Sonntag, 23. Dezember 2018

Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen

- 10 Kurzgeschichten aus 10 Jahren.

Lesen mit Mira

Benedict Wells Roman "Vom Ende der Einsamkeit" war eines der Lese-Highligths aus dem Jahr 2016. Danach habe ich seinen Erstling "Spinner" gelesen, während die anderen Romane noch auf mich warten. Deshalb war ich glücklich, als Mira vorschlug, gemeinsam die Neuerscheinung von Wells zu lesen, auch wenn es "nur" Kurzgeschichten sind. Uns beiden gefällt seine Art und Weise zu schreiben und unsere übereinstimmende Meinung ist, er möge wieder einen Roman schreiben, damit wir länger daran lesen können - die Geschichten sind viel zu schnell vorbei.
Wir haben uns darauf geeinigt, dass jede von uns zwei der 10 Geschichten intensiver rezensiert, hier geht es zu Miras Geschichten, die sich "Richard" und "Die Nacht der Bücher" ausgesucht hat. Letzteres stammt aus dem Kosmos "Vom Ende der Einsamkeit", genau wie die Geschichte "Die Entstehung der Angst", die die Kindheit von Jules Vater Stéphane Moreau näher beleuchtet.

Einige der Geschichten haben eine fantastische Komponente, in zwei Geschichten reisen die Protagonisten in der Zeit. In der ersten Geschichte "Die Wanderung" steht der erfolgreiche Geschäftsmann Henry im Mittelpunkt, der seine Freiheit liebt und darüber seine verständnislose Frau und seine beiden Kinder Mia und David vernachlässigt. Selbst im Urlaub wickelt er Geschäfte ab und kann sich nicht entschließen mit seiner Familie zu entspannen.

"Wir wollen gleich grillen." Sie hielt seine Hand. "Bist du dabei?" Henry gefiel die Vorstellung, den Tag mit seiner Familie zu verbringen, doch im selben Moment blickte er wieder zum Berg. Trotz seiner Wanderleidenschaft war er noch nicht dort oben gewesen, dabei konnte der Aufstieg kaum länger dauern als...was, zwei, drei Stunden?" (15)

Bevor Henry zur Wanderung aufbricht, schaut er noch kurz nach seinem kränklichen Sohn David, der von Migräneanfällen heimgesucht wird. Unbeholfen bemüht er sich um ein Gespräch, verspricht ihm eine Überraschung zur Geburtstagsfeier, die am Abend stattfinden soll.

"Der Gedanke an das Geschenk schien den Jungen tatsächlich aufzumuntern. Seine Augen leuchteten auf, er wollte gerade etwas erzählen, als das Handy läutete. Henry zögerte, dann streichelte er seinem Sohn durchs Haar und ging zum Telefonieren auf den Flur; auf der Geburtstagsfeier am Abend würde er es wiedergutmachen." (17)

Als seine Tochter Mia ihn begleiten will, weist er sie ab. Sie darf ihn ein Stück Weg begleiten, doch er will allein sein, um noch Geschäfte zu erledigen. Am frühen Nachmittag erreicht er eine Almwirtschaft, während ihn die freudige Nachricht erreicht, dass die geplante Fusion unterzeichnet worden war - es ist der Höhepunkt seiner Karriere.

"Dies waren die goldenen Jahre, als Vater, als Mann und im Beruf, und er genoss seine Freiheit als Wanderer zwischen diesen Welten, die er für seine größte Leistung hielt." (21)

Statt umzukehren, damit er pünktlich auf der Feier erscheinen kann, will er noch zum Gipfel. An der Bergspitze angekommen, schlägt das Wetter um, Wolken ziehen auf und ein Unwetter kündigt sich an. An der fast verlassenen Almwirtschaft trifft er einen alten Kommilitonen, der ihn mit dem Aussage verwirrt, das mit seinem Sohn tue ihm leid, so früh, das sei tragisch.

An dieser Stelle deutet sich der Zeitsprung offensichtlich an.

Henry versucht zuhause anzurufen, doch ohne Erfolg, später lautet die Ansage, die Nummer sei nicht vergeben. Der Heimweg ist beschwerlich, da Henry vor einem großen Schäferhund flüchtet, verliert er die Orientierung, gerät in einen heftigen Regenschauer und er verstaucht sich den Knöchel. In dieser Ausnahmesituation stellt er sein Leben in Frage.

"Es schien ein anderer Tag gewesen zu sein, als er am Pool gestanden und den Sprüngen seiner Tochter zugesehen hatte. Wieso hatte er sie nicht mitgenommen? Wieso zog es ihn in harmonischen Momenten so oft fort, von seiner Familie, von Abenden bei Freunden?( (26/26)

"Die Urlaube, die er verpasst hatte, weil er beruflich wegmusste oder geglaubt hatte, wegzumüssen; die vielen Erlebnisse seiner Kinder, die er bloß vom Hörensagen kannte und kaum wahrnahm." (27)

Und er nimmt sich vor, all dies zu ändern. Mehr Zeit mit den Kindern zu verbringen, alles nachzuholen.

"Vielleicht hatte er erst eine Wanderung wie diese gebraucht, um seine Lektion zu lernen, aber er würde sein Fehler korrigieren und alles ändern, wenn er nur endlich wieder zu Hause war." (29)

Doch als er nach einer gefühlten Ewigkeit ankommt, hat sich sein Leben verändert - seine Tochter ist erwachsen, sein Sohn gestorben.

Die Geschichte zeigt eindrücklich die Wahrheit über das Lügen, denn Henry belügt sich, wenn er sich vornimmt, ab jetzt alles zu ändern. Wie oft fassen wir gute Vorsätze, mehr Zeit mit den Menschen zu verbringen, die uns am Herzen liegen. Und als erfolgreicher Geschäftsmann ist er der Prototyp all derjenigen, für die der Beruf an erster Stelle steht. Die Wahrheit ist, er wird sich nicht ändern, wie das Ende deutlich zeigt.

In allen Geschichten geht es darum, dass Menschen mit einer Lüge leben oder die Wahrheit nicht wahrhaben wollen.

In der Erzählung "Das Franchise oder: Die Wahrheit über das Lügen" schildert der fiktive erfolgreiche Drehbuchautor und Filmproduzent Adrian Brooks einem Journalisten von der Lüge, auf der er sein Imperium aufgebaut hat. In seiner offiziellen Vita ist er 1946 geboren und hat als Waise auf der Straße gelebt, bis ihm mit Star Wars (!) der große Durchbruch gelungen ist.
Doch Winkler gegenüber will er jetzt endlich die Wahrheit erzählen. Eigentlich sei er
1986 in San Francisco geboren, ein erfolgloser Drehbuchschreiber gewesen und sei in seiner Funktion als Filmkritiker von Georg Lucas, dem Vater von Star Wars, beauftragt worden, eine Biographie über ihn zu schreiben. Dabei habe er herausgefunden, auf wie vielen Zufällen die Entstehung des erfolgreichsten Weltraumabenteuers basiere.
Aus ihm unbekannten Gründen wurde er jedoch gefeuert und er entwickelt einen Hass auf Lucas, steigt beruflich ab, so dass er Pizzabote werden muss.
Während einer Lieferung in einem verfallenen Haus landet er in einem Aufzug und reist zurück ins Jahr 1973 - vier Jahre bevor Star Wars in die Kino kommt.
Brooks fasst den irrwitzigen Plan, selbst das Weltraumabenteuer zu verfassen, schließlich kennt er den Entstehungsprozess aus seinen Recherchen.

Eine skurrile Geschichte, die durch 40 Jahre Filmgeschichte führt und zeigt, dass Zufälle nicht planbar sind und auch dass winzigen Veränderungen der Geschichte - Butterfly-Effekt genannt - trotzdem große Auswirkungen haben können. Obwohl ich kein Star Wars -Fan bin, hat mich die Erzählung in ihren Bann gezogen.

Brooks fantastisches Beispiel verdeutlicht jedoch auch, dass ein Leben basierend auf einer Lüge kein  glückliches werden kann - sofern man ein Gewissen hat.

Auch wenn ich persönlich die Geschichte "Die Fliege" metaphorisch zu offensichtlich empfunden habe, hat uns beiden der Erzählband insgesamt gut gefallen und viele Geschichten laden zum intensiven Austausch ein. Die Hoffnung bleibt, Wells möge bald wieder einen Roman veröffentlichen ;)