Donnerstag, 23. Februar 2017

Rudyard Kipling: Das Dschungelbuch

- ein Klassiker der Kinderliteratur, für den Kipling u.a. 1907 den Literaturnobelpreis erhielt.

Lesen mit Mira

gebundene Ausgabe, 192 Seiten
Knesebeck, 7.Oktober 2013
illustriert von Robert Ingpen

Das Dschungelbuch besteht eigentlich aus zwei Bänden, der erste ist ursprünglich 1894 erschienen und erzählt die Abenteuer von Mowgli (in dieser Übersetzung "Mogli"). Er umfasst drei Erzählungen mit sich anschließenden Liedtexten.
Auf diesen Geschichten basiert der gleichnamige bekannte Walt Disney Film, der Motive des Buches zu einer neuen Geschichte verarbeitet hat und dessen Zielpublikum aufgrund der Fröhlichkeit und der lustigen Lieder eindeutig Kinder sind. Ich habe da sofort den rundlichen Bären Balu vor Augen, im Ohr "Probier´s mal mit Gemütlichkeit".

Der zweite Band enthält vier weitere Erzählungen, die unabhängig voneinander sind und in keinem Zusammenhang mit dem Mogli-Erzählungen stehen. Protagonisten sind meist einzelne Tiere.
Heute werden die beiden Bände in der Regel zusammen publiziert, dessen waren Mira und ich uns nicht bewusst und haben uns darüber gewundert, dass Mogli in den weiteren Geschichten nicht mehr auftaucht.

Die Mogli-Geschichten

Im Gegensatz zu der lustigen und fröhlichen Verfilmung zeichnen die Erzählungen ein weitaus grausameres Bild des Dschungels, deren Bewohner bestimmten Gesetzen und Regeln unterworfen sind.
Mogli gelangt als kleines Kind, das gerade laufen kann, zur Familie Wolf, die selbst vier Junge haben. Verfolgt wird Mogli vom Tiger Shir Khan, der die Herausgabe des Menschenkindes fordert. Doch Mutter Wolf weigert sich das wehrlose Kind, das so vertrauensvoll zu ihr gekommen ist, herauszugeben und prophezeit dem von Geburt an lahmen Tiger:

"Das Menschenjunge gehört mir, Langri - mir ganz allein. Es wird nicht getötet! Es soll leben, um mit dem Rudel zu laufen und zu jagen, und am Ende - sieh dich vor, du großer Jäger kleiner, nackter Jungen, du Froschfresser und Fischfänger! - am Ende wird es dich jagen!" (S.18)

Sie nennt das Findelkind Mogli, was "Frosch" bedeutet, weil es im Gegensatz zu ihren Kindern nackt ist.
Alle Jungen müssen, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, dem Rudel vorgestellt werden, um aufgenommen zu werden. Die Wölfe sehen sich selbst als freies Volk an, die nur ihrem Rudelführer gehorchen, dem Stärksten, der seine Kräfte bei der Jagd unter Beweis stellen muss.
Akela, der Rudelführer, lässt auch über Moglis Zugehörigkeit zum Rudel entscheiden. Aufgrund Balus Fürsprache, der eine Stimme in der Ratsversammlung der Wölfe hat, und Baghiras Einschreiten, der Mogli in das Rudel "einkauft", wird er aufgenommen und von Balu fortan in den Gesetzen des Dschungels unterrichtet. Er und Baghira werden neben den Wolfsbrüdern Moglis beste Freunde.
Doch Shir Khan hat seine Schmach nicht vergessen und will sich an Mogli rächen, indem er das Rudel entzweit. Mit Hilfe der "roten Blume", dem Feuer, das nur die Menschen beherrschen, kann Mogli sich wehren und kehrt daraufhin zu seinesgleichen zurück.

In der 2.Erzählung wird im Rückblick das Abenteuer mit den Affen erzählt. Das Affenvolk, die Bandar-log, erscheinen als chaotisches Volk ohne Führung, Regeln und Gesetze und werden von den Dschungelbewohnern nicht beachtet. Daher entführen sie Mogli, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Um Mogli zu retten, arbeiten Baghira und Balu mit der Schlange Kaa zusammen, die besonders gefährlich und grausam ist.

In der letzten Erzählung kehrt Mogli zu den Menschen zurück und erfüllt die Prophezeiung von Mutter Wolf. Er muss jedoch erkennen, dass er aufgrund seiner "wölfischen" Sozialisation im Dschungel ein Außenseiter bleiben wird, aber auch innerhalb des Wolfrudels bleibt ihm ein Platz verwehrt.
"Aber er blieb nicht für immer allein. Denn als er Jahre später ein Mann geworden war, heiratet er. Aber das ist eine Geschichte für Erwachsene." (S.94)

Die weiteren Erzählungen
1. Die weiße Robbe

Das Robbenjunge Kotick ist aufgrund seiner weißen Farbe ebenfalls ein Außenseiter, das jedoch einen Traum hegt. Es möchte einen Platz finden, an dem die Robben nicht mehr von den Menschen abgeschlachtet werden. Obgleich bittere Wahrheit, ist die Szene, in der Kotick mitansieht, wie seine Spielkameraden von den Menschen in die Irre geführt und grausam getötet werden, sicherlich nicht für Kinder geeignet - zumindest nicht in der dargestellten Brutalität. Da würde ich als Mutter den Text etwas verändern wollen.

Doch die Geschichte zeigt, wenn man nur beharrlich an seinem Traum festhält und danach strebt, ihn zu verwirklichen, kann man sein Ziel erreichen. Auch wenn sich Kotick mit Gewalt gegen seine Widersacher durchsetzen muss, so dass sein Fell blutgetränkt ist.

Quelle wikipedia
2. Rikki-Tikki-Tavi

In dieser Fabel steht vorwitziger und pfiffiger Mungo im Vordergrund, der innerhalb einer Familie im Sugauli-Distrikt heimisch geworden ist und sie mit Hilfe zweier Webervögel vor gefährlichen Schlangen bewahrt.

3. Elefanten-Toomai

Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht der Junge Toomai, doch er wächst nicht im Dschungel auf, sondern als Sohn eines Elefantenführers. Dieser befehligt den majestätischen Elefanten Kala Nag, was "Schwarze Schlange" bedeutet, der dazu eingesetzt wird, wilde Elefanten zu jagen und zu fangen.
Die sozialen Unterschiede innerhalb der stark hierarchisch gegliederten Gesellschaft des kolonialisierten Indiens werden in dieser Erzählung besonders deutlich. Als Toomai im Elefantengehege aushilft, ist sein Vater wütend, da er die niedere Arbeit eines Elefantenjägers verrichtet hat:
"Du hast da eine Arbeit gemacht, die dieses schmutzige assamesische Dschungelvolk machen soll." (S.151)

Doch der Junge bricht aus dieser starren Struktur aus und kann aufgrund eines einzigartigen Abenteuers einen neuen Platz einnehmen.

4. Die Diener ihrer Majestät
Die letzte Geschichte fand ich sehr seltsam. Da unterhalten sich verschiedene Kriegstiere über die Vor- und Nachteile ihrer Aufgabe. Es sprechen die beschränkten Ochsen stolz von ihrer Kanone, die sie ziehen, oder das Kavalleriepferd, das seinem Reiter blind in der Schlacht vertraut. Sie repräsentieren die hierarchischen Strukturen des englischen Militärs, gleichzeitig aber auch dessen Beschränktheit?
Nur der Elefant stellt das Kämpfen und den Krieg ansatzweise in Frage, indem er das Blutvergießen thematisiert, dass die anderen Tiere zu verdrängen suchen.


Bewertung
Liest man das Dschungelbuch, insbesondere die Geschichten um Mogli, stehen die Abenteuer, die Entwicklung und der Mut des Jungen im Vordergrund, ebenso wie seine Erkenntnis, dass er ein Außenseiter in beiden Welten bleiben wird.

Für Kindergeschichten sind sie mir persönlich etwas zu grausam. Einerseits gefallen mir die Regeln im Dschungel, die das Zusammenleben der unterschiedlichen Tiere ermöglichen und Frieden und Gerechtigkeit stiften, andererseits sind sie letztlich auf das Recht des Stärkeren ausgerichtet, wie auch die anderen Erzählungen und Fabeln sehr deutlich zeigen. Der Mungo tötet die Schlange, die Robbe bekämpft ihre Widersacher - der Stärkere, aber auch Klügere setzt sich durch. Darwin lässt grüßen!

In der letzten Geschichte erscheint Kipling offensichtlich als Vertreter des Imperialismus. 1865 in Bombay geboren, hat er seine Kindheit und Jugend in England, größtenteils in einer Pflegefamilie verbracht - mit ähnlich traumatischen Erlebnissen, wie sie auch Edward Feathers in "Ein untadeliger Mann" beschreibt. Später kehrte er jedoch nach Pakistan und Indien als Journalist und Schriftsteller zurück.
In seinem Gedicht "The White Man´s Burden" vertritt Kipling die Auffassung, die Kolonialmächte, müssten die "Bürde für die Entwicklung der Menschen in den Kolonien auf ihre Schultern nehmen." (Quelle: wikipedia) Diese Einstellung ist in einigen Szenen zu spüren und für mich heute sehr befremdlich.

Die Geschichten um Mogli haben mir am besten gefallen und sind heute immer noch für Kinder geeignet, da sich in ihnen sich die Faszination, die der indische Dschungel und seine tierischen Bewohner ausüben, widerspiegelt.
Bei den übrigen Fabeln bin ich mir da nicht so sicher - gerade die letzte würde ich Kindern nicht vorlesen. Im Austausch mit Mira haben wir beide festgestellt, dass vor allem die Fabeln sehr grausam sind und uns weniger als die Mogli-Geschichten angesprochen haben.

Gelungen finde ich in dieser Ausgabe die wunderschönen Illustrationen von Robert Ingpen, die mir viel besser als bei Peter Pan gefallen haben.

Hier geht es zu Miras Besprechung.

Sonntag, 19. Februar 2017

Philipp Kerr: Winterpferde

- eine berührende Geschichte über ein mutiges Mädchens.

Gebundene Ausgabe, 288 Seiten
Rowohlt, 21.Oktober 2015
Empfohlenes Alter: ab 13 Jahre


Vielen Dank an den Rowohlt-Verlag für das Rezensionsexemplar!

"Viele Teile dieser alten Geschichte wurden zusammengesetzt wie die Scherben einer kaputten Vase. (...) und selbst wenn einige Teile dieser Geschichte nicht ganz genau so gewesen sind, dann hätten sie doch genau so sein können, und das ist viel wichtiger. (S.7)



Inhalt
Im Sommer 1941 verlässt die gesamte Belegschaft des Staatlichen Naturreservates Askania-Nowa, das in der Ukrainisch-Sozialistischen Sowjetrepublik liegt und seltene Tierarten beheimatet - unter anderem die Urpferde, die sogenannten Przewalskis, die schon auf Höhlenmalereien zu sehen sind. Nur der alte Max, eine Art Zoowärter, bleibt, denn das Reservat ist seine Heimat. Es ist

"ein entlegener, verzauberter Ort mit einem Zoo und einer offenen Steppe, die mehr als dreihundert Quadratkilometer umfasst." (S.12)

Quelle: wikipedia
Gegründet würde es von einem Deutschen, dem Baron Falz-Fein, der vor den Kommunisten fliehen musste und der Max immer freundlich behandelt hat. Daher spricht Max auch Deutsch und wird von den SS-Leuten und deren Hauptmann Grenzmann geduldet. Als Grenzmann erfährt, dass es echte Hannoveraner im Stall gibt und Max etwas von Pferden versteht, ernennt er ihn zu seinem Stallburschen. Doch für die seltenen Urpferde kann er sich nicht begeistern, er hält die hässlichen Pferde für eine zum Aussterben bestimmte Rasse - er argumentiert dabei mit dem Gesetz des Stärken von Charles Darwin - Rassentheorie auf Pferde übertragen.

Gleichzeitig mit der Besetzung der SS-Truppen durchstreift das jüdische Mädchen Kalinka Askania-Nowa, sie hat sich mit einem Pferdepaar angefreundet.

"Kalinka war eines frühen Morgens aufgewacht, nachdem sie die Nacht eingewickelt in eine zerrissene Decke, unter einem Moosbeerenbusch verbracht hatte, weil eines der Pferde - eine Stute - über ihr stand. Instinktiv hatte Kalinka gewusst, dass das Pferd trotzt seiner Wildheit mit ihr Freundschaft schließen wollte." (S.21)

Kalinkas gesamte Familie fiel den ethnischen Säuberungen in Dnipropetrowsk zum Opfer, durch einen glücklichen Zufall konnte sie fliehen und in das 350 Kilometer südlich gelegenere Reservat fliehen. Während ihr auffällt, wie unglaublich klug und listig die außergewöhnlichen Pferde sind, erhält Hauptmann Grenzmann aus Berlin Weisung, die seltenen Tiere zu erschießen, da sie nicht den Rassestandards der Nazis entsprechen.
Er rechtfertigt sich vor Max, der heftig protestiert, damit, dass er nur den Befehl ausführe.

"Sie sind der Mann, der entscheidet. (...) Ich glaube, man hat immer eine Wahl. Das ist das, was uns zu Menschen macht." (S.50)

Während der Tötungsaktion, die Max zu verhindern sucht, gelingt Kalinka mit dem Pferdepaar die Flucht und sie lernt den alten Mann dabei kennen. Obwohl er versucht, sie zu schützen, muss sie mit den beiden Tieren und Max Hund Taras das Reservat verlassen. Sie macht sich auf den Weg gen Südost, wo sie hofft, auf die Rote Armee zu treffen. Eine spannende Verfolgungsjagd beginnt, in der sowohl die Tiere als auch Kalinka ihre Klugheit und Tapferkeit unter Beweis stellen müssen.

Bewertung
Der Roman erzählt von einem mutigen Mädchen, das einen besonderen Draht zu diesen außergewöhnlichen Tieren hat und für deren Rettung es unermüdlich kämpft. Ein gutes Jugendbuch, das die Grausamkeit des Krieges und die furchtbaren Taten der SS-Truppen nicht verschweigt, aber altersgemäß erzählt - abwechselnd aus der Sicht Max und Kalinkas.

Bemerkenswert ist, dass der Erzähler pauschale Verurteilungen meidet und ein differenziertes Bild der "Deutschen" zeigt. So hat der künstlerisch begabte Hauptmann Grenzmann durchaus seine sympatischen Seite und hegt eine große Liebe für einen Hannoveraner, gleichzeitig ist er in der Lage grausam zu agieren und keine Gnade walten zu lassen.
Seine Männer

"wollten nichts lieber als ihre Gewehre und Uniformen wegwerfen und nach Deutschland zurückkehren, um dort einer ehrlichen Arbeit nachzugehen, falls so etwas überhaupt möglich war, und so tun, als wäre nichts von alldem je passiert." (S.117)

Das entschuldigt in keinster Weise ihre Verbrechen, aber ihre Normalität abseits der blutigen Taten wird thematisiert und problematisiert. Max denkt auch an den sowjetischen Geheimdienst, von dem er wegen seiner Arbeit für den Baron verhört und gefoltert wurde.

"Auch in ihm waren ganz normale Männer gewesen. Max fand, dass das nicht viel Gutes über die Menschheit im Allgemeinen sagte." (S.117)

Der Roman vermittelt die Erkenntnis, dass Kultiviertheit nicht mit Menschlichkeit gleichzusetzen ist, wie im Falle des Hauptmanns deutlich wird.
Der junge Mann, der sich selbst für zivilisiert hält und eigentlich Jura studieren wollte, kommt mit der Kriegssituation und der Verbrechen, die er begangen hat, nicht zurecht. Doch statt sich diesen zu widersetzen, lässt er seine Wut darüber an den Schwächeren aus und macht sie dafür verantwortlich. Seine Strategie, um der Erkenntnis, dass er Unrechtes verübt hat, aus dem Weg zu gehen.

Aber der Roman verzichtet auf ein Schwarz-Weiß bzw. Gut-Böse-Denken, das macht ihn besonders und sensibilisiert Jugendliche darüber nachzudenken, warum Menschen so handeln konnten und können.
Es finden sich auch positive Vorbilder im Roman, wie ein deutscher Wachpolizist, der sich den Befehlen widersetzt und Kalinka hilft, oder der Baron, der als Tier- und Menschenfreund beschrieben wird. Deshalb ermutigt Max sie in einem Brief, den er ihr mit auf die Reise gibt, Hass nicht mit Hass zu beantworten und erinnert sie daran, dass es auch gute Menschen unter den Deutschen gibt.

Man könnte der Geschichte vorhalten, dass die Story zum Ende hin sehr actionreich wird, der Schluss selbst etwas rührselig ist und die Botschaft recht plakativ daherkommt. Aber man muss auch bedenken, dass es für Jugendliche verfasst ist und da ist ein versöhnliches Ende ebenso wichtig wie eine klare Botschaft, umso mehr, wenn das den Wunsch weckt, sich weiterhin mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Für mich ein guter Jugendroman gegen das Vergessen!

Freitag, 17. Februar 2017

John Irving: Straße der Wunder

 - ein wahrhaft wunderbarer Roman.



Hardcover, 787 Seiten
Diogenes, 1. April 2016


Inhalt

"Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarzustellen: `Ich bin Mexikaner - ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.´ In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: ´Ich bin Amerikaner - ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.´ (...) Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. (S.11)


Gleich der erste Satz des Romans verdeutlicht, dass sich der Protagonist nicht in eine Schublade stecken lässt, keinem Stereotyp entspricht, sondern ein Individuum mit einer ganz außergewöhnlichen Geschichte ist.
Ein Mann, der

"zwei Leben geführt [hat] - getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich." (S.11)

Juan Diego wächst gemeinsam mit seiner Schwester Lupe Ende der 1950er auf einer Müllkippe in Mexiko, Oaxaca auf. Sie sind Müllsammler, ihre Mutter Esperanza arbeitet als Putzfrau bei den Jesuiten und verdingt sich nachts als Prostituierte.

"So wenig Hoffnung sie ins Leben ihrer Kinder brachte, war ihr Name der reine Hohn. "Desesperanza" (Hoffnungslosigkeit) nannten die Nonnen sie hinter ihrem Rücken, oder gar "Desesperación" (Verzweiflung)." (S.192)

Ihre Väter kennen die Kinder nicht, Rivera, el jefe, der "Chef" der Mülldeponie kümmert sich um die beiden. Der außergewöhnliche 14jährige Junge, der sich selbst das Lesen und sogar Englisch mit den auf der Deponie gefundenen Büchern beigebracht hat und von den ortsansässigen Jesuitenpatern Alfonoso und Octavio daher Müllkippenleser genannt wird, fungiert als Übersetzer seiner Schwester. Diese kann die Gedanken der Menschen lesen, spricht jedoch aufgrund einer ungewöhnlichen Veränderung des Kehlkopfes völlig unverständlich. Manchmal wirft sie auch einen Blick in die Zukunft. Dabei läuft sie Gefahr von allen als "geistig behindert" zu gelten, da keiner sie versteht.

Aufgrund eines tragischen Unfalls hinkt Juan Diego, sein rechter Fuß steht permanent auf "zwei Uhr", die Kinder werden daraufhin im jesuitischen Waisenhaus, dem "Heim für verlorene Kinder", aufgenommen. Bruder Pepe, Lehrer an der Jesuitenschule, ist mit seinem großen Herzen ein wahrer Menschenfreund und kümmert sich um das ungewöhnliche Geschwisterpaar. Er versorgt Juan Diego mit Büchern - auch schon vor dessen Unfall - und lenkt sein Leben am entscheidenden Wendepunkt in eine andere Richtung.

Im Jahr 2010 ist Juan Diego ein erfolgreicher Schriftsteller und aufgrund seines hohen Blutdrucks hat ihm seine Ärztin und Freundin Dr. Rosemary Stein Beta-Blocker verschrieben, die seine Träume unterdrücken und verhindern, dass er in seine mexikanische Vergangenheit eintauchen kann.
Auf einer Reise zu den Philippinen, die er unternimmt, um einem amerikanischen Wehrdienstverweigerer, einem Freund aus seiner Zeit in Mexiko, einen Gefallen zu tun, gerät seine Medikamenteneinnahme außer Kontrolle, so dass die chronologischen Träume des Vergangenen zurückkehren.

Der Roman pendelt zwischen diesen Erinnerungen Juan Diegos an seine Kindheit in Mexiko und seiner Reise, die ein ehemaliger Student seiner Schreibseminare, Clark French, für ihn organisiert hat.

"Und ehe er sich´s versah, war aus seine Mission in Manila eine Philippinen-Rundreise geworden, mit diversen Abstechern und abenteuerlichen Ausflügen." (S.37)

Kurioserweise lernt er auf dem Flughafen Miriam sowie deren vermeintliche Tochter Dorothy kennen, die alle seine Romane kennen und die auf einmal da sind. Mit beiden erlebt er sexuell anregende Stunden - nacheinander - und wer sie wirklich sind, bliebt vage. Geister, wundersame Begleiterinnen, Fantasien Juan Diegos? Anlehnungen an die heiligen Jungfrauen, die das Leben des Schriftstellers begleiten?
Sein erster Roman "Eine von der Jungfrau Maria in Gang gesetzte Geschichte" deutet auf dieses zentrale Thema in "Straße der Wunder" hin. Seine Schwester Lupe hat in Bezug auf die religiösen Jungfrauen eine Obsession, ausgelöst von einem Madonnenladen in Oaxaca:

"Inzwischen hatte man es allerdings nicht mehr nur mit Maria zu tun; das war Lupe in den vielen Kirchen Oaxacas aufgefallen, doch nirgends in der Stadt fand man so viele rivalisierende Jungfrauen wie in dem kitschigen Madonnenladen an der Avenidea de la Independencia. (...) die Gottesmutter Maria, aber auch Unsere Liebe Frau von Guadalupe und, versteht sich, Nuestra Senora de la Soledad. La virgen de la Soledad war die Madonna, die Lupe abschätzig als Ortsheilige bezeichnet hatte." (S.46)

In der Jesuitenkirche in Oaxaca, in der Esperanza, die Mutter der Kinder, putzt, findet sich eine riesige Statue der Mutter Gottes, das "Monster Maria", die den Schrein von Lupe favorisierten Guadalupe, nach der sie benannt ist, in den Schatten stellt. Die Geschichte der mexikanischen, indogenen Jungfrau Guadalupe, die dem Bauer Juan Diego (!) erschienen ist, wird ebenso erzählt, wie die Ursprünge der heidnischen Göttin Coatlicue. Beide kämpfen von Lupe dirigiert als Figuren gegeneinander - der katholische Glaube der spanischen Konquistadoren gegen den Glauben der indianischen Bevölkerung.

Der Kampf um den Glauben setzt sich in Juan Diegos Leben als Schriftsteller mit seinem Studenten Clark French fort, der vorbehaltlos die Lehren der katholischen Kirche vertritt.

"Juan Diego war kein Atheist - er hatte schlicht Vorbehalte gegenüber der Kirche." (S.345)

Neben Lupe, Rivera und Bruder Pepe ist es ausgerechnet der amerikanischer Jesuitenpater Edward Bonshaw, der sein letztes Studienjahr in Oaxaca verbringt und auch einen Doktortitel in englischer Literatur besitzt, der den größten Einfluss auf das Leben Juan Diegos nehmen wird. Ihre erste Begegnung findet unmittelbar nach dessen tragischem Unfall statt:

"Doch während der Deponiechef Rivera auf ein Wunder der Sorte hoffte, wie es seiner Meinung nach nur die Jungfrau Maria bewirken konnte, sollte der neue amerikanische Missionar zum zuverlässigsten Wunder in Juan Diegos Leben werden - ein Wunder von einem Menschen, kein Heiliger, und mit menschlichen Schwächen." (S.113)

Der behandelnde Arzt Juan Diegos bringt die Kinder auf die Idee sich dem Zirkus der Wunder anzuschließen, da Lupe die Gedanken der Menschen lesen kann und ihr Bruder als Übersetzer fungieren könnte. Doch es stellt sich heraus, dass der Löwenbändiger Ignacio - ein "Mädchenschänder" - wissen will, was seine drei Löwendamen und sein Löwenmännchen Hombre denken. Der Zirkus der Wunder erweist sich als Wendepunkt im Leben der Kinder.
Das Wunder des Zirkus sind die Hochseilartisten, und zwar immer ein junges Mädchen, das die Himmelsleiter erklimmt - ohne Netz und Sicherheit. Es ist der Traum Juan Diegos eben dieses Wunderkind zu sein, denn er träumt immer wieder den selben Traum, davon, wie er

"am Himmel entlangspazierte. Von unten, vom Boden aus, schien der Junge ganz vorsichtig kopfüber durch die Luft zu gehen." (S.29)
"Es ist ein Todestraum."  Mehr ließ sich Lupe zu dem Thema nicht entlocken. (S.30)

Am Ende des Romans erweist sich der Traum als Vorhersehung seiner Schwester, die ihm mit ihrem Opfer ermöglicht, ein anderes Leben abseits von Mexiko, dem Zirkus und der Mülldeponie zu leben - mit Hilfe des abgefallenen Jesuiten Edward und dessen großer Liebe.

Bewertung
Ich hätte noch so viel mehr über den Roman schreiben können, der so voller Leben, schräger Figuren und auch Wunder ist.
Allein die Auseinandersetzung Irvings mit den heiligen Jungfrauen, deren wundersamen Geschichten, mit der Rolle der spanischen Eroberer, die den katholischen Glauben und die Dogmen der katholischen Kirche nach Mexiko gebracht haben, sind sehr interessant und auch spannend zu lesen. Ebenso wie Juan Diegos Abrechnung mit der Kirche, mit ihrer Marienverehrung und ihrem Umgang mit Wundern - das vermeintlich einzig echte (?) Wunder wird bezeichnenderweise tot geschwiegen.

Der fließende Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist manchmal etwas verwirrend, obwohl innerhalb der Handlungsstränge die zeitliche Abfolge weitestgehend eingehalten wird. Dazu bemerkt der Protagonist voll Ironie:

"Als Romanschriftsteller war er etwas eigen, was die korrekte zeitliche Abfolge betraf- ein wenig altmodisch." (S.57)

Auch das zeichnet den Roman aus, die ironische Selbstreflexion Juan Diegos, die mich oft zum Lachen gebracht hat.

Was Fantasie und Realität anbetrifft, sind die Grenzen fließend, so bleibt die Identität der geheimnisvollen Frauen Miriam und Dorothy offen, auch in der Vergangenheit Juan Diegos finden sich viele wundersame Ereignisse. Irving spielt regelrecht mit den "Wundern", die vermeintlichen entpuppen sich dabei als große Enttäuschungen, wie die "Straße der Wunder" in Mexico City, die zum Schrein der Guadalupe führt, der sich als Touristen- und Pilgerfalle entpuppt und Lupe desillusioniert.
Ob religiöse oder artistische Wunder, wunderbare Liebe und Güte, das Wundersame beherrscht den Roman, doch das eigentliche Wunder sind die Kinder, ist die Opfergabe Lupes, ist Juan Diegos Aufstieg vom Müllkippenleser zum Schriftsteller:

"Vergiss nie", flüsterte Lupe Juan Diego ins Ohr, "wir sind das Wunder - du und ich. Sie sind es nicht. Nur wir. Wir sind die Wundersamen." (S.83)

Ein schöner Satz zum Abschluss, den Juan Diego im Roman äußert:

"An dem Tag, an dem Frauen aufhören zu lesen, an dem Tag stirbt der Roman" (S.58)

Und damit er nicht stirbt ;),  werde ich auch weitere Romane von Irving lesen!


Sonntag, 12. Februar 2017

Ian McEwan: Kindswohl

- ein interessanter Roman, der juristische, moralische und religiöse Fragen berührt.


Hörbuch von audible
gelesen von Eva Mattes
6 Stunden, 16 Minuten

Inhalt
Fiona Maye ist Familienrichterin und privat in einer prekären Situation. Nach 35 Jahren Ehe verkündet ihr Mann, sie seien wie Bruder und Schwester, es gebe kaum noch Sex und er wolle noch eine große leidenschaftliche Affäre erleben, obwohl er sie liebe. Er möchte ihr Einverständnis, die passende Frau für die Affäre, eine 28-Jährige hat er schon gefunden. Im Krisengespräch mit ihrem Mann erkennt sie, dass der schwierige Fall eines zusammengewachsenen Zwillingspaares, in dem sie gegen den Willen der religiösen Eltern für den Tod des "lebensunfähigen" Bruders plädiert hat, zu ihrer innere Distanz führt. Ihr Beruf scheint sie völlig zu absorbieren.
Im Moment schreibt sie das Urteil im Fall zweier jüdischer Mädchen, deren orthodoxer Vater möchte, dass sie innerhalb ihrer Gemeinde aufwachsen, während die von ihm getrennte Mutter, ihnen die "Welt" öffnen und die Chance auf eine höhere Berufsbildung ermöglichen will.
Noch während der Auseinandersetzung mit ihrem Mann, der sie vor die Entscheidung stellt, entweder sie stimme der Affäre zu oder er gehe, erreicht sie an dem Sonntagabend der Eilantrag einer Klinik. Es geht um den leukämiekranken fast (!) 18jährigen Adam Henry, der einer lebensnotwendigen Bluttransfusion nicht zustimmen möchte, da es ihm sein Glaube verbietet. Wie seine Eltern gehört er den Zeugen Jehovas an, die aus einigen Bibelstellen ableiten, dass Blut nicht übertragen werden darf.

Während ihr Mann die Wohnung schließlich verlässt, muss Fiona das Urteil über die jüdischen Mädchen formulieren, bevor am Dienstag die Anhörung im Fall des Jungen vor Gericht stattfindet.
In ihren eigenen privaten Gedanken verstrickt und entsetzt über das Verhalten ihres Mannes sieht sie sich der schwierigen Situation konfrontiert über Tod oder Leben zu entscheiden.
Soll sie das Wohl des Kindes vor die religiöse Überzeugung der Eltern und seiner eigenen stellen? Soll sie dem Wunsch des Jungen entsprechen, der selbst die Transfusion verweigert oder den Argumenten der Ärzten folgen? Ist der Junge überhaupt in der Lage, seine Situation und den bevorstehenden Tod zu erfassen?
Um Klarheit zu erlangen, geht sie den ungewöhnlichen Schritt und besucht den intelligenten Jugendlichen im Krankenhaus, eine folgenreiche Begegnung, die ihr Leben beeinflusst - auch durch ihr gemeinsames Musizieren. Denn Adam lernt im Krankenhaus Geige und während er ein Lied von Mahler spielt, singt sie dazu - eine wunderschöne Szene.

Wie wird ihre Entscheidung ausfallen? Das will ich hier nicht vorwegnehmen - genauso spannend ist die Frage, ob ihre Ehe noch zu retten ist.

Bewertung
Der Roman ist ausschließlich aus der personalen Perspektive Fiona Mayes erzählt. Wir nehmen als Hörer/innen intensiv an ihren Gefühlen und Gedanken teil. Die Demütigung durch ihren Mannes wird so unmittelbar erlebbar und man leidet mit Fiona mit, hat Verständnis für ihre verletzten Gefühle und ihre Wut, nicht mehr zu genügen - und für ihre Schuldgefühle, ihren Mann auf Distanz gehalten zu haben. Sehr differenziert setzt sie sich mit ihrer Ehekrise auseinander, genauso wie sie an ihre schwierigen Fälle und Entscheidungen herangeht.
Wir werden Zeugen ihrer Entscheidungsfindung, ihres Wunsches jeweils dem Wohl des Kindes höchste Priorität einzuräumen.
Dabei hadert sie ganz offensichtlich damit, keine eigenen Kinder zu haben. Sie hat den richtigen Zeitpunkt dafür  verpasst, ihre Karriere stand jeweils im Vordergrund, ein Umstand, den sie als 59-Jährige bedauert.

Ian McEwan erörtert in seinem Roman sowohl religiöse als auch moralische und auch juristische Fragen, fordert zum Nachdenken heraus und zeigt auf, wie schwierig es ist, dem Kindswohl gerecht zu werden.
Ein Roman, der auch zeigt, dass die getroffene Entscheidungen Einfluss auf das Leben derjenigen nehmen, über die die Richterin ihr "Urteil" gefällt hat. Und Fiona muss erkennen, dass die Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen im Falle Adams gerade das Gegenteil dessen bewirkt, was sie damit intendiert.

Während McEwans Roman "Die Nussschale" aufgrund seiner ungewöhnlichen Erzählperspektive besticht, sind es in diesem Roman der außergewöhnliche Fall und die juristischen, religiösen und moralischen Fragen, die gestellt und erörtert werden, die mich fasziniert haben. Unwillkürlich fragt man sich beim Hören, wie hätte ich entschieden, und man folgt gespannt den Argumenten der Kontrahenten.
Das Ende ist jedoch nicht ganz so überraschend wie in "Honig", denn man ahnt sehr früh, worauf es hinausläuft.

So ist der Schluss einerseits sehr traurig, aber auch hoffnungsvoll. Für mich ein Roman, der trotz der vielen Reflektionen und Fragestellung sehr spannend zu hören war und der noch lange nachhallen wird.

Samstag, 4. Februar 2017

John Irving: Die vierte Hand

- eine ungewöhnliche (Liebes-) Geschichte.


Hörbuch von audible
gelesen von Rufus Beck
11 Stunden und 53 Minuten


Inhalt

Patrick Wallingford wird als besonders gut aussehender Mann beschrieben, der eine unfehlbare Wirkung auf Frauen hat und den man durchaus als Casanova bezeichnen kann. Er handelt, ohne auf die Folgen zu achten, und ist für eine wenig seriöse Nachrichtensendung als Journalist tätig. Er lebt in New York, Ende des letzten Jahrhunderts. Während einer Recherche in einem indischen Zirkus kommt es zu einem tragischen Unfall, weil er unbedacht seine linke Hand in einen Löwenkäfig steckt. Die Aufnahme, wie der Löwe Patricks Hand frisst, macht ihn auf einen Schlag berühmt - er ist fortan der Löwenmann.
Seine Frau verlässt ihn zudem, da er sie permanent betrügt. Zu allem Unglück scheint er als Moderator ausgedient zu haben. Er scheitert an diversen Handprothesen und weiß sich nicht vor der Kamera zu positionieren, so dass er als Sonderkorrespondent zu kuriosen Katastrophenfällen geschickt wird. Nun ist er nicht nur der Löwen-, sondern auch noch der Katastrophen-Mann.

Also entschließt er sich eine Handtransplantation durchzuführen und findet auf der Internetseite www.needahand.com die Koryphäe auf diesem Gebiet, Dr. Zajac.
Ebenfalls geschieden bemüht sich der asketische Arzt um seinen sechsjährigen Sohn, den er nur am Wochenende sieht. Mit einem verfressenen Labradormix, der genauso auf Hundehaufen fixiert ist (diese Rasse neigt leider dazu, sie zu fressen), wie Dr. Zajac, der die Haufen mit einem Lacrosse-Schläger weg schießt, und den wunderbaren Kinderbüchern "Stuart little" und "Wilbur und Charlotte" von E.B.White (die ich jetzt unbedingt lesen will), findet er einen Draht zu seinem Sohn und schließlich auch zu seiner Haushälterin.

Als Spender bewirbt sich auf Betreiben seiner Frau Doris, der Bierfahrer Otto Clausen, der nach einem skurrilen Unfall am Superbowl-Sonntag in seinem Bierlaster ums Leben kommt. Seine umsichtige Frau bringt seine linke Hand nach Boston zur Transplantation, willigt in diese aber nur ein, wenn sie ein Besuchsrecht für die Hand ihres verstorbenen Mannes erhält - ein recht eigenwilliger Wunsch. Doch damit nicht genug bittet sie Patrick Wallingford um ein Kind, das sie mit Otto schon lange vergeblich zu zeugen versuchte.
Im Wartezimmer der Praxis kommt es zum folgenreichen Sexualakt - neun Monate später erblickt der kleine Otto das Licht der Welt und Patrick ist Mrs. Clausen, die seiner Beschreibung nach gar nicht so hübsch ist, aber eine verführerische Stimme hat, verfallen.
Ein langer Weg liegt vor ihm, sexuelle Abenteuer, seltsame Begegnungen mit Frauen und eine Reflektion über seine Tätigkeit als Katastrophenjournalist, den ich an dieser Stelle nicht vorwegnehmen will.
Die spannende Frage bleibt, ob es ihm gelingt Mrs. Clausen zu erobern? Und was es mit der vierten Hand auf sich hat, wird am Ende aufgelöst.

Bewertung
Vor ungefähr 20 Jahren habe ich Irvings "Gottes Werk und Teufels Beitrag" gelesen und den Film gesehen, auf whatchareadin bin ich dann wieder auf den Autor gestoßen, nachdem Renie "Straße der Wunder" vorgestellt hat, das ich mir daraufhin gekauft habe. Auf der Suche nach einem Hörbuch hat mich dann die Beschreibung von "Die vierte Hand" spontan angesprochen. Aufgrund der Länge des Hörbuchs habe ich es über einen großen Zeitraum mit vielen Pausen dazwischen angehört. Trotzdem wurde ich immer wieder direkt in die Geschichte hineingezogen.
Irving erzählt vermeintlich locker und leicht, nimmt dabei aber in allen Einzelheiten das Leben seiner Protagonisten unter die Lupe - mit einer gehörigen Portion Ironie. Eine Parade schräger Vögel wandert da an uns vorbei.
Allein über Dr. Zajac könnte man Seiten füllen - ein nach Vögeln verrückter Handchirurg, rappeldürr und asketisch, Marathonläufer, der Hundehaufen mit einen Lacrosseschläger über den Zaun schlägt - herrlich skurril.
Beeindruckend auch die Entwicklung des Frauenheldes Patrick, der zu Beginn völlig sorglos durchs Leben geht, ohne seine Wirkung auf Frauen wahrzunehmen und ohne an die Folgen seines Handelns zu denken. Durch den Verlust seiner Hand erhält er die Chance auf ein neues Leben, das sexuell nicht weniger aufregend ist. Da nimmt Irving kein Blatt vor den Mund, aber die Beschreibungen der Sex-Szenen ist nie geschmacklos - das eine oder andere Mal seltsam und ungewöhnlich. Eine erfrischende, direkte Sprache, die Lust auf mehr macht.
Es wäre jedoch falsch, die Geschichte auf die Beziehungen Patrick Wallingfords und die Liebesgeschichte mit Mrs. Clausen zu beschränken. Irving greift ganz offensichtlich den Katastrophenjournalismus an und führt mittels der Figur Patricks vor, dass es nur um Einschaltquoten und Geld geht. Folgerichtig bewirbt sich Patrick am Ende des Romans bei einigen Sendern mit einem Konzept, das der Frage nach dem Kontext von Nachrichten nachgeht. Irving plädiert für einen seriösen Journalismus, der die Persönlichkeitsrechte jedes Einzelnen achtet.
Interessant sind auch die Betrachtungen über die Nicht-Hand, in der Patrick noch Empfindungen hat, und das nur in bestimmten Situationen, aber da will ich nicht zu viel verraten.

Insgesamt ein Roman, der mir viel Freude beim Hören gemacht hat, woran auch der hervorragende Sprecher Rufus Beck Anteil hat (ich liebe die von ihm gelesenen Harry Potter - Hörbücher). Jetzt freue ich mich umso mehr auf "Straße der Wunder".

Freitag, 3. Februar 2017

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

- eine Freundschaftsgeschichte.

Lesen mit Mira

Gebundene Ausgabe,
Suhrkamp, 29.August 2016

Der Roman, der bereits 1992 erschienen ist, wurde von Karin Krieger ins Deutsche übersetzt. Er ist der erste Band der gleichnamigen neapolitanischen Saga. Die Autorin, die in Neapel geboren ist, hat sich beim Erscheinen ihres Debütromans für die Anonymität entschieden. Inzwischen wurde ihre Identität aufgedeckt, wer mehr darüber lesen will, findet hier Informationen dazu. Für mich persönlich steht jedoch der Roman selbst im Vordergrund, von dem ich bereits sehr viel Positives gehört habe, so dass Mira und ich beschlossen, ihn gemeinsam zu lesen. Wie immer haben wir uns rege ausgetauscht und diskutiert - vielen Dank, liebe Mira, dass du meinen Blick in vielerlei Hinsicht geschärft hast.


Inhalt
Dem Roman vorangestellt sind die handelnden Figuren, geordnet nach Familien und deren Mitgliedern. Sie alle leben in Neapel der 50er Jahre, im Viertel Rione, das von Armut geprägt ist. Diese Übersicht ist wirklich sehr hilfreich, da man eine Weile braucht, bis man alle Figuren und ihre Beziehung zueinander kennt.

Im Mittelpunkt stehen die beiden Mädchen Raffallea Cerullo, von allen Lina gerufen - außer von Elena Greco - Lenù - ihrer beste Freundin, die sie Lila nennt und die diese Geschichte aus ihrer Perspektive erzählt.

Zu Beginn erfahren wir, dass Lila, inzwischen über sechzig Jahre alt, spurlos verschwunden ist und zwar restlos - alle Fotos, Kleider, Bilder sind weg.

"Seit mindestens drei Jahrzehnten erzählt sie mir, dass sie spurlos verschwinden möchte (...): Sie wollte sich in Luft auflösen, wollte, dass sich jede ihrer Zellen verflüchtigte, nichts von ihr sollte mehr zu finden sein." (S.19)

So beschließt Lenù, die Geschichte Lilas und ihrer gemeinsamen Freundschaft "aufzuschreiben, in allen Einzelheiten, mit allem, was mir in Erinnerung geblieben ist." (S.22)

Die beiden Mädchen sind sehr unterschiedlich, während Elena, Tochter eines Portiers, sehr zurückhaltend und schüchtern ist, scheint Lila, Tochter eines Schusters, eine Draufgängerin zu sein, die vor nichts und niemandem Angst hat.

Ihre Freundschaft beginnt, als sie sich gemeinsam zum vermeintlichen Schrecken des Viertels, dem Unhold Don Achille wagen, um ihre Puppen wieder zu bekommen, die er angeblich genommen haben soll. Dabei hat Lila Lenùs Puppe Tina einfach in ein Kellerloch geworfen - die Mädchen gehen wahrlich nicht zimperlich miteinander um. Wie sollten sie auch, in einer Umgebung, die von Armut und Gewalt geprägt ist.

"Ich sehne mich nicht nach unserer Kindheit zurück, sie war voller Gewalt. Es passierte alles Mögliche, zu Hause und draußen, Tag für Tag, doch ich kann mich nicht erinnern, jemals gedacht zu haben, dass unser Leben besonders schlimm sei. Das Leben war eben so, und damit basta, wir waren gezwungen, es anderen schwerzumachen, bevor sie es uns schwermachten. Gewiss, mir wären die freundlichen Umgangsformen, die unsere Lehrerin und der Pfarrer predigten, auch lieber gewesen, doch ich merkte, dass sie für den Rione, für unser Viertel, nicht geeignet waren, auch für die Mädchen nicht. Die Frauen bekämpften sich untereinander noch heftiger als die Männer (...) (S.39)

Elena, die Lilas Bewunderung erlangen will, lässt sich auf einige Mutproben ein, eben auch jener, zum Unhold zu gehen. Ihre Freundschaft ist von Konkurrenz geprägt, unumwunden gibt Elena zu, dass sie Lila, die sehr gut in der Grundschule ist und alle Wettbewerbe gewinnt, übertrumpfen will - schließlich fügt sie sich in Lilas Überlegenheit.

"Wahrscheinlich war das meine Art, mit Neid und Hass umzugehen und beides zu unterdrücken. Oder vielleicht verschleierte ich auf diese Weise mein Gefühl der Unterlegenheit, die Faszination der ich unterworfen war. Auf jeden Fall übte ich ich darin, Lilas Überlegenheit auf allen Gebieten bereitwillig zu akzeptieren, und auch ihre Schikanen." (S.50)

Lila wirkt zu Beginn des Romans schwer zugänglich, sie ist intelligent, aber wild. Lässt sich nichts sagen und wehrt sich gegen alle, die ihr zu nahe treten. Beschützt wird sie von ihrem älteren Bruder Rino, der sie gegenüber den rivalisierenden Jungs verteidigt - später wird er auf ihre Ehre Acht geben wollen.

Nach der Grundschule empfiehlt die Lehrerin Elena, eine weiterführende Schule zu besuchen, die nötigen Kenntnisse in Latein will sie ihr gegen Geld (!) vermitteln. Nach vielen Diskussionen willigen die Eltern ein. Auch Lila soll auf Wunsch der Maestra gehen, darf jedoch von Seiten ihrer Eltern nicht.
Als Lenù der Lehrerin während einer Nachhilfestunde eine Kurzgeschichte von Lila zeigt, erwidert diese:

"Weißt du, was die Plebs ist, Greco? (...) Die Plebs, der Pöbel, ist etwas sehr Schlimmes. (...) "Und wenn einer Pöbel bleiben will, dann verdienen er, seine Kinder und seine Kindeskinder es nicht besser. Vergiss Cerullo und denk lieber an dich." (S.84)

Man mag ihre Enttäuschung, dass ihre begabteste Schülerin ihre Schulzeit beendet, zur ihrer Entschuldigung anführen, doch aus den Worten der Lehrerin spricht Verachtung für die Menschen im Rione und ihrer Art zu leben. Sie ist nicht bereit Lila weiter zu unterstützen oder sich für sie einzusetzen, so bleibt Lila sozial benachteiligt.

Die Konkurrenz zwischen den beiden Mädchen wächst und Elena äußert ungeschönt ihre wenig freundschaftlichen Gedanken:

"Sooft ich konnte, signalisierte ich ihr vorsichtig, dass ich zur Mittelschule gehen würde und sie nicht. Nicht mehr die Zweite zu sein, sie zu überholen, erschien mir erstmals wie ein Erfolg. Sie muss es bemerkt haben, denn sie wurde noch kratzbürstiger, aber nicht zu mir, sondern zu ihrer Familie." (S.96)

Diese Rivalität begleitet die Mädchen bis zum Ende des ersten Bandes, ist es zunächst Lila, die Elena verschiedenen Mutproben unterzieht, so vergleicht Elena im weiteren Verlauf der Handlung alles, was ihr widerfährt, mit dem Leben Lilas.
Ist diese Konkurrenz zu Beginn nachvollziehbar, so hat sie mich mit zunehmendem Alter der Mädchen befremdet - noch ist es keine liebevolle, herzliche Beziehung zwischen den beiden.
Es gibt zwar immer wieder Szenen, in denen die gegenseitige Zuneigung durchschimmert, aber die tauchen in meinen Augen zu selten auf und sind geprägt vom Wunsch Elenas Lilas Ansprüchen zu genügen:

"Mein Herz hüpfte vor Freude. Welche Bitte lag in diesem wunderbaren Satz. Sagte sie mir gerade, dass sie nur mit mir sprechen wolle, weil ich nicht alles für bare Münze nah, was ihr über die Lippen kam, sondern ich ihr etwas entgegenzusetzen hatte? Sagte sie mir gerade, dass nur ich den Dingen folgen konnte, die ihr durch den Kopf gingen?" (S.127)

Nachdem Elena auf der Mittelschule weiter lernt, wird Lila gezwungen in der Schusterei ihres Vaters zu schuften, verwirklicht sich aber im Entwerfen innovativer Schuhe. Lilas Drang sich in einer patriarchalischen Gesellschaft zu behaupten ist bewundernswert, auch wenn sie einiges dafür einstecken muss. Zudem lernt sie parallel dazu heimlich Latein und Griechisch, um Elena zu überflügeln, sie anzuspornen, ihr intellektuell gleichwertig entgegentreten zu können, ihr zu zeigen, dass sie auch in der Lage dazu ist.

Ihr kritisches Denken zeigt sich auch darin, dass sie beginnt Fragen nach dem "früher" zu stellen, wer hat welche Rolle im Krieg gespielt, wer war Faschist und ist es noch, wer Kommunist. Sie findet heraus, dass der Großvater der Solara-Brüder, die das Viertel "beherrschen" Camorra-Mitglied war, eine Verbindung, die später für ihr Leben noch eine wichtige Rolle spielen wird.

Währenddessen besucht Elena das humanistische Gymnasium, verliebt sich und verbringt einige unbeschwerte Tage in Ischia - eine der wenigen Szenen im Roman, die fast durchweg in fröhlicher Stimmung verlaufen - bis auch diese Episode ein unschönes Ende findet.

Lila findet scheinbar einen Weg aus ihrer Armut heraus, sie ändert ihren gesellschaftlichen Stand und machte eine vermeintlich gute Partie. Die weiteren Bände werden zeigen müssen, ob ihre Entscheidung richtig gewesen ist - der letzte Absatz des Romans und Vorausdeutungen der Ich-Erzählerin lassen allerdings anderes vermuten.

Bereits in der Silvesternacht zum Jahre 1959 lange vor ihrem Verschwinden, deutet die Ich-Erzählerin an, dass "Lila ihre erste Episode der Auflösung" erlebte. (S.105)
Wie wird diese Auflösung aussehen? Und wird es der Ich-Erzählerin gelingen, aus dieser Welt der Armut und Gewalt auszubrechen?

Bewertung
Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat aus Goethes Faust, aus dem Prolog, in dem der Herr die Funktion Mephistos, der als Schalk und Antreiber der Menschen wirken muss, erklärt. Im Roman scheinen die Mädchen sich zunächst gegenseitig anzutreiben, die Konkurrenz führt sie immer wieder zu neuen Hochleistungen, doch im Verlauf der Handlung kristallisiert sich heraus, dass es Lila ist, die Lenù, die Ich-Erzählerin, "reizt", sie anstachelt:

"Du bist meine geniale Freundin, du musst die Beste von allen werden, von den Jungen und von den Mädchen." (S.398)

Es scheint, dass Elena stellvertretend für Lila der Ausbruch aus ihrer gemeinsamen, brutalen und von Armut gezeichneten Welt gelingen muss. Eine der wenigen Szenen, in der Herzlichkeit zwischen den ungleichen Freundinnen zu spüren ist. Lenù wirkt gegenüber Lila oft kühl, geprägt von ihrem Unterlegenheitsgefühl - es ist schon eine seltsame Freundschaft zwischen den beiden Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Welt behaupten müssen, einer düstere, gewaltsame Welt, in der kaum zwischenmenschliche Wärme zu finden ist.
In unserem Telefongespräch stellten Mira und ich einhellig fest, dass es kaum Sympathieträger im Roman gibt, mit Lila empfindet man Mitleid, Lenù schildert die Geschichte zwar in allen Einzelheiten und schonungslos, aber ob sie sich als echte Freundin erweist, wird sich zeigen müssen.
Alle weiteren Personen zeigen auf die ein oder andere Weise irgendwann ihre "dunkle" Seite.

In einem Brief an Elena schreibt Lila, "sie spüre rings um sich her alles Schlechte des Rione. Dunkel fügte sie hinzu, Gut und Böse seien miteinander verquickt und verstärkten sich gegenseitig." (S.288)

Das ist auch das, was mich an dem Roman irritiert, dass es keinen positiven Gegenpol zur Brutalität und Lieblosigkeit gibt. Man mag entgegenhalten, das sei die Realität, aber die ist auf Dauer - gerade weil sie so detailliert dargestellt wird - schwer zu ertragen. In der Mitte des Romans hatte ich mehrmals den Impuls, das Buch beiseite zu legen, da die Situation für Lila immer düsterer und hoffnungsloser wird.
Glücklicherweise scheint sich ihr Schicksal zum Guten zu wenden und so bin ich auch beim zweiten Teil dabei geblieben und muss sagen, dass es der Autorin am Ende gelungen ist, neugierig auf den weiteren Verlauf der Handlung zu machen, so dass Mira und ich uns vorgenommen, den zweiten Band im nächsten Monat zu lesen - um zu sehen, ob aus dieser düsteren Welt eine hellere wird, ob eine andere Sichtweise eingenommen wird, und um zu erfahren, wie es mit den beiden Freundinnen weitergeht...

Hier geht es zu Miras Rezension.

Nachtrag: Mira hat beschlossen nicht weiterzulesen, mal sehen, ob ich noch den zweiten Band noch lese....