Freitag, 5. März 2021

Cho Nam-Joo: Kim Jiyoung, geboren 1982

- Weltbestseller aus Korea

Leserunde auf whatchaReadin


"Kim Jiyoung ist 33 Jahre alt, 34 nach koreanischer Zählung, denn in Korea gilt ein Kind in seinem Geburtstjahr bereits als einjährig (...). Sie hat vor drei Jahren geheiratet und letztes Jahr eine Tochter geboren." (7)

So startet der Roman und gibt in Kurzfassung Jiyoungs Lebenssituation wider. Sie hat ihren Job bei einer Marketingfirma aufgegeben, um ihr Kind zu betreuen. Ihr Mann arbeitet bis spätabends in einer IT-Firma, ihre Eltern betreiben ein Restaurant in Seoul, ihre Schwiegereltern wohnen in Busan, so dass sie mit der Kindererziehung weitestgehend auf sich gestellt ist. Plötzlich legt sie ein sonderbares Verhalten an den Tag und spricht mit der Stimme ihrer Mutter und mit der ihrer ehemaligen Studienkollegin. In diesen "Rollen" spricht sie aus, was sie sich sonst offensichtlich nicht traut zu sagen: Dass die Vorbereitung eines Festessens für die ganze Familie sehr erschöpfend ist oder dass sie an den Feiertagen gerne ihre eigene Familie besuchen würde.

Ist es eine psychische Störung oder schauspielert Jiyoung?

Im folgenden Verlauf des Romans wird Jiyoungs Lebensgeschichte erzählt, angefangen mit ihrer Geburt im Jahr 1982. Sie hat noch eine ältere Schwester und als die Mutter wieder schwanger wird und es sich herausstellt, dass es erneut ein Mädchen wird, treibt sie ab. 

"Geschlechtsbestimmung und Abtreibung weiblicher Föten waren gesellschaftlich akzeptiert, als ob eine Tochter zu bekommen ein medizinischer Grund wäre." (30)

Die Bemerkung ist mit einer Fußnote versehen, in der auf eine entsprechende Quelle dieser Aussage verwiesen wird. Diese Belege tauchen häufiger auf, so dass der Roman wie eine Mischung aus Fiktion und Sachbuch wirkt, ein Eindruck, den der nüchterne Stil unterstützt. Die Sprache steht jedoch nicht im Vordergrund, sondern die Lebensgeschichte Jiyoungs und auch die ihrer Mutter, die ebenfalls kurz skizziert wird.

Sie zeigen eindringlich die Diskriminierung der Frauen in Südkorea. Anhand zahlreicher Situationen, verschiedener Erlebnisse der Protagonistin und der weiterer Frauen, und anhand der Aussagen anderer Figuren wird aufgezeigt, wie Frauen systematisch unterdrückt werden und keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben haben. Das fängt vor der Geburt an, da weibliche Föten abgetrieben werden, setzt sich im Kindesalter fort, denn "Töchter opferten sich bereitwillig für ihre männlichen Geschwister." (37) In der Schule werden Jungen bevorzugt behandelt, dürfen z.B. als Erste essen und sind i.d.R. Klassensprecher.

Als die Familie in eine neue Wohnung umzieht, kann Jiyoungs Mutter jedoch durchsetzen, dass die beiden Mädchen ein eigenes Zimmer erhalten, während ihr Bruder weiterhin bei den Eltern schläft - eine kleine Rebellion. Ihre Stärke zeigt einen zaghaften Schritt in die richtige Richtung.

Auf der anderen Seite gibt es viele Szenen, die empören und wütend machen. So wird Jiyoung sexuell von einem Mitschüler belästigt, doch ihr Vater gibt ihr die Schuld daran. Nachdem sie erfolgreich die Universität abgeschlossen hat, muss sie feststellen, dass ihre männlichen Mitbewerber immer die Nase vorn haben. Aber auch in der Arbeitswelt haben Frauen kaum eine Chance auf eine Karriere. Als in der Marketingfirma eine neue Projektgruppe gebildet wird, erhalten zwei männliche Mitarbeiter den Vorrang vor Jiyoung und ihrer Freundin. Da es ein langfristiges Projekt werden soll, hat man Angst, die weiblichen Mitarbeiter könnten aufgrund von Schwangerschaften ausfallen. Flexiblere Arbeitszeiten stehen nicht zur Debatte.

"Jiyoung fühlte sich wie in der Mitte eines Labyrinths. Fleißig und gewissenhaft arbeitend, hatte sie nach einem Ausgang gesucht, den sie, wie sie nun erkannte, von Anfang an nicht gegeben hatte." (144)

Dieser Roman ist ein politisches Bekenntnis, ein Appell für die Gleichberechtigung der Frauen in Korea. Es verleiht den Frauen eine Stimme und stellt schnörkellos ihre Lebenssituation dar. Jiyoung steht dabei stellvertretend für viele. Darin besteht meines Erachtens jedoch auch ein Schwachpunkt des Romans. Denn die Protagonistin bleibt letztlich ein Exempel, der alles widerfährt, was Frauen in Korea geschehen kann. Die Autorin hat alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten, die einer Frau zustoßen können, in dieser einen Person vereint, wodurch die Figur im letzten Teil nicht mehr authentisch wirkt.

Der Schluss selbst hält noch einen überraschenden Kunstgriff bereit und erklärt die nüchterne Erzählweise. Obwohl sprachlich kein Genuss und trotz der mangelnden Authentizität der Figur am Ende, ein starkes Statement gegen die Unterdrückung der Frauen - nicht nur in Korea.

Ein Roman, der hoffentlich auch weiterhin viele Leserinnen und vor allem Leser finden wird.

Vielen Dank an Kiepenheuer & Witsch für das Leseexemplar.