Donnerstag, 25. April 2024

Scott Alexander Howard: Das andere Tal

Ändert sich die Zukunft, wenn man die Vergangenheit beeinflusst?

Leserunde auf whatchaReadin

Ein ungewöhnliches Setting hat sich Scott Alexander Howard einfallen lassen. Die 16-jährige Protagonistin Odile, aus deren Ich-Perspektive der Roman erzählt wird, lebt in einem Tal, das von Bergen und einem See begrenzt wird. Jenseits der Berge im Osten liegt das gleiche Tal, allerdings 20 Jahre in der Zukunft, dahinter eine weiteres Tal, wieder 20 Jahre in der Zeit voran. Wie viele von den Tälern es gibt, bleibt offen. Im Westen hingegen liegt die Vergangenheit - das Tal vor 20 Jahren, sowie weitere Täler, jeweils 20 Jahre in der Zeit zurück.

Die schüchterne Außenseiterin Odile, die in der Schule keinen Anschluss hat, bewirbt sich auf Bestreben ihrer Mutter - ihr Vater ist gestorben, als sie 4 Jahre alt war - für eine Ausbildung im Conseil. Dieses regelt die Besuche zwischen den Tälern. Menschen, die jemanden verloren haben, den sie sehr geliebt haben, können unter bestimmten Umständen diesen in der Vergangenheit besuchen, oder wenn Menschen wissen, dass sie sterben, einen geliebten Menschen in der Zukunft sehen. Diese Besuche unterliegen strengen Auflagen und müssen von eben jenem Conseil entschieden und überwacht werden.
Odile muss im Auswahlverfahren auf die Frage antworten, in welches Tal sie reisen wolle - nach Osten oder Westen.
Diese Frage wirft viele Gedanken auf:
Würde ich wirklich in die Vergangenheit reisen wollen, um einen geliebten Menschen noch einmal sehen zu dürfen? Wenn ich weder mit ihm sprechen darf noch die Zeit verändern darf? Würde es mich nicht allzu sehr belasten und die Trauer noch verstärken?

Odiles Leben nimmt eine entscheidende Wendung, als sie zufällig vor der Schule Besucher aus einem anderen Tal trotz deren Masken erkennt. Es sind die Eltern Edmes, eines Mitschülers, der sich für Odile in einer Situation eingesetzt hat, in der sie gedemütigt wurde, und für den sie zunehmend Gefühle entwickelt. Der Besuch kann nur bedeuten, dass Edme bald sterben muss.
Bis dahin wähnt man sich in einem klassischen Jugendbuch und die Vermutung entsteht, dass sie sich ernsthaft in Edme verlieben und in ein Dilemma geraten wird. Soll sie ihm verraten, dass er sterben wird? Soll sie ihn warnen? Und was wird auch ihrer Bewerbung für das Conseil, wenn sie solch eine Handlung vollzieht.

Im Conseil wird während des Bewerbungsverfahrens darüber diskutiert, ob in dem Moment, in dem ich die Vergangenheit ändere, auch die Zukunft für alle eine andere wird. Die Gefahr besteht, dass man die Zukunft so beeinflusst, dass bestimmte Dinge bzw. Menschen nicht nur verschwinden, sondern es so sein wird, dass sie nie existiert haben.

"Was es nie gegeben hat, hinterlässt keine Spur. Keine schwache Erinnerung, kein störendes Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kein Erschaudern, nichts." (S.125)

Eine Veränderung würde alle betreffen würde, wie Wellen würde sich die Veränderung durch das ganze Tal ziehen.
Sehr kompliziert, die Sache mit der Zeit, wenn man nicht Einstein ist  - aber auch sehr faszinierend. In der Leserunde wurde intensiv über das Paradox der Zeitreisen diskutiert.
Eine Frage haben wir uns auch gestellt: Was ist mit der genetischen Vielfalt im Tal, wenn es nur diesen begrenzten Raum gibt?

Im 2.Teil des Romans wird die Handlung deutlich düsterer und verliert zeitweise den Jugendbuchcharakter. Über das Ende wurde in der Leserunde heftig diskutiert. Dieses möchte ich aber den zukünftigen Leser:innen des Romans nicht vorwegnehmen. Es gab Stimmen pro und contra und auch andere mögliche Alternativen für den Schluss kamen zur Sprache.
Mir persönlich hat das Ende gefallen und ich fand das Zeitreise-Gedanken-Experiment sehr spannend und interessant, es führt uns selbst zu der Frage "was wäre gewesen wenn "- allerdings können wir (noch) nicht in der Zeit zurückreisen, um eventuelle Fehler wieder gut zu machen oder unsere Zukunft zu verändern.
Auch sprachlich hat mich der Roman überzeugt, dem Autor gelingt es die jeweilige Stimmung der Situation einzufangen. Eine schöne Passagen, in denen Edme für die Aufnahmeprüfung am Konservatorium übt und Odile ihm zuhört:

"Wie ein Derwisch sprang Edme vor den Bäumen umher; seine Geige zerriss die Nacht in schmale Bänder. als er fertig war, herrschte dröhnende Stille." (S.152)

Ein lesenswerter Debütroman, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.