernimmt die Verantwortung für ihre Geschwister und verzichtet auf ihr Studium. In den Rückblicken wird jeweils geschildert, mit welchen Problemen Rose als "Erziehungsberechtigte" kämpfen muss und dabei ihr eigenes Leben scheinbar in den Hintergrund tritt.

Emily ist die Protagonistin der Haupthandlung, inzwischen Anfang 30 hat sie sich mit dem 50-jährigen Anwalt verlobt. Gemeinsam mit seinen Kindern Dee Dee (13), Lish (18) und ihrer Familie, Rose, Martin und dessem reichen Freund Cameron, verbringen sie einen Urlaub in Koriska. Auch Jeds Bruder Gary ist mit seiner Freundin an Bord. Nachdem Emily Dee Dee abends ein Pulver gegen Kopfschmerzen gibt, das Lish für sie selbst besorgt hat, wacht diese am nächsten Morgen nicht mehr auf. Es stellt sich heraus, dass sie vergiftet wurde. Und dann erhält Emily eine SMS, dass eigentlich sie selbst hätte sterben sollen.
Plötzlich taucht auch noch ihr Ex-Freund Dan auf, der ihr den Verdacht unterbreitet, dass Lish mit gefälschten Medikamenten handelt und im Auftrag seiner Mutter Zoe gehandelt haben könnte, die Emily aus tiefstem Herzen hasst. Galt das vergiftete Pulver ihr?

Der dritte Handlungsstrang besteht aus Tagebuchaufzeichnungen Dee Dees, die etwas ein drei Monate vor ihrem Tod beginnen. Da sie übergewichtig und wenig attraktiv ist, hat sie sich von einem älteren Jungen blenden lassen, der sie - wie es heutzutage geschehen kann - derart ausgenutzt hat, dass er ein Foto von ihrer entblößten Brust gemacht hat und dieses an seine Freunde weiterschickte. Zudem hat er sie unsittlich berührt und auch das brühwarm verbreitet, so dass sie an ihrer Schule gnadenlos als "Hure" gehänselt wird. Haben das Mobbing oder das Geheimnis, das sie Emily vor ihrem Tod anvertrauen wollte, etwas mit ihrem Tod zu tun?

Bewertung
Der Roman liest sich ganz flüssig, ist vom Schreibstil her eher "einfach" gehalten. Auch ist er spannend gestaltet, wenn sich auch gegen Ende hin abzeichnet, wie die Auflösung aussieht. Gerade die letzte "Bombe" ist vorhersehbar und das Finale nicht wirklich packend.

Die Tagebuchaufzeichnungen sind für mich jedoch der eigentliche Schwachpunkt im Kriminalroman. Dee Dee ist unglaublich naiv und ihr Verhalten nach dem Mobbing zwar zu erklären, aber irgendwie kann man ihr Verhalten nicht wirklich nachvollziehen. Dazu hätte die Figur ausführlicher gestaltet werden müssen. Ich konnte ihr in ihrem Verhalten nicht folgen.
Dass ihre Freundinnen überhaupt nicht zu ihr halten und die Lügen des Jungen nicht hinterfragen, scheint mir unwahrscheinlich, denn schenkt man ihren Aufzeichnungen Glauben, gab es zwei gute Freundinnen. Aber vielleicht wollte die Autorin auch ein leichtgläubiges Mädchen erfinden und gleichzeitig vor der Gefahr warnen, sich in der vernetzten Welt auf Fotos allzu freizügig zu zeigen, auf mich wirken diese Tagebucheinträge trotzdem nicht authentisch.
Auch Emily ist als Person in meinen Augen nicht konsequent angelegt. Einerseits wird sie als clever und tough beschrieben, andererseits glaubt sie tatsächlich, dass Jed ihr ohne Weiteres abnimmt, dass Lish einen gescheiterten Giftanschlag (!) auf sie verübt hat, bei dem versehentlich seine Schwester gestorben ist. Der Mann hat gerade seine Tochter verloren und soll nun annehmen, dass sein Sohn daran Schuld ist und seine Verlobte nur vermeintlich akzeptiert - auch das erscheint mir recht naiv. Was ja nicht bedeutet, dass sie nicht Recht hat, aber die Art und Weise, wie sie agiert, ist einfach unglaubwürdig.
Wirklich schade, den Roman "Seit du tot bist" fand ich vor zwei Jahren ganz gut, da er die Lesenden mit Gänsehaut entlässt, während dieser am Ende enttäuscht.

Samstag, 14. Januar 2017

Christopher Buckley: Chaos im Weißen Haus

Liebe, Macht & Mr President
- eine politische Satire.



Gebundene Ausgabe, 280 Seiten
Louisoder, 31.März 2014

Vielen Dank an den Louisoder Verlag, der mir dieses Leseexemplar zur Verfügung gestellt hat.

Beim vorliegenden Roman handelt es sich um das Erstlingswerk Christopher Buckley, das weitgehend unbekannt geblieben ist. Entstanden ist es aus seinen Erfahrungen als Redenschreiber für George Bush senior und erschienen 1986 während der Amtszeit Ronald Reagans.
Bekannt geworden ist Buckley mit dem Roman "Thank you for smoking", der auch verfilmt worden ist.


Inhalt

Der Roman beginnt schon skurril. Der neu gewählte Präsident Thomas Tucker ist gewillt am 20. Januar 1989 im Weißen Haus Einzug zu halten, alles ist minutiös geplant, jeder Schritt vorbereitet. Doch Ronald Reagan weigert sich schlicht, das Weiße Haus zu verlassen. Herb Wadlough, der persönliche Berater des gewählten Präsidenten schildert seine Eindrücke:

"Während der Übergangsphase hatte mich Reagans innerster Kreis diskret und vertraulich wissen lassen, dass man dem Präsidenten sein hohes Alter in zunehmendem Maße anmerkte. (Da waren es nur noch wenige Tage bis zu seinem achtundsiebzigsten Geburtstag.)" (S.12)

Mike Feeley, Pressesprecher, hat die zündende Idee den "senilen" Reagan zu überreden, endlich seinen Pyjama abzulegen:
"Sagen Sie ihm, dass die Russen angreifen und er schnellstens dort rausmuss." (S.19)

- Der Kalte Krieg lässt grüßen.

Der Roman wird aus der Sicht Herb Wadloughs in der Ich-Perspektive erzählt, jedem Kapitel ist eine Notiz seines Tagebuchs vorangestellt. Insgesamt schildert er seine persönlichen Erlebnisse während der vierjährigen Amtszeit Tuckers.
Wadlough stammt aus Boise, Idaho, und hat für eine Buchhaltungsfirma gearbeitet. In diesem Zusammenhang lernt er Tucker kennen, der aus einer wohlhabenden Familie, die ihr Geld mit Holz- und Dosenforellen (!) gemacht hat, stammt. Wadlough konnte "Unstimmigkeiten" der Buchhaltung beseitigen, so dass die Steuerfahndung nichts zu beanstanden hatte.

"So begann eine Freundschaft, die mein Leben wie nichts anderes bereicherte - abgesehen von der Religion und meiner Familie." (S.27)

Herb ist folgerichtig auch Pate des Sohns des Präsidenten - Thomas. Gemeinsam mit seiner Familie siedelt er nach Washington, um sich ganz seiner Beraterrolle für den Präsidenten zu widmen.

Doch gleich zu Beginn erleidet er eine Niederlage. Der Präsident hatte im Wahlkampf einen elfjährigen Mädchen versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch es gelang ihm nicht. Also wurde nur noch auf Toiletten heimlich geraucht - mit dem Versprechen nach der Wahl aufzuhören.
Allerdings bricht er auch dieses - stattdessen droht er seinem Leibarzt an, ihn in den Norden Grönlands zu versetzen, sollte er ihn noch einmal mit den gesundheitlichen Risiken des Rauchens nerven. Zu viel zum Thema Wahlversprechen!

Der schleichende Untergang Herb Wadloughs im Weißen Haus geht auf das Konto von Bamford Lleland IV, mit dem ihn eine tiefe Feindschaft über die vier Jahre verbindet.

Bam Lleland war ein eingefleischter Bostoner mit nicht unerheblichem (ererbtem) Reichtum, aber vielleicht ein klein wenig zu hochwohlgeboren. Er war ein Konglomerat an typischen Ostküstenvorlieben: straff nach hinten gekämmtes, pomadisiertes Haar, Sockenhalter, Brieftasche aus Eidechsenleder, Fliege, Manschettenknöpfe des Porcellian Club, randlose Brille und eine Kenntnis französischer Speisekarten, die er bei jeder Gelegenheit raushängen ließ." (S.37)

Ob da jemand Vorurteile hegt und Minderwertigkeitsgefühle hat?

Allerdings hat Herb auch einen Verbündeten - Mike Feeley - Feels genannt, der nicht zu den Zartbesaiteten gehört und dem jedes Mittel recht ist, um den Präsidenten in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Publicity ist alles.
Er hat - wie Herb noch - direkten Kontakt zum Präsidenten. Doch das ändert sich im Laufe der Romanhandlung, den Herb macht sich mit einer Reihe von unpopulären Entscheidungen unbeliebt. So lässt er den Tennisplatz abreißen, weil es darum Streit um dessen Belegung gegeben hat - man sollte meinen ein Berater des Präsidenten habe Besseres zu tun...

Auch macht er den Vorschlag, Eiswasser in den Pool des Präsidenten zu gießen ("Operation Arktis"), weil die First Lady und der Präsident sehr angetan voneinander sind und die Nächte nutzen, ihrer Leidenschaft nachzugehen.
Jessica Heath - die First Lady - ist eine gefeierte Schauspielerin und sehr attraktiv, aber auch sehr temperamentvoll und sinnlich. Sicherlich ein Schock für das Personal des Weißen Hauses, die völlig entrüstet auf die "Flitterwochen" des Präsidentenpaares reagieren.

Die Bedeutung Herb lässt sich vielleicht am besten daran ablesen, dass er die "Aufsicht über die Nationale Metrifizierungsinitiative erhalten (hat). Schreckliche Verantwortung." (S.55)
Man sollte glauben, dass ein enger Berater des amerikanischen Präsidenten etwas Besseres zu tun hat, als amerikanische Maße in den metrischen Standard zu übertragen, oder?

Aber er kümmert sich auch darum, dass der Vizepräsident, der es auf den Posten des Präsidenten abgesehen hat, kalt zu stellen, indem er ihn um den Globus reisen lässt.

Die Idee des Präsidenten das Weiße Haus zu öffnen und in regelmäßigen Abständen "echte Amerikaner" zu treffen und mit ihnen zu sprechen, versetzt den vorsichtigen Herb in helle Aufregung. In der Operation "Offene Tür" treten die sozialen Unterschiede zwischen Herb und der Beauftragten für Öffentlichkeitsarbeit Jean Logan zu Tage. Was sind gewöhnliche Amerikaner?
Der Präsident "will Schmutz unter ihren Fingernägeln. Ich will sie riechen können." (S.57)
Während Herb einen "hocharomatischen Packer einer Hühnerfarm in Maryland" (S.59) vorschlägt, wählt Jean Menschen aus, die in Harvard, Princeton oder Yale studiert haben.

Leider scheitert die Mission kläglich und damit wird der schrittweise Untergang Herbs eingeleitet, mit tragikkomischen Szenen, die ich hier nicht vorwegnehmen will.

Die jahrelange "Freundschaft" mit dem Präsidenten sorgt zumindest dafür, dass er im Weißen Haus verbleiben darf - als Berater der First Lady und deren Termine koordinieren darf:
Wohlfahrtsveranstaltungen statt Abrüstung. Kaffeekränzchen statt Sicherheitsrat.
Seine Stunde schlägt, ohne dass er es "blickt", als es zum Streit und Zerwürfnis zwischen dem Präsidentenpaar kommt. Sein treuer Freund Feels ermöglicht ihm den Triumph des Wiedereinzuges in den Westflügel des Weißen Hauses - direkt in eine politische Auseinandersetzung mit Bermuda, die für die Wiederwahl sorgen soll...

Bewertung
Durch die Augen des etwas einfältig wirkenden Herb Wadlough, der seine eigene Wichtigkeit niemals anzweifelt, blicken wir hinter die Kulissen der Macht:
Klatsch und Tratsch - statt politisches Tagesgeschäft. Ränkespiele und Heimtücke im Zentrum der Macht.

Wir erhalten Einblick in das Oval Office und das in einem amüsanten Plauderton, der Skurrilitäten unbedarft aufdeckt. Wir solidarisieren uns mit Herb, dem offenkundigen Looser, der in fast uneingeschränkter Loyalität zum Präsidenten steht. Sich dann doch mit eben jener "Biographie", die wir gerade lesen, auf seine Weise rächt.

Eine wunderbare Satire, die nicht besser in die Zeit passen könnte. Wie eine Vision der Zukunft wirkt der Roman - aus Fiktion wird Realität.

Eine klare Leseempfehlung!




Dienstag, 10. Januar 2017

Jane Gardam: Letzte Freunde

- der letzte Teil der Reihe um Edward Feathers.

Nach dem ersten Roman um "Old Filth", Ein untadeliger Mann, und dem 2.Teil, in dessen Mittelpunkt seine Ehefrau Betty steht, Eine treue Frau, widmet sich dieser Roman seinem Erzfeind, Terry Veneering und dessen Biographie, die zeigt, dass beide genauso gut auch hätten Freunde sein können.


Hörbuch von audible
gelesen von Felix von Manteuffel
6 Stunden und 52 Minuten

Inhalt
Inzwischen habe ich das Gefühl Edward Feathers, Terence Veneering und Betty, Old Filths Frau, schon persönlich zu kennen. Dadurch, dass viele Szenen und Situation in den vorangegangenen Romanen aus unterschiedlichen Perspektive geschildert worden sind, kennt man die Motive, Gedanken und Gefühle der Protagonisten.
So mutet es zunächst befremdlich an, dass der Roman mit der Beerdigung Old Filths und der Beschreibung der Trauergäste beginnt, die bisher in Nebenrollen aufgetaucht sind.
Es sind nicht mehr allzu viele letzte Freunde übrig. Dulcie, eine alte Freundin, die sowohl Edward als auch Terry Veneering noch aus Hong Kong kennt und die Frau Pastry Willys gewesen ist und inzwischen ebenfalls alleine in den Dorsets lebt.
Ihr Ehemann war gleichzeitig Bettys Patenonkel und derjenige, der Veneering als Anwalt für Baurecht etabliert hat. In der Szene, die die Einstellung Terrys beschreibt, erfahren wir auch, wann und wie sich Veneering in Betty verliebt hat.
Gemeinsam mit Fiscal-Smith, dem eine ewige Außenseiterrolle zugeschrieben scheint, gehört Dulcie zu denjenigen, die auch auf Edwards und Bettys Hochzeit gewesen sind.
Auch Isabelle taucht auf, sie hat Feathers Haus geerbt und es stellt sich heraus, dass sie eine besondere Verbindung zu Dulcies Tochter Susan hegt.
In Terrys Haus lebt inzwischen eine chaotische, aber sympathische vierköpfige Familie. Während der Vater Schriftsteller ist, engagiert sich Anna, die Mutter, in der Kirche und in der dörflichen Gemeinschaft und wird in naher Zukunft Chloes Aufgaben in der Gemeinde übernehmen - jene Chloe, die Edward immer so auf die Nerven gegangen ist. Sie kümmern sich auch um Dulcie, die zunehmend auf sich allein gestellt ist und nicht mehr weiß, was sie mit ihrem Tag anfangen soll. So bedauert sie zutiefst, dass sie Fiscal-Smith nach der Beerdigung aus dem Haus "geekelt" hat und bemüht sich um Versöhnung. An ihrem Beispiel beschreibt Gadamer sehr sensibel die Einsamkeit des Alters.
Neben des Charmes der abgeschiedenen Landschaft und deren Bewohner, die liebevoll ironisch aufs Korn genommen werden, steht die Biographie Terry Veneering im Mittelpunkt des letzten Bandes.
Wir erfahren, dass er aus dem industriell geprägten Norden Englands stammt. Seine Mutter Florence hat Kohlen verkauft, nachdem sie sich in einen russischen - aus Odessa - stammenden Zirkusartisten verliebt hat, der bei einem Auftritt verunglückt ist. Er ist Invalide, aber scheint ein intelligenter Mann zu sein, der mehrere Sprachen spricht und dessen Biographie noch ein Geheimnis bereit hält.
Terry hat ein distanziertes Verhältnis zu ihm, liebt aber seine Mutter. Aufgrund der Fürsprache eines pensonierten Anwalts kann er die höhere Schule besuchen. Jener ist es auch, der ihm ein kleines Vermögen hinterlässt und auf dessen Kanzlei Terry später in London zufällig stoßen wird.

Als Terry gemeinsam mit einigen Kindern im 2.Weltkrieg nach Kanada evakuiert werden soll, verlässt er kurz vor der Reise das Schiff, das auf der Überfahrt von deutschen U-Booten versenkt wird. Ausgerechnet Fiscal-Smiths Vater, ein Schulleiter, hilft Terry zurückzukehren. Abgeholt wird Terry von Sir, eben jenem Schulleiter, der Edward Feathers so unterstützt hat und geliebt (?) hat. Hier sind sie wieder, die Handlungsfäden und Berührungspunkte der beiden so unterschiedlichen Männer.

Beide schließen ihr Jurastudium als Beste ab und kehren nach einem gemeinsamen - lustig geschilderten - Schlüsselerlebnis im Strafrecht diesem den Rücken zu und widmen sich dem Baurecht.
Auch dieses Gerichtsverfahren, das beide letztlich zu Feinden macht, wird aus zwei Perspektiven geschildert, aus Fiscal-Smith, der mit Terry zusammengearbeitet hat, und aus Veneerings Sicht selbst. Ihr Verhalten im Verfahren und dessen Beurteilung verdeutlicht die unterschiedlichen Charaktere Edwards und Terrys sehr prägnant.
Auch die Beziehung zu Betty wird thematisiert - die große gemeinsame Liebe der beiden. Und in ihrem letzten Gespräch - vor Veneerings Kreuzfahrt - wird das Thema zumindest gestreift.
Auch die Umstände von Veneerings Tod werden im letzten Roman aufgedeckt.
Das versöhnliche Ende gehört den letzten überlebenden Freunden - Dulcie und Fiscal-Smith...


Bewertung
Genau wie bei den vorangegangenen Hörbüchern hätte ich den Geschichten um das Trio und ihrer Freunde ewig weiter zuhören können. So feinfühlig werden diese Charaktere beleuchtet, mit so viel Herzenswärme auf den Arm genommen, mit liebevoller Ironie, ohne sie bloßzustellen.
Sie sind mir richtig ans Herz gewachsen ;)

Einige lose Handlungsfäden und offene Fragen werden beantwortet und es ist unglaublich, wie nah sich die beiden Kontrahenten doch immer gewesen sind.
Mich haben vor allem die Gespräche beeindruckt, die in den vorherigen Romanen nur angeklungen sind, wie das letzte zwischen Edward und Terry.
Die Kommunikation der beiden ist dabei dadurch geprägt, dass sie um das Eigentliche herumreden, nämlich dass sie sich inzwischen mögen und eigentlich Freunde geworden sind.
Im Grunde will Edward mit auf Kreuzfahrt, möchte aber gefragt werden. Und eigentlich würde ihn Terry wohl gerne mitnehmen, ist aber zu stolz dazu - so stehen sie sich gegenseitig im Weg, und dann ist es zu spät.
Das mag auch der Beweggrund Dulcies sein, sich Fiscal-Smith zuzuwenden, denn sonst ist keiner mehr aus ihrer Vergangenheit übrig - die Einsamkeit des Alters, die letzten Verbliebenen - mit dieser Thematik schließt diese wunderbare, britische Trilogie ab, die ich unbedingt empfehlen kann.

Alle drei Sprecher konnten in den Hörbüchern überzeugen und tragen dazu bei, dass man diesen Geschichten gerne lauscht und traurig ist, wenn der letzte Ton verklungen ist.

Mittwoch, 4. Januar 2017

Gavriel Savit: Anna und der Schwalbenmann

- eine ungewöhnliche Freundschaft in Zeiten des Krieges.


Gebundene Ausgabe, 272 Seiten
ctb-Verlag, 29. Februar 2016
ab 14 Jahren









Inhalt
Anna Lania lebt in Krakau, ihre Mutter ist gestorben und ihr Vater ist Professor für Sprachen.
Er spricht unablässig mit Anna, "sie hatte keine Erinnerung an ihren Vater, in der er nicht redete" (S.14),  und das in vielen Sprachen u.a. in Deutsch, Englisch, Jiddisch, Russisch und Französisch, sogar Armenisch.

"Wenn aber ein Vater mit jedem eine andere Sprache spricht, stellt sich ein Kind irgendwann die Frage: Was ist die Sprache meines Vaters? Was ist meine? Die Antwort war einfach: Ihre Sprache war die der anderen." (S.14)

Am 6.November 1939 wird ihr Vater mit der gesamten Professorenschaft der Karkauer Jagiellonen-Universität verhaftet und in ein Internierungslager gebracht, das er nicht überlebt. Doch die 7-jährige Anna ahnt nichts davon. Statt dessen wartet sie vergeblich bei Doktor Fuchsmann, der eine Apotheke führt, auf die Rückkehr ihres Vaters aus der Universität.
Widerwillig lässt Doktor Fuchsmann sie in seiner Apotheke schlafen, bringt sie jedoch am nächsten Tag vor ihre Wohnungstür, vor der sie erneut vergeblich wartet. Als sie verzweifelt in die Apotheke zurückkehren will, begegnet sie dem Schwalbenmann.

"Er war groß und ungewöhnlich dünn. Der Anzug, ein Dreiteiler aus brauner Schurwolle, musste ihm auf den Leib geschneidert sein. Sie konnte sich keinen zweiten Mann mit den gleichen Maßen vorstellen und seine Kleider saßen wie angegossen. Er trug eine alte Arzttasche bei sich, deren braunes, abgewetztes Leder ein wenig heller als sein dunkler Anzug war." (S.27) 

Nachdem er gegenüber einem deutschen Soldaten autoritär aufgetreten ist, spricht er die verängstigte Anna ebenfalls auf Deutsch an. Als sie nicht antwortet, versucht er es auf Polnisch, danach Russisch und sogar Jiddisch. Das löst Annas Ängste auf, genauso wie das Anlocken einer Schwalbe, die dem Mann furchtlos in die Hand flattert.
Sie beschließt ihm zu vertrauen und ihm zu folgen, da sie nicht glaubt, dass ihr Vater wiederkehrt.
Der Schwalbenmann macht sich auf den Weg, wobei er kein Ziel zu haben scheint, er möchte nur nicht gefunden werden. Wovor er auf der Flucht ist, wird erst ganz am Ende angedeutet.
Aber er nimmt Anna mit und kümmert sich um sie, wenn auch mit äußerster Zurückhaltung.

"Er war ein Mann, der nicht immer sagte, was er dachte oder fühlte." (S.37)

Er lehrt sie die Gesetze der Straße und deren Sprache, denn sein Ziel ist, im Krieg zu überleben. Dazu ist es wichtig in Deckung zu bleiben, sich anzupassen, um nicht gefunden zu werden, und keinen Namen zu haben. So leiht Anna ihren Namen dem Schwalbenmann, der auf der Straße zu ihrem Papa wird.
In ihren Gesprächen während der Wanderschaft lehrt der Schwalbenmann Anna vieles über die Tiere und Pflanzen auf ihrem Weg. Die Soldaten aus dem Westen, die Polen besetzt haben, vergleicht er mit Wölfen, während die russischen für ihn wie Bären sind.

"Die Wölfe und Bären mögen keine Menschen, und wenn sie einen Grund finden, dir wehzutun, dann werden sie es tun. Sie sind hier, weil sie die Welt mit ihrer eigenen Art bevölkern wollen. Sie versuchen, sich soviel Platz wie möglich zu schaffen, und das tun sie, indem sie die Menschen loswerden, und dazu kannst jederzeit du gehören." (S.87)

Ihre Zweisamkeit endet, als Anna im Wald dem jüdischen Musiker Reb Hirschl begegnet, der mit seiner Klarinette aus dem Lubliner Ghetto geflohen ist. Der Schwalbenmann lässt ihn zunächst zurück, da er die Gefahr sieht, in der er sie bringen könnte. Doch Anna ist fasziniert von diesem lebenslustigen, unvorsichtigen Mann, der offenkundig alle Gebote der Straße verletzt und schleicht sich nachts zurück, um ihn zu finden.

"Hätte sie innegehalten, um nachzudenken wäre ihr klar gewesen, dass sie mit ihrem Vorhaben ein schreckliches Risiko einging - (...). Doch es ist die besondere Gabe der Kinder, ganz im Moment zu sein, ohne sich mit der Voraussicht zu belasten." (S.137)

In dieser Situation zeigt sich, dass scheinbare unzugängliche Schwalbenmann, Anna tief in sein Herz geschlossen hat, denn er folgt Anna und ihr zuliebe nimmt er Reb Hirschl in ihre Gemeinschaft auf. Ein humaner Akt in einer Welt, in der Menschlichkeit gefährlich ist.

Sie geraten auf ihrer Wanderschaft in das Unternehmen Barbarossa - im Juni 1941 ist Hitler in die Sowjetunion eingefallen. Zwischen den Fronten überleben sie, bis es irgendwann Anna ist, die den Schwalbenmann retten muss.

Bewertung
Ein stiller, leiser Jugendroman, der zunächst sehr sensibel die Kriegssituation in Polen darstellt. Gleich zu Beginn werden "sachlich" die notwendigen Fakten genannt, die Inhaftierung des Vaters, die Kriegssituation und auch die entsprechenden geschichtlichen Daten fließen mit ein. Die Grausamkeit, die Situation der Juden wird angedeutet, erst gegen Ende konfrontiert der Krieg Anna mit seiner hässlichen Fratze und fordert seine Opfer - allerdings sind auch diese Szenen behutsam formuliert und mit entsprechenden Leerstellen versehen. So weigert sich der Erzähler Details zu Reb Hirschls Ende preiszugeben, aber das macht es auch nicht ungeschehen.

Die Beziehung zwischen Anna und dem Schwalbenmann, der seine Zuneigung nicht offen, sondern in seinen Handlungen zeigt, ist einfühlsam beschrieben.  Allerdings gehört ein gewisses Maß an Empathie und Lebenserfahrung dazu, um dies wirklich zu erfassen. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Jugendliche damit nicht überfordert sind. Genauso wie mit den Grausamkeiten des Krieges, die zwar größtenteils ausgespart sind oder nur angedeutet werden, aber sie schweben zwischen den Zeilen und fordern zu Fragen heraus. Was auf der einen Seite genau das ist, was ein guter Roman gegen das Vergessen für Jugendliche tun sollte, andererseits ist es ein schmaler Grat, wie viel Jugendliche an realem Horror verkraften können.

Das Ende lässt viele Fragen offen, hier hätte ich mir gewünscht, man würde mehr über Annas weiteres Schicksal und das des Schwalbenmanns erfahren.

Trotz der Altersangabe ab 14 Jahren ist es für mich eher ein Roman - und zwar ein guter - für Erwachsene gegen das Vergessen.

Sonntag, 1. Januar 2017

Ray Bradbury: Das Böse kommt auf leisen Sohlen

- eine gruselige, fantastische Geschichte.


Taschenbuch, 272 Seiten
Diogenes, 25.September 2013
Originalausgabe: "Something wicked this way comes", 1962


Gelesen habe ich diese ungewöhnliche Geschichte im Rahmen einer Leserunde bei whatchareadin, vielen Dank auch an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.


Inhalt

Im Mittelpunkt dieses Romans stehen zwei Jungen, die in einer kleinen Stadt in Illionois leben, wahrscheinlich in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Die Geschichte spielt kurz vor dem 14.Geburtstag von Jim Nightshade und Will Halloway, eine "Woche im Oktober, in der sie über Nacht erwachsen wurden, in der das Jungsein ihnen entglitt..." (S.13).

Wills Vater, Charles Halloway arbeitet in der Bibliothek der kleinen Stadt, die wunderbar beschrieben wird:

"Alles geschah hier. Hör nur! Zehntausend Menschen schrien mit so hoher, schriller Stimme, daß nur Hunde die Ohren spitzten. Millionen schleppten Kanonen, schärften Guillotinen; Chinesen marschierten bis in alle Ewigkeit in Viererreihen. Unsichtbar, lautlos - doch Jim und Will besaßen die Gabe des Gehörs, des Geruchs und Geschmacks. Die Bibliothek war eine Fabrik für Gewürze aus fernen Ländern. Hier schlummerten fremdartige Wüsteneien. Ganz vorn stand der Tisch, an dem die freundliche alte Miss Watriss die entliehenen Bücher eintrug, doch dahinter lagen Tibet, die Antarktis, der Kongo. Dort wandelte Miss Wills, die andere Bibliothekarin, durch die Äußere Mongolei und trug schweigend Brocken von Peking und Yokohama und Celebes auf dem Arm. Weit untern hinter der dritten Regalreihe raschelte im Düstern der Besen eines alternden Mannes und fegte die zu Boden gerieselten Gewürze zusammen." (S.24)

Zu Beginn der Handlung, in der ein Blitzableiterverkäufer Jim einen Blitzableiter für das nahende Gewitter schenkt, steht vor allem der Kontrast der beiden Jungen im Mittelpunkt. In verschiedenen Szenen wird beschrieben, dass sie beste Freunde sind, aber vom Charakter und ihrem Wesen her kaum unterschiedlicher sein könnten.

Charles Halloway sagt in der Bibliothek zu ihnen:

"Jim trägt große schwarze Hüte und liest die entsprechenden Bücher. Bald wird er hier von Fu Mandschu zu Machiavelli aufsteigen - weicher Filzhut, dunkel. Oder auch zu Dr. Faustus - extragroßer schwarzer Zauberhut. Für dich, Will, sind die weißen Hüte da. Ghandi. Daneben steht der heilige Thomas. Und dann, auf der nächsten Stufe - vielleicht Buddha." (S.26)

Nachdem Will wieder einmal hinter Jim her rennt, fällt ihm auf:

"Es ist immer dasselbe. Er rennt. Ich rede. Ich drehe Steine um. Jim greift in den kalten Schlick darunter. Ich erklimme Hügel. Jim schreit von der höchsten Kirchturmspitze herab." (S.52)

Wie treffend diese Charakterisierung ist, zeigt der weitere Verlauf der Geschichte.
Auf dem Rückweg von der Bibliothek entdecken die beiden ein Papier, auf dem die Ankunft eines Jahrmarktes angekündigt wird: Cooger & Dark, der verschiedene Sensationen verspricht:
Mephistophele, der Feuerfresser, Mr. Elektriko, der illustrierte Mann, ein Skelett, die Staubhexe und ein Spiegellabyrinth.

Aufgeregt laufen sie nach Hause, Punkt Mitternacht wachen beide auf, da sie die Jahrmarktsorgel hören und beobachten von ihrem Fenster aus eine uralte Lokomotive, mit der der Zirkus anreist. Sie verlassen ihre Betten und beobachten heimlich, den Aufbau des Zeltes auf der Mondwiese. Die ganze Szenerie ist unheimlich und mysteriös.

 "In einem Zirkus sollte man Knurren und Brüllen hören wie im tiefen Wald (...). Aber das war wie ein alter Stummfilm, eine schwarz-weiße Bühne voller Geister, die ihre Lippen bewegten; mondweiß stand der Atem vor ihren Gesichtern, und alle Bewegungen vollzogen sich in so vollkommener Stille, daß man den Wind in den Härchen auf der Backe flüstern hörte." (S.55)

Am nächsten Tag im hellen Sonnenlicht verlieren die Jungen ihre nächtlichen Ängste und besuchen den Zirkus. Dort treffen sie ihre Lehrerin Miss Foley, die ihren Neffen Robert sucht. Zunächst hat es den Anschein, als ob sich alles Gruselige der Nacht in Wohlgefallen auflöst. Doch dann müssen die beiden Miss Foley aus dem Spiegelkabinett retten, die dort fast "ertrunken" wäre.
Auch Jim verliert sich kurzzeitig im Anblick der vielen Spiegelungen und am Abend auf dem Nachhauseweg entdecken die beiden Jungen plötzlich die Tasche des Blitzableiterverkäufers. Wo ist er hin? Und warum hat er seine Tasche zurückgelassen?

Deutet sich bisher nur an, dass etwas Böses auf leisen Sohlen näher kommt, betritt jetzt der Illustrierte Mann - Mr. Dark - die Bühne, dessen ganzer Körper mit schauerlichen Tattoos bedeckt ist. Die Jungen treffen ihn auf einem Karussell, das außer Betrieb ist. Voller Entsetzen werden sie heimlich Zeuge, wie sein Partner Mr.Cooger auf dem Karussell, nachdem es repariert ist, auf einer Rückwärtsfahrt zu einem 11-jährigen Jungen wird. (Wer "Herr der Diebe" von Cornelia Funke kennt, auch dort gibt es ein solches Karussell. Ob sie Ray Bradburys Geschichte gelesen hat?)

Als sie ihm nachlaufen, entdecken sie, dass er zu Miss Foleys Haus läuft. Ist es wirklich ihr Neffe? oder entspringt alles nur ihrer Fantasie.
Dieses In-der-Schwebe-lassen zwischen der Möglichkeit, die Jungen bildeten sich alles nur ein oder einer tatsächlichen fantastischen Begebenheit wird noch eine ganze Weile aufrecht erhalten. Erst im letzten Teil des Romans wird das Geheimnis um den Zirkus und Mr.Dark gelüftet.
Großartig ist die Szene, in der Will und Jim bei der Parade des Zirkus unter dem Gullydeckel sitzen, während der Illustrierte Mann sich mit Charles unterhält, weil er die beiden Jungen sucht. Da kommt das Böse auf leisen Sohlen.
Wills Vater spielt im Kampf dagegen eine immer größere Rolle und seine nächtlichen Gespräche mit Will - und auch Jim verlangsamen die Handlung, halten die Spannung noch länger aufrecht und sind zudem philosophisch gefärbt.

"Manchmal trägt der Mann, der am glücklichsten von allen aussieht, der immer mit dem breitesten Lächeln durch die Stadt läuft, die allergrößte Sündenlast. Es gibt solchen und solche Lächeln, man muß lernen, die dunklen von den lichten zu unterschieden. Wer bellend lacht, richtig laut und herzhaft, der hat meist etwas zu verbergen. (...) Andererseits sieht man manchmal Menschen vorbeigehen, unglücklich, bleich, niedergeschlagen -das sind zuweilen die wirklich guten Menschen, Will. Gut sein ist nämlich furchtbar schwierig. Die Menschen strengen sich an und zerbrechen dabei oft. (...)
Ach, wie herrlich wäre das, wenn man nur gut sein und Gutes tun müßte, nicht immer darüber nachdenken!" (S.129)

Bewertung
Ray Bradburys Schreibweise ist besonders bilderreich und erinnert mich an Harper Lee.

"Sein Leben lang hatte er [Charles] Bücher geschrieben, geschrieben in die gewaltigen Räume gewaltiger Gebäude, und sie waren zu den Fenstern hinausgeflogen." (S.193)

Es gelingt ihm mit diesen Bildern von Anfang an eine unheimliche, gruselige Atmosphäre zu zeichnen, die die Leser/innen lange im Unklaren lassen, ob das alles der Fantasie der Jungen entspringt, oder ob hier etwas Böses am Werk ist. Und wenn, was oder wer ist das Böse?
In der Leserunde wurde erwähnt, dass Bradbury Stephen King beeinflusst haben soll, darüber kann ich wenig sagen, da ich überwiegend seine Filme kenne. Einige Szenen erinnern mich aber an "Es", das zunächst harmlos Wirkende, dass sich dann als besonders gefährlich erweist - der Clown, der Zirkus.
Ein bemerkenswerter Roman, der durch seine besondere Sprache überzeugt und mit philosophischen Exkursen aufwartet. Und auch die Botschaft ist eine zeitlose, wie das Ende des Romans offenbart.


!SPOILER!
Der illustrierte Mann erweist sich nämlich als moderner Mephisto, der die lebenden Seelen der Menschen einfängt und sie als Abbilder auf seinem Körper erscheinen lässt, eine "Kreatur, die es gelernt hat, von Seelen zu leben." (S.192)

Er versteht es, die Menschen mit ihren unerfüllten Sehnsüchten, Ängsten und Schmerzen anzulocken und zu binden. Sie zu erlösen.
Charles Halloway gelingt es, dem Bösen etwas entgegenzusetzen - das Lachen. Es vertreibt die Ängste, die Schmerzen und kann die Seele befreien. Obwohl man gerade ihm, der unter seinem Alter leidet, zugetraut hätte, den Verlockungen des Karussells zu erliegen, erweist er sich als großer Held, der den illustrierten Mann, den Seelenfänger mit seinem Lachen, das seine eigenen Ängste und die Sehnsucht nach Jugend vertreibt, besiegt.