Mittwoch, 25. Oktober 2023

Alex Schulman: Endstation Malma


 "Ein Zug, drei Menschen und ihre miteinander verwobenen Schicksale" (Klappentext)

Leserunde auf whatchareadin

Der 3.Roman von Alex Schulman ist ebenso meisterhaft komponiert wie die beiden Vorgänger "Die Überlebenden" und "Verbrenn all meine Briefe". 

Zunächst glaubt man, alle drei Figuren, aus deren Perspektive abwechselnd erzählt wird, säßen im gleichen Zug mit der Endstation Malma.

- Harriet mit ihrem Vater, der seine Fototasche dabei hat, samt einer Urne

- Oskar und seine Frau, die im Zug nach Malma sitzen, während sie schläft

-Yana, eine junge Frau, die ebenfalls im Zug nach Malma, um etwas herauszufinden.

Der Autor führt uns auf die falsche Fährte, erst im 3.Kapitel, realisiert man, dass die drei Handlungsstränge zeitlich versetzt sind:

"Ninchens Beerdigung, August 1976, und darunter der Name ihrer Mutter: Harriet." (S.59) Im Folgenden werden die Fotos beschrieben, die auf der ersten Reise nach Malma im Jahr 1976 entstanden sind.
"Es gab mehrere Reisen nach Malma. Die erste fand in den Siebzigerjahren statt. Da war ihre Mutter noch ein Kind und fuhr mit ihrem Vater dort hin, um jemanden namens Ninchen zu beerdigen - ein Haustier vielleicht? (Harriet-Kapitel)
Die zweite Reise erfolgte am 17.September 2001. Ihre Mutter war erwachsen und todunglücklich in der Beziehung mit ihrem Vater." (S.60) (Oskar-Kapitel)
"Und das hier ist die dritte Fahrt." (S.60) (Yana-Kapitel)

Erneut vermag es Schulman mit einer ungewöhnlichen Komposition zu begeistern.
Neben der Zugreise nach Malma gibt es noch einen anderen roten Faden, der die verschiedenen Handlungsstränge zusammenhält: die schwierige Tochter-Vater-Beziehung, unter der sowohl Harriet als auch Yana leiden. Beide haben Angst ihre Väter zu verärgern, können sich nicht entfalten, leben in der Stille einer fehlenden Kommunikation. Allerdings zeigt sich, dass Harriets Vater sie durchaus geliebt hat, nur nicht imstande gewesen ist, es ihr zu zeigen. Auch Oskar fragt sich, warum er seine Tochter verliert, doch seine ungezügelte Wut verhindert, dass die beiden zueinander finden.

Beide Mädchen, Harriet und Yana, wurden von ihren Müttern verlassen. Warum verlässt ausgerechnet Harriet, die selbst unter der Trennung von der Mutter zu leiden hatte, ihre eigene Tochter. Das ist eines der Geheimnisse sein, die es zu ergründen gilt und das sich am Ende auflöst.
Während der Zugfahrten erinnern sich die drei Reisenden an Ereignisse aus ihrer Vergangenheit. Kapitel für Kapitel entfaltet sich das Bild der dysfunktionalen Familie.

"Die Kindheit ist eine unbegreifliche Installation, genau wie ein modernes Kunstwerk. Sinnlos und überflüssig. Man möchte die ganze Scheiße am liebsten zertreten." (S.230)

Ein Satz, den Oskar denkt und der exemplarisch für alle Protagonist:innen gilt. Wie traurig, denn eigentlich sollte doch die Kindheit ein Ort der seligen Erinnerung sein.

Dieses Zitat bringt für mich zum Ausdruck, was alle Protagonisten erlebt haben. Ob Oskar, der unter der mangelnden Berührung seiner Mutter gelitten hat, oder Harriet und Yana, die mit schweigenden und jähzornigen Vätern aufwachsen müssen, sie alle erleben keine glückliche Kindheit. Welche Folgen das hat, kann man am besten an Harriet sehen, die Dreh-und Angelpunkt der Geschichte ist. Die sich immer wieder „you are not alone“ (Yana) vorsagen muss, um einen Halt zu finden. An Harriets Figur wird die Frage aufgeworfen, inwiefern ihre Kindheit ihr Verhalten als Erwachsene rechtfertigt.

"Die geraden Linien von der Kindheit bis in die Gegenwart hinauf, alles, was man jetzt ist, kann und muss durch das erklärt werden, was einem früher widerfahren ist. (...) Und man ist selbst niemals schuld, man ist immer nur das Opfer der Fehler und Schwächen anderer." (S.233)

Harriet sieht sich als Opfer, sucht die Entschuldigung in ihrer Vergangenheit, deshalb auch die 2.Reise nach Malma. Yana beschreibt das Verhältnis ihrer Eltern sehr treffend:

"Wenn ihre Eltern sich stritten, stellte Yana sich oft vor, dass das, was sie hörte, Hilferufe von Eingesperrten wären, einem Mann und einer Frau, die irgendwo gefangen gehalten wurden und verzweifelt herauszukommen versuchten." (147)

Gegen Ende des Romans nimmt die Handlung an Fahrt auf, die Kapitel werden kürzer und es klärt sich, warum Harriet nicht zu Yana zurückgekehrt ist. Diese Aufklärung ist allerdings wenig realistisch, definitiv eine Schwachstelle des Romans. Es bleiben weitere Fragen offen, über die am Ende nachdenken darf ;).



Donnerstag, 12. Oktober 2023

Julie Otsuka: Solange wir schwimmen

übersetzt von Katja Scholz

Leserunde auf whatchareadin

Selten habe ich so einen irreführenden Klappentext gelesen: "Ein starkes Buch über die Demenz einer Tochter und die Liebe ihrer Tochter."

Während die Demenz der Mutter, Alice, von Beginn an zumindest angedeutet wird, macht sich die Liebe der Tochter erst im letzten Teil bemerkbar.

Der Roman ist aus insgesamt 5 Teilen aufgebaut, die sich auch dadurch voneinander absetzen, dass sie unterschiedliche Erzählperspektiven und auch Erzählformen aufweisen. 

"Das Schwimmbad unter der Erde" beschreibt in der Wir-Form, wobei Alice Teil dieses Kollektivs ist -

"Alice, eine pensionierte Labortechnikerin in einem frühen Stadium von Demenz" (S.9) -

ein Schwimmbad unter der Erde und vor allem die einzelnen Menschen, die regelmäßig dieses Schwimmbad aufsuchen. Der Autorin gelingt es dabei hervorragend mit wenigen Sätzen eine Figur zu skizzieren, so dass man als Leser:in direkt ein Bild vor Augen hat. Es werden verschiedene Schwimmtypen aufgezählt, die Motivation zu schwimmen wird unter die Lupe genommen, die Bedeutung des Schwimmens für die Einzeln erläutert.

Das Kapitel "Der Riss" - ebenfalls in der Wir-Perspektive erzählt - beschreibt, wie ein mysteriöser Riss am Boden des Beckens auftaucht, über den heftig spekuliert wird. Letztendlich muss das Schwimmbad geschlossen werden, weil sich die Ursache nicht feststellen lässt.

Der Riss als Metapher für Alice Demenz - war eine der Hypothesen aus der Leserunde. Auch ein Symbol dafür, dass im Leben immer etwas Unvorhergesehenes geschehen kann, das uns aus der Bahn wirft - wortwörtlich in diesem Fall. Metaphorisch interessant, hat das Kapitel doch erhebliche Längen.

"Diem Perdidi" - der verlorene Tag beschreibt in der Sie-Form (personale Erzählperspektive), was Alice noch weiß und was sie schon vergessen hat. Im Verlauf des Kapitels verschiebt sich das Wissen Richtung Vergessen. Das ist sehr gut gemacht, auch weil es eine sehr originelle Art und Weise ist, Alice Biographie zu erzählen. Allerdings bleibt die Figur auf Distanz - das mag an der Perspektive und den vielen Aufzählungen liegen, den immer gleichen Satzanfängen, die beim Lesen auf mich ermüdend gewirkt haben. Es ist ein Leben im Stakkato-Stil erzählt, der nicht erschüttert und bewegt.

"Belavista" - ein Pflege-und Altenheim steht im Fokus dieses Kapitels:

"Sie sind heute hier, weil Sie den Test nicht bestanden haben." (S.87)

Insgesamt sehr zynisch erzählt, über das, was Alice erwartet, was die Einrichtung zu leisten vermag - für Zusatzzahlung gibt es Zusatzleistungen, was sie überwacht, wie sie arbeitet. Das System wird gnadenlos kritisiert - nicht die Menschen, die dort arbeiten und leben.

Erst im letzten Teil "EuroNeuro" tritt die Tochter in Erscheinung. Aus der Du-Perspektive macht sie sich Vorwürfe der Mutter zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Wenn der Klappentext ansatzweise zutrifft, dann auf dieses letzte Kapitel, das auch das einzige ist, das beim Lesen eine emotionale Reaktion hervorruft - zumindest bei mir.

Insgesamt ist der Roman erzähltechnisch und vom Aufbau her sehr interessant, trotzdem hat er mich nicht bewegt, weil die Figuren auf meistens Distanz bleiben. Das muss kein Kriterium für die Qualität eines Romans sein, aber wenn von der Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter die Rede ist, möchte ich berührt, erschüttert, mitgenommen und nicht auf Distanz gehalten werden.