"Niemand ist oben oder sonst wo im Haus. Nur Dora, die über eine Romanfigur brütet, diesen Ehemann Barry (...) den sie in eine Geschichte eingebaut hat, die, wie die meisten ihrer Geschichten in letzter Zeit, keinen richtigen Sinn ergeben." (S.18)
Im ersten Tagebuch beleuchtet sie die Frage, ob sie den Schriftstellerinnenberuf aufgeben kann und den Schreibprozess selbst. Der Teil ist aus der Ich-Perspektive geschrieben. Interessant ist die Idee, dass der letzte Satz des Tagebuchs den Beginn des nächsten Kapitels darstellt, in dem es um den Bruder der Autorin geht, der 1974 von der Autorin gedrängt wurde, nach Indien zu reisen, um etwas zu erleben.
Großartig schildert Dora Frenhofer das, was ihrem Bruder in Indien geschehen sein könnte und flicht nebenbei die Problematik der wachsenden Bevölkerung anhand der Geschichte einer weiteren Person ein. Beide treffen aufeinander- gut erzählt und teilweise komisch und tragisch. Genau wie das Kapitel über ihre Tochter Beck Frenhofer, die Texte für Comedians verfasst, ohne dass dies jemand wissen darf. Selbst auf der Bühne gescheitert, ist dies ihr Talent. Für andere Gags zu schreiben.
"Sie hat seit Jahren nicht mehr auf der Bühne gestanden und ist in der Öffentlichkeit unbekannt. Trotzdem ist Beck Frenhofer eine der einflussreichsten Comedians ihrer Generation." (S.87)
In diesem Kapitel werden die Auswirkungen des Lockdowns auf die Künstlerszene aufgezeigt, aber auch aktuelle Themen wie Cancel-Culture, Blackfacing und wie "grottenschlechtes" Material viral gehen kann. Wie eine Reaktion eine Gegenreaktion erzeugt.
Stilistisch unterscheidet sich dieses Kapitel extrem vom vorherigen - vom Vokabular, Satzbau, stilistische Mittel. Rachmann tritt meines Erachtens genau den Ton der Szene. Beck glaubt kurzfristig, sie könne eine eigene Karriere beginnen, endlich auf die Bühne treten, doch sie bleibt Regisseurin im Hintergrund.
Im Tagebuch erinnert sich Dora daran, wie sie Becky das Lesen beigebracht hat.
Hier taucht der Titel explizit zum ersten Mal auf, da Dora steht Angst hatte, literarisch Gebildete könnten sie als "Hochstaplerin" entlarven. (S.122)
Jedes Kapitel hat seinen eigenen Sound, einen für die Figur passenden Stil. Jede Geschichte für sich wirkt sehr realistisch, alle Protagonisten sind authentisch, glaubwürdig gezeichnet. Die Kritik bzw. die Beobachtungen über gesellschaftliche Phänomene und Probleme werden so in den entsprechenden Kontext, in die Geschichte der einzelnen Figuren eingebettet, dass sie "by the way" daherkommen. Keine Belehrung, kein Pädagogisieren, nur Beobachtungen, so dass wir als Leserinnen und Leser uns selbst eine Meinung dazu bilden können.
Hat man das letzte Kapitel gelesen, stellen sich folgende Fragen:
Welcher Teil ist Fiktion der Autorin Frenhof, wo begegnet uns die wahre Dora Frenhofer? In den Tagebucheinträgen, im letzten Kapitel? Welche Figuren sind fiktiv, welche haben als Freunde der Autorin wirklich existiert?
Das Grandiose ist jedoch, dass diese Fragen letztlich nicht wichtig sind, sondern zeigen, welche Wirkung Fiktion entfalten kann. Wie gebannt wir die Geschichten der herausragend gestalteten, authentischen Figuren verfolgen. Jede einzelne Figur und das, was ihr widerfahren ist, könnte es real sein und ist doch fiktiv - im doppelten Sinne ;)