- ein wahrhaft wunderbarer Roman.
Hardcover, 787 Seiten
Diogenes, 1. April 2016
Inhalt
"Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarzustellen: `Ich bin Mexikaner - ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.´ In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: ´Ich bin Amerikaner - ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.´ (...) Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. (S.11)
Gleich der erste Satz des Romans verdeutlicht, dass sich der Protagonist nicht in eine Schublade stecken lässt, keinem Stereotyp entspricht, sondern ein Individuum mit einer ganz außergewöhnlichen Geschichte ist.
Ein Mann, der
"zwei Leben geführt [hat] - getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich." (S.11)
Juan Diego wächst gemeinsam mit seiner Schwester Lupe Ende der 1950er auf einer Müllkippe in Mexiko, Oaxaca auf. Sie sind Müllsammler, ihre Mutter Esperanza arbeitet als Putzfrau bei den Jesuiten und verdingt sich nachts als Prostituierte.
"So wenig Hoffnung sie ins Leben ihrer Kinder brachte, war ihr Name der reine Hohn. "Desesperanza" (Hoffnungslosigkeit) nannten die Nonnen sie hinter ihrem Rücken, oder gar "Desesperación" (Verzweiflung)." (S.192)
Ihre Väter kennen die Kinder nicht, Rivera, el jefe, der "Chef" der Mülldeponie kümmert sich um die beiden. Der außergewöhnliche 14jährige Junge, der sich selbst das Lesen und sogar Englisch mit den auf der Deponie gefundenen Büchern beigebracht hat und von den ortsansässigen Jesuitenpatern Alfonoso und Octavio daher Müllkippenleser genannt wird, fungiert als Übersetzer seiner Schwester. Diese kann die Gedanken der Menschen lesen, spricht jedoch aufgrund einer ungewöhnlichen Veränderung des Kehlkopfes völlig unverständlich. Manchmal wirft sie auch einen Blick in die Zukunft. Dabei läuft sie Gefahr von allen als "geistig behindert" zu gelten, da keiner sie versteht.
Aufgrund eines tragischen Unfalls hinkt Juan Diego, sein rechter Fuß steht permanent auf "zwei Uhr", die Kinder werden daraufhin im jesuitischen Waisenhaus, dem "Heim für verlorene Kinder", aufgenommen. Bruder Pepe, Lehrer an der Jesuitenschule, ist mit seinem großen Herzen ein wahrer Menschenfreund und kümmert sich um das ungewöhnliche Geschwisterpaar. Er versorgt Juan Diego mit Büchern - auch schon vor dessen Unfall - und lenkt sein Leben am entscheidenden Wendepunkt in eine andere Richtung.
Im Jahr 2010 ist Juan Diego ein erfolgreicher Schriftsteller und aufgrund seines hohen Blutdrucks hat ihm seine Ärztin und Freundin Dr. Rosemary Stein Beta-Blocker verschrieben, die seine Träume unterdrücken und verhindern, dass er in seine mexikanische Vergangenheit eintauchen kann.
Auf einer Reise zu den Philippinen, die er unternimmt, um einem amerikanischen Wehrdienstverweigerer, einem Freund aus seiner Zeit in Mexiko, einen Gefallen zu tun, gerät seine Medikamenteneinnahme außer Kontrolle, so dass die chronologischen Träume des Vergangenen zurückkehren.
Der Roman pendelt zwischen diesen Erinnerungen Juan Diegos an seine Kindheit in Mexiko und seiner Reise, die ein ehemaliger Student seiner Schreibseminare, Clark French, für ihn organisiert hat.
"Und ehe er sich´s versah, war aus seine Mission in Manila eine Philippinen-Rundreise geworden, mit diversen Abstechern und abenteuerlichen Ausflügen." (S.37)
Kurioserweise lernt er auf dem Flughafen Miriam sowie deren vermeintliche Tochter Dorothy kennen, die alle seine Romane kennen und die auf einmal da sind. Mit beiden erlebt er sexuell anregende Stunden - nacheinander - und wer sie wirklich sind, bliebt vage. Geister, wundersame Begleiterinnen, Fantasien Juan Diegos? Anlehnungen an die heiligen Jungfrauen, die das Leben des Schriftstellers begleiten?
Sein erster Roman "Eine von der Jungfrau Maria in Gang gesetzte Geschichte" deutet auf dieses zentrale Thema in "Straße der Wunder" hin. Seine Schwester Lupe hat in Bezug auf die religiösen Jungfrauen eine Obsession, ausgelöst von einem Madonnenladen in Oaxaca:
"Inzwischen hatte man es allerdings nicht mehr nur mit Maria zu tun; das war Lupe in den vielen Kirchen Oaxacas aufgefallen, doch nirgends in der Stadt fand man so viele rivalisierende Jungfrauen wie in dem kitschigen Madonnenladen an der Avenidea de la Independencia. (...) die Gottesmutter Maria, aber auch Unsere Liebe Frau von Guadalupe und, versteht sich, Nuestra Senora de la Soledad. La virgen de la Soledad war die Madonna, die Lupe abschätzig als Ortsheilige bezeichnet hatte." (S.46)
In der Jesuitenkirche in Oaxaca, in der Esperanza, die Mutter der Kinder, putzt, findet sich eine riesige Statue der Mutter Gottes, das "Monster Maria", die den Schrein von Lupe favorisierten Guadalupe, nach der sie benannt ist, in den Schatten stellt. Die Geschichte der mexikanischen, indogenen Jungfrau Guadalupe, die dem Bauer Juan Diego (!) erschienen ist, wird ebenso erzählt, wie die Ursprünge der heidnischen Göttin Coatlicue. Beide kämpfen von Lupe dirigiert als Figuren gegeneinander - der katholische Glaube der spanischen Konquistadoren gegen den Glauben der indianischen Bevölkerung.
Der Kampf um den Glauben setzt sich in Juan Diegos Leben als Schriftsteller mit seinem Studenten Clark French fort, der vorbehaltlos die Lehren der katholischen Kirche vertritt.
"Juan Diego war kein Atheist - er hatte schlicht Vorbehalte gegenüber der Kirche." (S.345)
Neben Lupe, Rivera und Bruder Pepe ist es ausgerechnet der amerikanischer Jesuitenpater Edward Bonshaw, der sein letztes Studienjahr in Oaxaca verbringt und auch einen Doktortitel in englischer Literatur besitzt, der den größten Einfluss auf das Leben Juan Diegos nehmen wird. Ihre erste Begegnung findet unmittelbar nach dessen tragischem Unfall statt:
"Doch während der Deponiechef Rivera auf ein Wunder der Sorte hoffte, wie es seiner Meinung nach nur die Jungfrau Maria bewirken konnte, sollte der neue amerikanische Missionar zum zuverlässigsten Wunder in Juan Diegos Leben werden - ein Wunder von einem Menschen, kein Heiliger, und mit menschlichen Schwächen." (S.113)
Der behandelnde Arzt Juan Diegos bringt die Kinder auf die Idee sich dem Zirkus der Wunder anzuschließen, da Lupe die Gedanken der Menschen lesen kann und ihr Bruder als Übersetzer fungieren könnte. Doch es stellt sich heraus, dass der Löwenbändiger Ignacio - ein "Mädchenschänder" - wissen will, was seine drei Löwendamen und sein Löwenmännchen Hombre denken. Der Zirkus der Wunder erweist sich als Wendepunkt im Leben der Kinder.
Das Wunder des Zirkus sind die Hochseilartisten, und zwar immer ein junges Mädchen, das die Himmelsleiter erklimmt - ohne Netz und Sicherheit. Es ist der Traum Juan Diegos eben dieses Wunderkind zu sein, denn er träumt immer wieder den selben Traum, davon, wie er
"am Himmel entlangspazierte. Von unten, vom Boden aus, schien der Junge ganz vorsichtig kopfüber durch die Luft zu gehen." (S.29)
"Es ist ein Todestraum." Mehr ließ sich Lupe zu dem Thema nicht entlocken. (S.30)
Am Ende des Romans erweist sich der Traum als Vorhersehung seiner Schwester, die ihm mit ihrem Opfer ermöglicht, ein anderes Leben abseits von Mexiko, dem Zirkus und der Mülldeponie zu leben - mit Hilfe des abgefallenen Jesuiten Edward und dessen großer Liebe.
Bewertung
Ich hätte noch so viel mehr über den Roman schreiben können, der so voller Leben, schräger Figuren und auch Wunder ist.
Allein die Auseinandersetzung Irvings mit den heiligen Jungfrauen, deren wundersamen Geschichten, mit der Rolle der spanischen Eroberer, die den katholischen Glauben und die Dogmen der katholischen Kirche nach Mexiko gebracht haben, sind sehr interessant und auch spannend zu lesen. Ebenso wie Juan Diegos Abrechnung mit der Kirche, mit ihrer Marienverehrung und ihrem Umgang mit Wundern - das vermeintlich einzig echte (?) Wunder wird bezeichnenderweise tot geschwiegen.
Der fließende Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist manchmal etwas verwirrend, obwohl innerhalb der Handlungsstränge die zeitliche Abfolge weitestgehend eingehalten wird. Dazu bemerkt der Protagonist voll Ironie:
"Als Romanschriftsteller war er etwas eigen, was die korrekte zeitliche Abfolge betraf- ein wenig altmodisch." (S.57)
Auch das zeichnet den Roman aus, die ironische Selbstreflexion Juan Diegos, die mich oft zum Lachen gebracht hat.
Was Fantasie und Realität anbetrifft, sind die Grenzen fließend, so bleibt die Identität der geheimnisvollen Frauen Miriam und Dorothy offen, auch in der Vergangenheit Juan Diegos finden sich viele wundersame Ereignisse. Irving spielt regelrecht mit den "Wundern", die vermeintlichen entpuppen sich dabei als große Enttäuschungen, wie die "Straße der Wunder" in Mexico City, die zum Schrein der Guadalupe führt, der sich als Touristen- und Pilgerfalle entpuppt und Lupe desillusioniert.
Ob religiöse oder artistische Wunder, wunderbare Liebe und Güte, das Wundersame beherrscht den Roman, doch das eigentliche Wunder sind die Kinder, ist die Opfergabe Lupes, ist Juan Diegos Aufstieg vom Müllkippenleser zum Schriftsteller:
"Vergiss nie", flüsterte Lupe Juan Diego ins Ohr, "wir sind das Wunder - du und ich. Sie sind es nicht. Nur wir. Wir sind die Wundersamen." (S.83)
Ein schöner Satz zum Abschluss, den Juan Diego im Roman äußert:
"An dem Tag, an dem Frauen aufhören zu lesen, an dem Tag stirbt der Roman" (S.58)
Und damit er nicht stirbt ;), werde ich auch weitere Romane von Irving lesen!