- der erste Roman des Autors "Vom Ende der Einsamkeit"
Buchdaten
Taschenbuch, 320 Seiten
Verlag: Diogenes
überarbeitete Ausgabe, erstmals erschienen 2009
ISBN-13:978-3-257-24384-0
Vielen Dank an den Diogenes Verlag, der mir dieses Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt hat.
Inhalt
Jesper Lier ist 20 Jahre jung und von von München nach Berlin gezogen, um Schriftsteller zu werden. Seiner Mutter gaukelt er vor, er würde studieren, hätte eine Freundin und es ginge ihm gut. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Er lebt in einem Kellerloch am Prenzlauer Berg, schreibt nächtelang betrunken an seinem über 1000 Seiten umfassenden Roman "Der Leidensgenosse" und ist physisch und psychisch in einem desolaten Zustand. Sein einziger Freund ist der homosexuelle Gustav von Wertheim, der unbedingt an die Filmhochschule will und aufgrund seines reichen Elternhauses keine finanziellen Nöte hat.
"Wir betraten mein Zimmer. Außer ein paar Postern und den wenigen Möbeln war es leer. Wortlos betrachtete Gustav die unzähligen, überall herumliegenden Seiten von >Der Leidensgenosse<. Jeder sollte mich für so ein kleines Außenseiter-Genie bei der Arbeit halten, deshalb hatte ich die Wohnung damit übersät. Auf so was achtete ich penibel. Es sollte so aussehen, als wäre ich einfach nur unordentlich, dabei verwendete ich wahnsinnig viel Zeit darauf, bis alle auf dem Boden verstreuten Blätter, Kaffeetassen und das an einer schönen Stelle aufgeschlagene Buch von Nabokov an ihrem richtigen Platz waren." (S.31f.)
Der Roman startet an einem Montag und Jesper hat gerade zum wiederholten Male erfolglos versucht, nach München zu fahren. Nächsten Sonntag soll er zuhause sein, um gemeinsam mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder die Wohnung aufzulösen. Nach dem Tod seines Vaters, der zwei Jahre zurückliegt, kann seine Mutter diese nicht halten. Doch es gelingt ihm nicht, in den Zug zu steigen. Obwohl einer der wichtigsten Menschen für Jesper in München lebt: der alte Born, ein eremitierter Germanistikprofessor, der an ihn glaubt und ihn wie einen eigenen Sohn behandelt. Doch gerade ihm will Jesper beweisen, dass er es als Schriftsteller schaffen kann und bricht aus diesem Grund den Kontakt zu ihm ab.
Die Handlung spielt in dieser einen Woche von Montag bis zum Sonntag - eine Woche, in der sich Jespers Leben von Grund auf ändert.
Dazu trägt die Bekanntschaft der Studentin Miriam bei, in der er sich Hals über Kopf verliebt. Außerdem rettet er seinen Jugendfreund Frank aus den Fängen seiner besitzergreifenden Familie:
An die Produzenten von Frank:
Euer Sohn dreht ab jetzt seinen eigenen Film.
IHR SEID BEIDE GEFEUERT.
Jesper (S.90)
Auch den Kontakt zu Frank hatte Jesper aufgegeben, im verzweifelten Versuch, seinen eigenen Weg zu gehen und seine Träume zu verwirklichen. Doch jetzt wird ihm bewusst, wie wichtig dieser für ihn ist.
"Wir waren kurz vor Berlin, als Frank mich auf den neuesten Stand über alte Mitschüler brachte. Unfassbar, wo die alle gelandet waren. Alle ließen sich treiben, hatten der Willkür des Lebens so wenig entgegenzusetzen. Die eine studierten Lehramt, die anderen Betriebswissenschaft und Jura, der Rest Archäologie, Krankenhausmanagement, Linguistik oder noch seltsamere Sachen. Wenn man ihnen das vor ein paar Jahren prophezeit hätte; sie hätten es nicht geglaubt. Es war schon verrückt: Als Teenager hatten diese Leute Träume gehabt, jahrelang hatten sie sich erzählt, was sie nach der Schule machen wollten. und als sie dann neunzehn, zwanzig wurden, taten fast alle von ihnen was komplett anderes und setzten plötzlich nur noch auf Sicherheit. Alle hatte Angst vor Lücken in ihrem Lebenslauf. Aber niemand schon Angst davor zu haben, seine Träume zu verraten." (S.99)
Im Laufe der Woche fällt es Jesper zunehmend schwerer, seine Träume von der Realität zu unterscheiden. Er leidet unter Angstträumen, Visionen, in denen er von seinen eigenen Romanfiguren verfolgt wird. Immer wieder bricht er zusammen und sein körperlicher Zustand verschlimmert sich. Dazu trägt auch bei, dass der alte Born stirbt, ohne dass Jesper noch einmal mit ihm reden kann und dass der Chefredakteur des Berliner Merkurs, bei dem er ein Praktikum absolviert, seinen Roman liest und ihm zwar Talent bescheinigt, von dem Leidensgenossen jedoch enttäuscht ist.
"Ihr Buch ist der totale Stillstand. (...) Alles stagniert. Sie haben Angst, etwas zu tun, Sie warten nur." (S.212)
Mit dieser Aussage bringt er treffend Jespers Leben auf den Punkt, das stillsteht, ohne weiter zu gehen, da die Vergangenheit ihn gefangen hält. Sein Schlüsselerlebnis ist der Tod des Vaters, dem er sich stellen muss, um weiterzugehen.
Als er schließlich im Krankenhaus landet und ein Arzt ihm dringend rät, sich in psychische Behandlung zu geben und seine Lebensweise umzustellen, stellt er sich seiner Vergangenheit, indem er sich seinen Freunden öffnet und die Heimkehr nach München beschließt.
Bewertung
"Spinner" ist Wells erster Roman, den er mit 19 Jahren geschrieben hat. Wie sein Protagonist zog Wells nach von München nach Berlin, um sich dort als Schriftsteller zu versuchen. Inwiefern die Vater-Sohn-Beziehung autobiografische Züge trägt, bleibt offen und ist für den Roman unerheblich, der durch seine Sprachkraft und die Darstellung der Orientierungslosigkeit der Hauptfigur beeindruckt.
Die zentralen Fragen des jugendlichen Protagonisten, die ihn unabhängig vom Tod seines Vaters umtreiben, sind die, mit denen sich jeder an der Schwelle zum Erwachsenensein auseinander setzen muss, sie gehören zwangsläufig dazu, wenn man die Kindheit hinter sich lässt.
"Viele junge Menschen fallen nach dem Ende der Schule in ein Loch. Kein Wunder, wenn sich auf einmal das ganze weitere Leben vor einem ausbreitet und man nicht weiß, wohin man zuerst gehen soll. Und was jetzt? Kriege ich einen guten Beruf? Bin ich glücklich, und wenn nicht, wie werde ich es? Sie kenne diese Fragen vielleicht. Dieses Verlorenheitsgefühl ist ganz normal. Wenn man sein ganzes bisheriges Leben alles vorgeschrieben bekam und dann plötzlich auf eigenen Beinen stehen muss, dann ist das für einen jungen Menschen nicht immer leicht." (S.275)
Wells gelingt es diese Ängste erlebbar zu machen, unter anderem anhand der Figur von Frank, der aus seinem bisherigen Leben ausbricht, ohne jedoch seine Lebensbahn wie Jesper ganz zu verlassen.
Dessen depressive Phasen schildert Wells in eindringlicher, poetischer Sprache: seine
Angst vor dem Erwachsen werden, die Orientierungslosigkeit und den Verlust des Vaters.
Ein Entwicklungsroman, der den schwierigen Weg zeigt, den eigenen Träumen zu folgen, sich der Vergangenheit zu stellen - trotz der Ängste und Unsicherheiten weiter zu gehen und Neues zu wagen.
Beeindruckend!