Sonntag, 28. März 2021

Takis Würger: Noah

 Von einem, der überlebte

Leserunde auf whatchaReadin

Der Roman erzählt die Lebensgeschichte von Noah Klieger, die er im "Frühling des Jahres 2018 in Tel Aviv [...] unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses" (9) dem Schriftsteller Takis Würger erzählt hat. Im Dezember 2018 verstarb Noah Klieger in Tel Aviv.

Im Jahr 2017 lernte Würger den Auschwitz-Überlebenden in Günzburg kennen, wo er an einem bayrischen Gymnasium über die Shoah sprechen sollte, und sie entschieden, dass sie gemeinsam sein Leben festhalten wollten - zweieinhalb Monate lange erzählte Noah Klieger und Takis Würger hörte zu. Er selbst sagt, dass dieses Buch in der "Tradition der Oral History" erschienen ist. Die Geschichte wird so erzählt, wie Noah sie erinnert. Daraus resultieren einerseits Leerstellen in der Biographie - Ereignisse, zu denen man als Leser*in gern mehr erfahren hätte - andererseits ein nüchterner, fast sachlicher Stil, der eher einem Bericht als einer erzählten Geschichte gleicht. Die Erklärung, dass Noah Klieger die Geschichte genau in dieser Art und Weise erzählt haben wollte und dass manche Ereignisse so traumatisch sind, dass Menschen auch nach Jahrzehnten nicht darüber sprechen können, erfahren wir als Leser*innen erst im Nachwort von Takis Würger, Noahs Nichte Alice Klieger und von Sharon Kangisser Cohen, die erzähltheoretische Erklärungen für die Art und Weise der Darstellung liefert. Diese Informationen hätte ich für meinen Teil gerne als Vorwort gelesen, um die Lebensgeschichte und den Stil, in dem sie geschrieben wurde, besser einordnen zu können.

Zum Inhalt

Der erste Teil erzählt von Noahs Verhaftung in Belgien und seiner Deportation nach Auschwitz. Das Leben im Lager wird knapp geschildert, vieles nur angedeutet. All jene, die sich mit der Thematik beschäftigt haben und andere Romane "Gegen das Vergessen" gelesen haben, wissen die Leerstellen zu füllen. In der Leserunde wurde in dem Zusammenhang über die Frage diskutiert, ob Jugendliche, die zum ersten Mal eine Lebensgeschichte eines Holocaust-Überlebenden lesen, nicht zusätzliche Informationen bräuchten - sie sollten auf jeden Fall zuerst das Nachwort lesen.

Die perfide Grausamkeit der Täter, ihre Willkür und ihr Sadismus sind trotz des nüchternen Erzählstils greifbar und gleichzeitig unfassbar. Noah überlebt die schwere Arbeit, die Selektionen, bei denen er auf Josef Mengele trifft und auch den Todesmarsch. Er selbst hat sein Überleben "als einen Überlebenskampf, in dem er ein aktiver Teilnehmer war" (169) betrachtet.

Während der zweite Teil von der unmittelbaren Zeit nach der Befreiung der Lager berichtet, handelt der dritte Teil von der Überfahrt der Exodus von Frankreich nach Palästina, wo das Schiff von britischen Soldaten überfallen, angegriffen und zurück nach Frankreich gezwungen wurde. Dieser Teil der Geschichte, der Umgang mit den jüdischen Überlebenden, ist weniger bekannt und zeigt, dass für viele das Leiden nach der Kapitulation Deutschlands nicht vorüber gewesen ist.

Der letzte Teil dokumentiert, was aus den Menschen, denen Klieger begegnet ist, geworden ist und gibt einen kurzen Überblick über sein eigenes Leben als Zionist und Journalist.

Fazit

Obwohl ich es wichtig finde, dass die Lebensgeschichte Kliegers erzählt werden sollte und im Nachwort auch erläutert wird, warum sie auf diese Art und Weise geschildert wird, hat mich die Biographie dennoch nicht überzeugen können. Der Stil (Würgers (?) ist mir persönlich zu sachlich, zu nüchtern. Ich habe kaum Zugang zur Person Kliegers gefunden, kann mir jedoch vorstellen, dass persönliche Begegnungen mit Noah Klieger oder die Vorträge, die er regelmäßig in Deutschland gehalten hat, sehr bewegend waren, wie Würger in seinem Nachwort schildert. Der Roman vermag dies nur bedingt widerzuspiegeln, auch wenn er "ein Akt des Andenkens - eine Art symbolisches Grab oder eine Dokumentation des Erlittenen" (178) ist.

Vielen Dank dem Penguin Verlag für das Lese-Exemplar.


Sonntag, 14. März 2021

Benedict Wells: Hard Land


- ein "euphancholischer" Roman.

"Neues Wort. Mischung aus Euphorie und Melancholie" (98)

- ein Gefühl, das beides vereint, beschreibt das Empfinden beim Lesen des Romans ziemlich gut.

Der Ich-Erzähler, Sam Turner, inzwischen 17 Jahre alt, schildert rückblickend, was im Sommer 1985 und in dem Jahr danach geschehen ist.

"In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb." (11)
"Es war der Anfang der Sommerferien, und von dem Berg an Langeweile, der vor mir aufragte, hatte ich noch nicht mal die Spitze abgetragen." (11)

Sam schwankt zwischen der Angst um seine Mutter, die einen Gehirntumor hat(te) und der es gesundheitlich besser geht, und dem Wunsch etwas zu erleben. Er will endlich hinter die 49 Geheimnisse (=Anzahl der Kapitel im Roman) seiner Heimatstadt Grady im Bundesstaat Missouri zu kommen, von denen der einzige Schriftsteller der Stadt William J.Morris in seinem Gedichtzyklus "Hard Land" (!) spricht. Diesen Schriftsteller hat Wells wahrscheinlich erfunden, da die Gedichte, in denen Sam während des Sommers liest,  jeweils in Zusammenhang mit der Handlung des Roman stehen.

Interessanterweise erklärt Wells den Aufbau seines Romans, indem er den Highschool-Lehrer, der den Gedichtzyklus im Unterricht bespricht, erklären lässt, "Hard Land" sei wie ein klassisches Drama konstruiert:
Exposition (Die Wellen) - Komplikation (Der Ball in der Luft) - Peripetie (Die Prüfung) - Retardation (Der Streich) - Katharsis (Die Pointe)

Ohne den Inhalt vorwegnehmen zu wollen, es passt perfekt. Im ersten Teil werden die Figuren und der Ort vorgestellt. Sam, der keine Freunde hat, litt als Kind unter Panikattacken und war deswegen in psychotherapeutischer Behandlung. Immer noch fällt es ihm schwer, sich unter Gleichaltrigen cool und gelassen zu verhalten. Im Kino Metropolis, in dem er einen Job bekommt, lernt er eine Clique aus zwei Jungen und einem Mädchen kennen, die nach den Ferien aufs College gehen wird. Zunächst weisen sie ihn freundlich zurück, doch nachdem er sich Kristie offenbart, ihr seinen Kummer und seine Ängste anvertraut hat, verschiebt sich das Gleichgewicht und er wird in dieses seltsame Trio aufgenommen, bestehend aus dem stillen, ruhigen Brandon mit dem Spitznamen Hightower (Football-Spieler), dem redseligen, filmbegeisterten Cameron, der homosexuell ist, und der selbstbewusst wirkenden Kristie, die in einigen Situation unsicher wirkt und Sätze und Wörter wie "die Quittung der Nacht" sammelt.

Im zweiten Teil steht die Beziehung zu Kirstie, in die sich Sam verliebt, im Mittelpunkt. Aber Sam erzählt auch von seinem innigen Verhältnis zu seiner Mutter, die ihn dazu drängt, arbeiten zu gehen, Zeit mit seinen neuen Freunden zu verbringen, weil sie sieht, wie er aufblüht und sie bald nicht mehr für ihn da sein kann.
Auch sein Vater unterstützt ihn erstaunlicherweise darin, obwohl Sam ein eher distanziertes Verhältnis zu ihm hat.
"Mein Vater war mir oft wie ein heruntergelassene Jalousie vorgekommen. Doch an jenem Mittag konnte ich zumindest durch die Ritzen spähen." (47) 

Mit Hightower entwickelt sich eine ernsthafte Freundschaft, gemeinsam joggen sie jeden Morgen und Sam erfährt, dass er als 12-Jähriger seine Mutter verloren hat und bei seinem Stiefvater lebt.

An seinem Geburtstag, der Peripetie, muss Sam drei Prüfungen ablegen - wie ein klassischer Held - und er erkennt, dass es "nicht die gleichen neunundvierzig Geheimnisse für alle gab, sondern jeder seine eigenen hatte" (186).

Die Pointe des Romans ist die gleiche, auf die auch der (fiktive) Gedichtzyklus hinausläuft, und rundet diesen Coming of Age-Roman ab. Freundlicherweise liefert Wells auch eine Erklärung dieses Begriffs, indem er sie ebenfalls dem Lehrer in den Mund legt.
"Der klassische Held [ist] oft auf einer inneren oder äußeren Reise. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen." (306)

oder wie es bei William Morris heißt:
"Kind sein ist wie einen Ball hochwerfen, Erwachsenwerden ist, wenn er wieder herunterfällt." (306)

Benedict Wells trifft den Ton der Jugendlichen und die Themen, mit denen sie sich  auf dem Weg zum Erwachsensein auseinandersetzen, z.B die Frage: Wer bin ich überhaupt oder wie sollte ich sein? Sams Antwort zum Rat der Schulpsychologin, aus sich herauszugehen, lautet:

"Nur, wenn man darüber nachdenkt, ist es ja eine Bankrotterklärung an das eigene Ich, wenn man besser dran ist, da rauszuschlüpfen und es wie eine kaputte Hülle zurückzulassen." (26)

Wells gelingt es hervorragend, dass man sich in die Heranwachsenden hineinversetzen kann und an ihrem Reifen und Wachsen teilnimmt. Die Figuren und auch die Zeit wirken völlig authentisch, die Song- und Filmtitel erinnern an die eigene Jugend ;).

Ein warmherziger Roman - Hard Land könnte man im Englischen auch als Heart Land verstehen - den ich allen ans "Herz" legen möchte, die gerne übers Erwachsenwerden lesen, und denen, deren Ball noch hoch in der Luft fliegt.


Leserunde auf whatchaReadin
Vielen Dank an den Diogenes-Verlag für das Lese-Exemplar.

Freitag, 5. März 2021

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

- Weltbestseller aus Korea

Leserunde auf whatchaReadin


"Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt, 34 nach koreanischer Zählung, denn in Korea gilt ein Kind in seinem Geburtstjahr bereits als einjährig (...). Sie hat vor drei Jahren geheiratet und letztes Jahr eine Tochter geboren." (7)

So startet der Roman und gibt in Kurzfassung Jiyoungs Lebenssituation wider. Sie hat ihren Job bei einer Marketingfirma aufgegeben, um ihr Kind zu betreuen. Ihr Mann arbeitet bis spätabends in einer IT-Firma, ihre Eltern betreiben ein Restaurant in Seoul, ihre Schwiegereltern wohnen in Busan, so dass sie mit der Kindererziehung weitestgehend auf sich gestellt ist. Plötzlich legt sie ein sonderbares Verhalten an den Tag und spricht mit der Stimme ihrer Mutter und mit der ihrer ehemaligen Studienkollegin. In diesen "Rollen" spricht sie aus, was sie sich sonst offensichtlich nicht traut zu sagen: Dass die Vorbereitung eines Festessens für die ganze Familie sehr erschöpfend ist oder dass sie an den Feiertagen gerne ihre eigene Familie besuchen würde.

Ist es eine psychische Störung oder schauspielert Jiyoung?

Im folgenden Verlauf des Romans wird Jiyoungs Lebensgeschichte erzählt, angefangen mit ihrer Geburt im Jahr 1982. Sie hat noch eine ältere Schwester und als die Mutter wieder schwanger wird und es sich herausstellt, dass es erneut ein Mädchen wird, treibt sie ab. 

"Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten waren gesellschaftlich akzeptiert, als ob eine Tochter zu bekommen ein medizinischer Grund wäre." (30)

Die Bemerkung ist mit einer Fußnote versehen, in der auf eine entsprechende Quelle dieser Aussage verwiesen wird. Diese Belege tauchen häufiger auf, so dass der Roman wie eine Mischung aus Fiktion und Sachbuch wirkt, ein Eindruck, den der nüchterne Stil unterstützt. Die Sprache steht jedoch nicht im Vordergrund, sondern die Lebensgeschichte Jiyoungs und auch die ihrer Mutter, die ebenfalls kurz skizziert wird.

Sie zeigen eindringlich die Diskriminierung der Frauen in Südkorea. Anhand zahlreicher Situationen, verschiedener Erlebnisse der Protagonistin und der weiterer Frauen, und anhand der Aussagen anderer Figuren wird aufgezeigt, wie Frauen systematisch unterdrückt werden und keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Das fängt vor der Geburt an, da weibliche Föten abgetrieben werden, setzt sich im Kindesalter fort, denn "Töchter opferten sich bereitwillig für ihre männlichen Geschwister." (37) In der Schule werden Jungen bevorzugt behandelt, dürfen z.B. als Erste essen und sind i.d.R. Klassensprecher.

Als die Familie in eine neue Wohnung umzieht, kann Jiyoungs Mutter jedoch durchsetzen, dass die beiden Mädchen ein eigenes Zimmer erhalten, während ihr Bruder weiterhin bei den Eltern schläft - eine kleine Rebellion. Ihre Stärke zeigt einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung.

Auf der anderen Seite gibt es viele Szenen, die empören und wütend machen. So wird Jiyoung sexuell von einem Mitschüler belästigt, doch ihr Vater gibt ihr die Schuld daran. Nachdem sie erfolgreich die Universität abgeschlossen hat, muss sie feststellen, dass ihre männlichen Mitbewerber immer die Nase vorn haben. Aber auch in der Arbeitswelt haben Frauen kaum eine Chance auf eine Karriere. Als in der Marketingfirma eine neue Projektgruppe gebildet wird, erhalten zwei männliche Mitarbeiter den Vorrang vor Jiyoung und ihrer Freundin. Da es ein langfristiges Projekt werden soll, hat man Angst, die weiblichen Mitarbeiter könnten aufgrund von Schwangerschaften ausfallen. Flexiblere Arbeitszeiten stehen nicht zur Debatte.

"Jiyoung fühlte sich wie in der Mitte eines Labyrinths. Fleißig und gewissenhaft arbeitend, hatte sie nach einem Ausgang gesucht, den sie, wie sie nun erkannte, von Anfang an nicht gegeben hatte." (144)

Dieser Roman ist ein politisches Bekenntnis, ein Appell für die Gleichberechtigung der Frauen in Korea. Es verleiht den Frauen eine Stimme und stellt schnörkellos ihre Lebenssituation dar. Jiyoung steht dabei stellvertretend für viele. Darin besteht meines Erachtens jedoch auch ein Schwachpunkt des Romans. Denn die Protagonistin bleibt letztlich ein Exempel, der alles widerfährt, was Frauen in Korea geschehen kann. Die Autorin hat alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten, die einer Frau zustoßen können, in dieser einen Person vereint, wodurch die Figur im letzten Teil nicht mehr authentisch wirkt.

Der Schluss selbst hält noch einen überraschenden Kunstgriff bereit und erklärt die nüchterne Erzählweise. Obwohl sprachlich kein Genuss und trotz der mangelnden Authentizität der Figur am Ende, ein starkes Statement gegen die Unterdrückung der Frauen - nicht nur in Korea.

Ein Roman, der hoffentlich auch weiterhin viele Leserinnen und vor allem Leser finden wird.

Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Leseexemplar.